Jürgen Ploog, der Frankfurter Avantgardist, wird endlich gefeiert …

Jürgen Ploog war vieles: Flugkapitän, Sprachavantgardist, Kultfigur des literarischen Undergrounds – und dennoch vom Literaturbetrieb weitgehend ignoriert. Fünf Jahre nach seinem Tod wird ihm nun die Bühne bereitet, die er verdient. Am 19. Mai wird in der Romanfabrik Frankfurt das Buch „West End. Texte von und über Jürgen Ploog“ vorgestellt – mit Lesung von Wolf Wondratschek, Gesprächen mit Freund:innen und Weggefährten sowie Musik von DJ Shantel. Ein Abend zwischen Cut-Up und Kontemplation, Retro-Futurismus und radikaler Ehrlichkeit – ganz im Geiste Ploogs.
„Jürgen Ploog (1935-2025) war der große Solitär des deutschen Undergrounds, ein Hauptdarsteller am unbekannten Rand des Literaturbetriebes, der intellektuelle Kopf der subkulturellen Literaturszene. (…) Der etablierte Literaturbetrieb hat ihn aber nie wirklich zur Kenntnis genommen“, heißt es auf dem U4-Umschlag des erstaunlich zugänglichen Buches West End. Texte von und über Jürgen Ploog, bedenkt man um was für eine Materie es sich bei diesem handelt, einer umfangreichen Gemeinschaftsarbeit, die das Werk und das Leben des kultigen Autors aus Frankfurt endlich gebührend feiert und einem breiten Publikum vorstellen will. Die Herausgeber David Ploog und Wolfgang Rüger wie auch der Verleger und Lektor Rainer Weiss gaben sich große Mühe, das Porträt und die Texte des legendären und umstritten Einzelgängers möglichst intensiv und facettenreich zu präsentieren, was ihnen in der Tat glänzend gelungen ist, über weite Strecken.
Nun wird das Buch West End. Texte von und über Jürgen Ploog, eine Publikation zum 5. Todestag des kultigen Autors, am 19. Mai in der Romanfabrik vorgestellt, und man kann jetzt schon sagen, dass die Veranstaltung Eine Feier für Jürgen Ploog in Frankfurt dieses Jahr zu den wichtigsten gezählt werden darf: Es werden immerhin tote und lebende Legenden auftreten. Kommen Sie daher am 19. Mai um 19 Uhr 30 zahlreich in die Romanfabrik! Sie werden es bestimmt nicht bereuen. Gefeiert wird mit Wolf Wondratschek, er wird die Texte von Jürgen Ploog lesen, und nach der Lesung diskutieren Martina Weber, Klaus Maeck, David Ploog und Ralf-Rainer Rygulla auf der Bühne, moderiert von Rainer Weiss. DJ Shantel wird für einen krönenden Abschluss der Party für den Frankfurter Avantgardisten sorgen.
„Er hatte schlecht geschlafen & überlegte, ob er sich wieder hinlegen sollte. Es war besser, den Zeitunterschied einfach zu ignorieren. Als er ins Freie trat, zerfiel die Landschaft in anatomische Teile eines fremden weiblichen Körpers. Hügel & Buchten zogen sich in fleischlicher Weite hin. Das Meer war stürmisch, & von Zeit zu Zeit riß der Himmel auf, & ein Bündel Sonnenstrahlen stieß wie eine gierige Zunge aufs Wasser herab.“
Jürgen Ploog in der Erzählung Nächte im Nizza
(West End, Edition W, Neu-Isenburg 2025)
Seit drei Tagen suche ich Jürgen Ploog auf den Straßen von Frankfurt, denn seit drei Tagen blättere ich in dem apokalyptisch anmutenden Buch West End mit Texten von und über Jürgen Ploog herum, herausgegeben von David Ploog und dem leidenschaftlichen Antiquar Wolfgang Rüger. Eines Nachmittags schaue ich auch in seinem Antiquariat vorbei, um von dem unermüdlichen Antiquar und Autor auf meine dringlichen Fragen ein paar Antworten zu ergattern. Doch ich merke schnell, dass es mehr Fragen gibt als Antworten, denn der Frankfurter Avantgardist lässt sich nicht in ein Korsett zwängen und konservieren wie eine Mumie.
Es ist Mitte Mai, Frankfurt ertrinkt in der Sonne ‒ endlich ‒, und ich stelle mir vor, wie Jürgen Ploog am Flughafen sitzt und schreibt, vielleicht in New York oder in London. Er war Flugkapitän, Schriftsteller, Autor von mehr als 30 Büchern und eine Legende, aber nicht so eine wie Rolf Dieter Brinkmann, über den Ploog hier und da einiges zu Papier brachte, doch der Kölner Kultautor schrieb kein einziges Wort über sein Frankfurter Pendant, das in der Main-Metropole in den Avantgardekreisen der 60er und 70er einen Kult- und Gurustatus genoss, allerdings vor einem bescheidenen Publikum.
Und Ploog war in der Tat ein konsequenter und radikaler Avantgardist, ein leidenschaftlicher Erneuerer der deutschen Sprache und des deutschen Schreibstils, wobei es unverständlich ist, warum er von einigen Literaten und Kennern der Materie hin und wieder als ein W.-S.-Burroughs-Plagiator, -Epigone oder -Apologet bezeichnet wird. Ploogs Strassen des Zufalls. Über W. S. Burroughs von 1983 ist ein literaturkritisches Werk, eine Art Raum – und Zeitstudium im Kontext der Cut-Up-Technik (wobei Ploog die Fold-in-Technik liebte, da dabei Textfragmente nicht verlorengehen, man kann sie wieder zurückholen). Diese Underground-Literatur ist mehrdimensional, es handelt sich bei ihr um Botschaften, Aufzeichnungen aus dem dystopischen Kellerloch, in dem der Überlebenswille stärker ist als der Drang, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Gesellschaft in den totalen Konsum abdriften ließ, eine Gesellschaft, die doch den Horror und die Morde der Kriegsjahre verdrängen wollte.
Treffend schreibt daher Enno Stahl in seinem Essay über Ploogs schriftstellerisches Handwerk, dass die Cut-Up-Technik eine Art Abrechnung mit dem Nazi-Deutschland ermöglicht habe, sei doch die Sprache unter diesen Barbaren missbraucht und in den Dienst der totalen Propaganda gestellt worden. „Hände hoch!“, „Raus!“ – diese Schreie hören meine polnisch geschulten Ohren bis heute ‒ erst als ich 1985, nach meiner Ankunft in der BRD, damit anfing, Rolf Dieter Brinkmann, Nicolas Born und Ludwig Fels zu lesen, kam die Heilung und die Liebe zur deutschen Sprache, so dass ich selbst in ihr dichten konnte. Aber selbst in jener Zeit der Entdeckungen hörte ich nie den Namen Jürgen Ploog ‒ andere hörte ich schon, selbstverständlich: Wolf Wondratschek, Rainer-Rolf Rygulla, Carl Weissner, und dann die Amis, die Beatniks. Aber Ploog? Das zeigt auch das ganze Elend der Rezeption der Werke dieses kläglich und fahrlässig vernachlässigte Autors durch die Literaturkritik und die Germanistik.
Die meisten sagen, fragt man auf den Frankfurter Straßen Zeitzeugen, die Ploog begegnet sind, der Flugkapitän und Schriftsteller sei eitel und eigentlich nicht verdaulich gewesen ‒ keine zwei Minuten lang. Aber wie soll er denn anders gewesen sein, wenn ihm in den meisten Fällen, traf er nicht seine Freunde und treue Gefolgschaft, Ignoranz und Kälte begegneten ‒ zumindest seitens der Verleger, Kritiker und Autoren?
Ich frage mich, der ich bisher als Schriftsteller ziemlich viel Anerkennung erfahren habe, wie Ploog überhaupt diese Misere und diesen Liebesentzug ausgehalten hat, all die Jahre bis zu seinem Tod 2020, denn er debütierte 1969 mit dem Band Coca-Cola-Hinterland, und man könnte meinen, in all den Jahrzehnten hätte sich doch ein Erfolg einstellen müssen. Ich kenne zumindest keinen deutschen Autor, der so klarsichtig und mondän und zugleich angenehm malkontent über seine eigene Nation schreiben konnte. Ich zitiere aus West End: „Deutsche sind offen & direkt in ihren Mitteilungen, in ihrer Kommunikation. Es ist diese offene Direktheit, die erstens zum Lügen zwingt, zweitens zu Direktes, zu Persönliches, zu Deutliches nicht auszusprechen. Es zu ignorieren. Sie bewegen sich deshalb in Extremen. Zwischen technisch-funktionaler Kompetenz & romantischer Abgehobenheit, die in irreale Gebiete führt. Diese Zerrissenheit ist die Gefahr, vor allem im Politischen. Dass ein kommunikatives Meta-System fehlt, beschränkt sie kulturell. Was sie austauschen, sind entweder Nachrichten der Verzweiflung aus dem inneren Raum oder … Die Technik der Wahrnehmung & der Mitteilung hat keine oder kaum Ausdruck für sie. Eine Märchenwelt, in der alles deutlich & greifbar sein sollte. (SFO 21.2.1991, Tagebucheintrag)“ Ein schmerzliches, phänomenal scharfes, ja scharfkantiges Urteil eines deutschen Kosmopoliten über seine eigenen Landsleute: und nach wie vor aktuell, ja, ich fürchte, es wird noch in diesem unseren Jahrhundert der kleinen und großen Katastrophen und Apokalypsen vom globalen Ausmaß lange gelten.
Doch das ist natürlich nicht alles, was Ploog essayistisch und in einem Tagebuch auf den Punkt und die Punkte (in seiner Poetik gesagt) bringen konnte. Liest man die Erzählung Nächte im Nizza im selben Buch, begreift man ziemlich schnell, welcher Erzählerstimme dieser Autor bedingungslos gefolgt ist: nämlich der eines Menschen, der sich selbst und der Welt endlich beikommen beziehungsweise endlich wahrhaftig und ehrlich begegnen will, denn nur diese Art von Begegnung kann die ungeheuerliche Bandbreite der Wirklichkeiten, die wir erschaffen, erfassen. Ploog schreibt in seiner Erzählung: „Schreiben, um wieder in den Körper zurückzufinden, der ihm mit jeder Bewegung verlorenzugehen schien. Er bemühte sich, Unwahres zu erfinden, um nicht wieder den Nachstellungen des Tatsächlichen zu erliegen.“ In derselben Erzählung werden wieder fluchtartig und flüchtig „ganze“ Biografien erzählt und auch konsumiert: Eine Chinesin taucht auf und sagt, sie sei auf geheimer Mission rund um den Globus, was man natürlich assoziativ mit der heutigen Expansionspolitik des kommunistischen China verbindet, und eine Engländerin diskutiert mit Eddie, dem Langstreckenpiloten, über die Liebe, aber derart, als wären die beiden ein altes vertrautes Liebespaar, doch Pustekuchen, in den Hotelzimmern, -lobbys und -bars ist das Vergängliche omnipotent, ist das Gefühl, nirgendwo zu sein und zugleich überall, ein kontemplativer und sakraler Moment, also der Moment, der die Literatur und Dichtung energetisch zu einem Höhenflug treibt. Und so ist auch diese Prosadichtung von Ploog: unten, oben, links, rechts, innen, außen ‒ auf dem Boden und im Himmel wimmelt es nur von Körpern und Situationen, die genauso so schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Faszinierend. Und ergreifend. Ein Dasein im Vorbeiflug und dennoch greifbar und konkret.
Doch nur im Moment des Schreibens kann man dieser Multidimensionalität unseres Lebens gewahr werden, kann man als Autor wieder Harmonie und Verständnis für all das Flimmern des Vergänglichen finden und gut gelaunt schlafen gehen. Das ist zwar nichts Neues, diese Methode des Sich-Klarmachens, worum es einem eigentlich geht, während man schreibt, war auch Goethe bekannt ‒ und später einem Frank O´Hara oder Allen Ginsberg. Aber Ploog erzeugt in seinen Texten eine vertrauliche Atmosphäre, die man bei den meisten Autoren und Erneuerern der Sprache vermisst, die sich Avantgardisten schimpfen oder als solche bezeichnet werden. Er schafft es, unsere Zeit und Epoche in ein diffuses Licht voller Gerüchte zu tauchen, wie in einer Dystopie, wie in dem Sci-Fi-Film Blade Runner, und in dieser geheimnisvollen Umgebung und Underground-Welt hält man sich gerne auf, weil man ständig glaubt, um die Ecke etwas Neues und Ungeheureres zu entdecken, wonach man schon immer gesucht hat. Und das ist Ploog pur.
Letzte Änderung: 14.05.2025 | Erstellt am: 13.05.2025
Was?
Feier für Autor Jürgen Ploog
Wo?
Romanfabrik Frankfurt am Main
Wann?
19.05.2025, 19:30 Uhr
Tickets für die Veranstaltungen finden sie hier.
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