In Angoulême, wo Balzacs „Verlorene Illusionen“ ihren Anfang nehmen und die Charente sich entschließt, nach Westen zu strömen, findet seit 1974 das „Festival International de la Bande Dessinée“ statt, das bedeutendste Comicfestival Europas. Jährlich werden Auszeichnungen und Preise vergeben bis hin zum Grand Prix de la Ville d’ Angoulême für das zeichnerische Lebenswerk. Harry Oberländer vermittelt einen Eindruck von der Stadt des Comics.
Angoulême liegt auf einem Hügel über der Charente und ist auf der TGV-Strecke aus Paris der letzte Halt vor Bordeaux. Das Département heißt wie der Fluss, der es durchquert, die Region ist die Nouvelle Aquitaine. Balzac beschreibt die Stadt des 19. Jahrhunderts in seinem Roman Verlorene Illusionen, den er innerhalb seiner Menschlichen Komödie den Szenen aus dem Provinzleben zuordnete.
Zwischen dem Vorort l’Houmeau und Angoulême besteht eine sonderbare, durch die sozialen Gegebenheiten verursachte Spannung, ja, man kann ruhig sagen: Feindschaft. L’Houmeau ist durch seinen aufstrebenden Handel, besonders durch seine Papierfabriken, reich geworden. Es liegt im flachen Land. Alles, was Geld bringt, der Frachtverkehr, die Post, die Gasthäuser, die Brauereien, die Fabriken drängen sich unterhalb Angoulêmes am Ufer der Charente zusammen. Oben der Adel und die Macht, unten der Handel und das Geld. Zwei soziale Sphären, die in unaufhörlicher Gegnerschaft stehen. Der Handel ist reich, der Adel im Allgemeinen arm, und jeder rächt sich am anderen durch Verachtung.
Die stolze Geschichte Angoulêmes, die sich in der Architektur seiner Kathedrale und seiner Paläste darstellt, das große Kulturerbe, hat nicht verhindert, dass die Stadt wie viele andere in Europa an den Rand des Weltgeschehens rückte. Und so kamen im Jahr 1974 ein paar verwegene Visionäre auf die kühne Idee, ein Festival ins Leben zu rufen, das der Stadt seither internationale Aufmerksamkeit sichert: le festival de la bande dessinée.
Schon auf dem Bahnhofsvorplatz steht ein Obelisk zu Ehren von René Goscinny und Uderzo, den Vätern von Asterix und Obelix mit Bildern und Zitaten. Was in Frankreich bande dessinée heißt, ist genauer übersetzt mit comic strip als mit graphic novel, es erinnert so an die Pionierzeiten des Genres, an die schmalen Bänder in Zeitungen, in denen schwarzweiße und später bunte Bildchen die Abenteuer von Cowboys und Indianern, Gangstern und Detektiven in die Bleiwüsten der Zeitungsseiten als optische Oasen einbrachten. Der Weg vom verrufenen Medium, das Eltern und Erzieher ihren Kindern verbieten sollten, zur anerkannten Kunstform war lang. Zum Comic-Museum in Angoulême, das diesen langen Weg auf einem Quadratkilometer Ausstellungsfläche in eleganter Szenografie darstellt, muss man nur eine Brücke über die Charente überqueren. Dort begrüßt einen die Bronzeskulptur des Corto Maltese, der 1967 von Hugo Pratt geschaffenen Comicfigur. Corto Maltese, geboren 1887 in La Valetta, segelt um die weite Welt, befreundet sich mit Jack London, lernt Rasputin in der Mandschurei und in Patagonien Butch Cassidy und Sundance Kid kennen. Er diskutiert mit James Joyce in Triest und begegnet in 1908 in Ancona einem russischen Revolutionär und Türsteher namens Dschugaschwili. Für den Erfinder und Zeichner Hugo Pratt ein poetisches Abenteuer: „Beim Comic ist es wie in der Poesie, es begegnen und vermischen sich zwei bedeutungstragende Codes: das Universum der Bilder und die Welt der Wörter.“ (Interview mit Tandem 1989).
Hat man Corto Maltese passiert, steht man den hellen breitgefächerten Fassaden sorgfältig restaurierter Lagerhallen gegenüber, gekrönt von einem schlanken minarettähnlichen Turm: ein Denkmal der Industriekultur, das seit 2009 das Comic-Museum beherbergt. Die Dauerausstellung erzählt die amerikanische und französische Comicgeschichte von den Pionieren wie Rodolphe Töpffer und Will Eisner über die Meister des goldenen Comiczeitalters bis in die Gegenwart.
Der Weg von den Museumshallen führt zurück über die Brücke zur einer großen Glasfassade, die man mit etwas Fantasie als Bug eines großen Schiffes erkennen kann. Und so heißt das Gebäude des Architekten Roland Castro Vaisseau Moebius zu Ehren von Jean Giraud. Der 2012 verstorbene Science-Fiction-Zeichner wählte das Pseudonym Moebius nach August Ferdinand Moebius, dem Tanzlehrersohn aus Schulpforta, aus dem ein bedeutender Naturwissenschaftler wurde. Dessen Moebius-Band beeindruckte nicht nur M. C. Escher und Jean Giraud, sondern gemahnt uns alle an die Unendlichkeit. Über Giraud-Moebius gibt es ein aufschlussreiches, schönes Buch von Andreas Platthaus („Moebius’ Zeichenwelt“ – Die andere Bibliothek im Eichborn Verlag, 2003).
Für alle, die vom Angoulême des Talgrunds an der Charente nicht zu Fuß nach oben steigen wollen, gibt es im Vaisseau Moebius einen geräumigen und bequemen Personenaufzug in die historische Oberstadt. Außer der romanischen Kathedrale ist ihr Zentrum das Hotel de Ville, ein prächtiger Palast aus dem 19. Jahrhundert, an dem noch zwei mittelalterliche Burgtürme erhalten sind. Hier war das Presse- und Ticketzentrum des Festivals zu finden. Verteilt über die gesamte Altstadt waren die Schauplätze, Zelte und Hallen des Festivals.
Neben großen Wandmalereien, die zum Beispiel Asterix und Obelix zeigen, gibt es überall auch Denkmäler für Pioniere des Comic, zum Beispiel einen großen Bronzekopf mit dem George Prosper Remi geehrt wird, bekannt als Hergé (1907-1983). Seine Helden waren unter den Namen Tim und Struppi auch in Deutschland sehr populär. Für Hergé wurde 2007 in Belgien ein eigenes Museum eröffnet und seine Originale erzielen mittlerweile auf Kunstauktionen Millionenbeträge.
Als ich am Ende eines langen Tages nach dem Abendessen mit einem Glas Rotwein unter den künstlichen Sternenhimmel eines Restaurants hinaustrat, näherte sich mir aus einer nahegelegenen Steinbruchhöhle eine dunkle Gestalt. Der Mann, der direkt aus der Unterwelt zu kommen schien, sagte zu mir: „Monsieur es reicht nicht, meinen Roman Verlorene Illusionen zu zitieren. Ich erwarte von Ihnen, dass meine Comédie humaine als bande dessineé in Gesamtausgabe erscheint! Komplett! Sagen Sie das Ihren Freunden! Mein Name ist Balzac. Honoré de Balzac.“ Sprachs und verschwand im schwarzen Loch des Steinbruchs la Cabane Bambou.
Siehe auch:
Die Zukunft der Autor:innenschaft. 50. Comicfestival in Angoulême
Letzte Änderung: 07.03.2023 | Erstellt am: 07.03.2023