In einer Kontinuität der Retrospektiven emblematischer Figuren der bildenden Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts ─ wie Joan Mitchell, Jean-Michel Basquiat, Marc Rothko, David Hockney ─ widmet die Fondation Louis Vuitton in Paris ihre gesamte Ausstellungsfläche nun Gerhard Richter, einem der bedeutendsten Künstler seiner Generation und dem teuersten lebenden Künstler überhaupt. Stefana Sabin hat sich die umfangreichste Richter-Ausstellung aller Zeiten angeschaut.
War eine Werkauswahl aus der eigenen Sammlung schon in der Eröffnungsausstellung der Fondation Louis Vuitton in Paris zu sehen, so wurden jetzt fast 300 Werke von Gerhard Richter zusammengetragen: Gemälde, Fotos, Skulpturen aus Stahl und Glas, Bleistift- und Tuschezeichnungen, Aquarelle und bemalte [übermalte?] Fotografien aus den Jahren 1962 bis 2024. Es ist die umfangreichste Gerhard-Richter-Retrospektive aller Zeiten. Sie bietet einen Überblick über sechzig Jahre künstlerisches Schaffens und einen Eindruck von der bemerkenswerten Vielseitigkeit des inzwischen dreiundneunzigjährigen Künstlers.
1932 in Dresden geboren, hatte Richter die Nazizeit, dann den Kommunismus (über)lebt, als er 1961 über West-Berlin in die Bundesrepublik floh und Wahl-Rheinländer wurde: in Düsseldorf als Professor an der Kunstakademie und seit Anfang der achtziger Jahre in Köln.
Da Richter schon 2017 sein Werk für abgeschlossen erklärte und seine Bilder katalogisierte und von 1 bis 952 nummerierte, kann man einen Anfang und ein Ende und also einen implizierten Verlauf seines Schaffens annehmen. Und so präsentiert die Pariser Retrospektive sein Werk in chronologischer Reihenfolge und unternimmt den Versuch, einen ästhetischen, zumindest künstlerischen Faden zu legen. Aber Richters Werk entzieht sich jeder herkömmlichen Vorstellung von künstlerischer Entwicklung. Tatsächlich, wenn etwas in dieser wohl umfangreichsten Richter-Ausstellung aller Zeiten deutlich wird, ist gerade, dass Stilwechsel die Konstanten seines genreübergreifenden Werks sind.
Schon im Bild Nr. 1, dem Gemälde „Tisch“ von 1962, sind Stilistika erkennbar, die charakteristisch werden sollten, wie das Zurückgreifen auf Fotos und das Verwischen der Konturen. Das großformatige Gemälde basiert auf einem Foto aus der Designerzeitschrift Domus und zeigt in Grautönen einen weißen Tisch in einer gestauchten Perspektive, so dass er zu schweben scheint.
Lange blieb Grau Richters bevorzugte Farbe ─ drei Gemälde von 1972 bis 1974 heißen „Grau“: große, einfarbige Leinwände, eine matt, eine getupft, eine glänzend wie Lack. Grau, so wird Richter im begleitenden Bildkommentar zitiert, „hat die Macht, ‚Nichts‘ sichtbar zu machen.“ Diese Gemälde also sind „Bilder des Nichts“.
Wenn Grau das Nichts ist, dann sind die Farben alles. Die Serie „1024 Farben,“ die in verschiedenen Varianten von 1970 bis etwa 2010 ausgeführt wurde, zeigt ein Raster aus 1024 zufällig angeordneten Farbquadraten. Die Unschärfetechnik übernahm Richter auch für farbige Landschaften, die einer geographischen Verrottung enthoben werden. Manchmal lässt sich die gemalte Landschaft erahnen, wie bei „Venedig (Treppe)“ von 1985: Licht und Wasser sind in einer schwachen, leisen Farbigkeit gefasst, eine einsame Gestalt sitzt auf einer Treppe direkt am Ufer. Es ist ein ruhiges beunruhigendes Bild. Manchmal verwandeln gerade die starken Farben Figuration in Abstraktion wie bei „Wald (3)“ von 1990.
Aber zwischen farbenfrohen Abstraktionen, die durch das Verwischen dick bemalter Oberflächen mit einem riesigen Rakel entstanden waren, kehrte Richter zu Grau und zum Realismus zurück und schuf einen Gemäldezyklus mit dem Titel „18. Oktober 1977“. Das ist das Datum, an dem vier Mitglieder der linksextremen Terrorgruppe Baader-Meinhof in einem Gefängnis Selbstmord begingen. Die Gemälde basieren auf Medienfotos der Terroristen und der Sympathisanten, die um sie trauerten. Die Bilder sind verwischt und verzerrt, so dass man, wenn man nicht wüsste, was es darstellt, es vielleicht nicht erraten würde – aber das Gefühl von etwas Unheilvollem ist überwältigend. Tatsächlich entfalten manche Themen erst als Andeutungen ihre ganze Kraft.
Dasselbe gilt für die vier monumentalen Leinwände des Zyklus „Birkenau“ von 2014. Richter benutzte vier Fotografien, die von Häftlingen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau heimlich aufgenommen worden waren. Zuerst wollte Richter diese Fotos auf Leinwand reproduzieren, dann aber begann er, sie mit Farbe zu übermalen. Mit dem Rakel, den er bereits für seine abstrakten Arbeiten verwendet hatte, mischte er Schwarz-, Weiß- und Grautöne, durchzogen von Grün und Rot. So wurden die Originalbilder zwar unsichtbar, verschwinden aber nicht, sie liegen unter der Oberfläche ─ wie die Geschichte unter dem Alltag.
Wie die Ausstellung zeigt, hat sich Gerhard Richter immer für den künstlerischen Inhalt ebenso wie für die malerische Form interessiert und Gattungen und Stile ebenso wie Techniken ausprobiert. Sein Werk, das nie so glanzvoll, so schön und so umfassend gezeigt wurde, entzieht sich einer Kategorisierung.
Letzte Änderung: 26.11.2025 | Erstellt am: 26.11.2025
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