Außerhalb des Gerichtssaals hat sich die juristische Entscheidungsregel „in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten“ nicht durchgesetzt. So kann in der anwachsenden Hysterie jeder für schuldig gelten, der für schuldig gehalten wird. Thomas Rothschild wendet sich gegen die unwissende Verdächtigung und besteht auf der Unschuldsvermutung.
Es gibt Männer, die Frauen sexuell belästigen, demütigen, ausbeuten. Es gibt aber auch Frauen, die sich bei Männern mit sexuellen Lockmitteln Vorteile verschaffen, zum Nachteil jener Konkurrentinnen, die solche Techniken ablehnen. Es gibt Männer, die Frauen vergewaltigen. Es gibt aber auch Frauen, die Männer mit dem kaum widerlegbaren Vorwurf einer erfundenen Vergewaltigung erpressen. Es gibt zänkische, rechthaberische, besserwisserische Männer. Es gibt aber auch zänkische, rechthaberische, besserwisserische Frauen. Es gibt religiöse Fanatiker, die im Namen ihres Glaubens Unrecht begehen und „Ungläubige“ benachteiligen und unterdrücken – so etwa, indem sie Kinder ausgrenzen und stigmatisieren, die nicht am Schulgottesdienst teilnehmen, oder, wie in Israel, die standesamtliche Ehe verhindern wollen. Es gibt aber auch Gläubige, denen man über Jahrhunderte hinweg nachsagte, sie würden Christenkinder ermorden und deren Blut für die Herstellung von Matzen verwenden. In zahlreichen Pogromen wurden diese Objekte hanebüchener Verleumdungen tatsächlich verfolgt und ermordet. Es gab Christen, Muslime, Buddhisten und Agnostiker, die Spionage betrieben. Es gab aber auch Menschen, denen man, wie Alfred Dreyfus, Landesverrat vorwarf, den sie nicht begangen hatten, die man verurteilte und als Vorwand für antisemitische Aktionen missbrauchte.
Wer nur die eine Hälfte dieser Fälle erwähnt, sagt nicht die halbe Wahrheit, sondern lügt. Immer wieder aber gibt es interessierte Lobbys, die eine halbe Wahrheit, also eine Lüge, verbreiten und propagieren, weil es ihnen nicht um Wahrheit geht, sondern um Vorteile, die sie sich von der Wirkung der halben Wahrheiten versprechen. Und sie haben Erfolg, weil es einfacher ist, an die Schuld eines Dreyfus, an Brunnen vergiftende Juden, an gewaltbereite, permanent geile Männer und an eine andauernde, durch nichts gerechtfertigte Verunglimpfung der Xanthippe zu glauben als an eine differenzierte Wirklichkeit, an die ganze, die einzige Wahrheit. Die Profiteure der halben Wahrheiten hätten zu viel zu verlieren, wenn sie sich auf die Wahrheit, die ganze Wahrheit einließen. Und so wird diffamiert, wer auf der Unschuldsvermutung bei ungeklärten Sachverhalten besteht, weil die verschwiegene, die andere Hälfte, ihre Herrschaftsansprüche ins Schwanken brächte.
Klaus Dörr, der Interimsintendant der Berliner Volksbühne, der die Folgen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe des übergriffigen Sexismus ausbaden muss, obwohl zumindest ein Teil dieser Vorwürfe nachweislich unberechtigt war, steht nach wie vor unter Generalverdacht. Ob die restlichen Beschuldigungen stimmen, weiß ich nicht, aber so viel weiß ich: Nach der Widerlegung zumindest eines Teils dieser lautstark und hundertfach wiederholten öffentlichen Vorwürfe steht ihm mehr als je bis zum handfesten Beweis von Vergehen die Unschuldsvermutung zu. Stattdessen aber findet es die Theaterkritikerin Barbara Behrendt, ihre Kollegin von der taz verteidigend, im immerhin offiziösen Deutschlandfunk absurd, wenn all jene Menschen, die Dörr „blindlings denunziert“ haben, jetzt „um Vergebung bitten“, die „eigene Schande“ eingestehen sollten. Sie wehrt sich mit Händen und Füssen gegen die Möglichkeit begangenen Unrechts gegenüber dem mutmaßlichen Täter. Mit aller Macht verteidigt sie den Anspruch auf die halbe Wahrheit, auf die Anklage vor dem hieb- und stichfesten Schuldbeweis. Wer in einem Punkt die Haltlosigkeit der Anklagen beweisen konnte, steht bezüglich der restlichen Vorwürfe anonymer Anklägerinnen immer noch im Verdacht.
Dass Dörr unschuldig sein könnte wie Dreyfus oder Eszter Solymosi, darf nicht in Erwägung gezogen werden. Ich sage nicht, dass das der Fall ist. Noch einmal: ich weiß es nicht. Ich sage nur: Die Möglichkeit reicht für die Ablehnung von Denunziation. Was ich im übrigen eidesstattlich beschwören kann, weil ich daneben saß, ist die Tatsache, dass eine Professorin an einer Kunstuniversität den jungen Schauspielschülern wiederholt auf den Oberschenkel griff. Das allerdings ist in Zeiten von #Me too nicht der Rede wert.
Dass die Möglichkeit der Schuldlosigkeit für die Ablehnung von Denunziation reicht, ist die Lehre aus der Geschichte, die ich mit mir herumtrage, so lange ich historisch denken kann. Dreyfus habe ich nicht weniger im Blut als Titus Andronicus. Barbara Behrendt verfügt offenbar über ein anderes Erbe. Ich bin nicht bereit, mich davon einschüchtern zu lassen. Ich bestehe auf der ganzen, der einzigen Wahrheit.
Letzte Änderung: 26.09.2022 | Erstellt am: 26.09.2022