Ausführlichste, durchaus auch kritische Besprechungen der Bücher befreundeter Kollegen durch heute berühmte Autoren in literarischen Zeitschriften waren im 19. Jahrhundert üblich. Man machte sich auf eine zugewandte Weise gegenseitig der Öffentlichkeit bekannt. Vom Kulturjournalisten hingegen erwartet man ein von Freund- und Feindschaften unabhängiges Urteil, was praktischerweise Freunde und Feinde ausschließt, wenn er überhaupt noch welche hat. Thomas Rothschild zeigt auf die ethischen Grenzen.
Dieser Tage schrieb mir einer der gescheitesten und kompetentesten Literaturredakteure der vergangenen Jahrzehnte, der bekannt war für seine ungewöhnlich hohen, rigiden moralischen Standards und der während seiner Amtszeit Bücher von Mitarbeitern grundsätzlich nicht besprechen ließ, dass ihm ein Autor eine Neuerscheinung schicken wollte in der insgeheimen Hoffnung, dass er es rezensieren würde. Verstößt solch ein Ansinnen schon gegen die guten Sitten? Ist es bereits verwerflich? Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Es ist eine Situation, mit der sich die meisten Literaturkritiker gelegentlich konfrontiert sehen.
Dass Autoren, insbesondere im Bereich der Lyrik, befreundete Autoren besprechen, war schon damals gang und gäbe, und besagter Redakteur ließ sie nicht zu. Die Rechtfertigung der potenziellen Rezensenten lautete: „Wenn ich nicht darüber schreibe, tut es niemand, und viele Lyriker oder Schriftsteller sind auf eine Besprechung ihrer Werke angewiesen, damit deren Existenz überhaupt wahrgenommen wird.“
Inzwischen haben Mitarbeiter von Zeitungen oder Rundfunkanstalten keine Hemmungen mehr, über Bücher oder auch Kulturveranstaltungen im Jargon einer PR-Verlautbarung zu schreiben, oft sogar, ehe die Veranstaltung stattgefunden hat. „Kritik“ ist für ihre Bereitschaft zur Gefälligkeit nur noch ein Euphemismus.
Kürzlich aber konnte ich eine Praxis beobachten, die diese Normalität überbietet. In der Stadt, in der ich lebe, gibt es alljährlich Festspiele. Ihr aktueller Intendant wurde für seine kulturellen Initiativen mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. In der Stadt gibt es auch eine Lokalzeitung. Ihr Musikkritiker begleitet die Festspiele mit einer andauernden Jubelorgie. So weit, so zeitgemäß. Aber die Sache hat eine Pointe. Der Kritiker ist der Vater der Geschäftsführerin und Leiterin der Künstlerischen Planung und Produktion der Festspiele. Mit anderen Worten: Der Rezensent mit dem lokalen Monopol bewertet die Arbeit seiner Tochter. Früher einmal hätte man gesagt, das sei ein Skandal. Im heutigen Slang heißt es: „Das geht gar nicht“. Aber offenbar haben weder die Festspiele, noch der Chefredakteur der Zeitung, noch gar der Kritiker selbst Bedenken. In einem Interview mutmaßte der Festival-Intendant, eine Bundesstraße würde die Ortsansässigen vom Besuch der Festspiele abhalten. Vielleicht misstrauen sie einfach einem Kritiker, der mit der angeblich Kritisierten verbandelt ist. Zu dieser Einsicht kommt freilich keiner, der die Versäumnisse nur bei anderen und nie bei sich selber sucht.
Journalistische Ethik und mit ihr die Glaubwürdigkeit der Medien war einst ein hoher Wert. Sie wurde an den einschlägigen Hochschulen in Seminaren gelehrt. Trotzdem wurde sie von einzelnen immer wieder unterlaufen. Mittlerweile ist sie nur noch eine Lachnummer. Die Medien brauchen keinen Druck von außen. Sie schaffen sich selber ab. Durch den Mangel an Wertvorstellungen und durch Willfährigkeit, die noch nicht einmal einer Bestechung bedarf.
Wie reimte doch der britische Dichter Humbert Wolfe? „You cannot hope to bribe or twist,/ thank God! the British journalist./ But, seeing what the man will do/ unbribed, there’s no occasion to.“ Das gilt nicht nur für den britischen Journalisten. Der totale Verlust der moralischen Standards, die der Literaturredakteur im Ruhestand einst für verbindlich hielt, sorgt für die Omnipräsenz der Schamlosigkeit.
Letzte Änderung: 26.07.2023 | Erstellt am: 26.07.2023