Gegen Schnitzler

Gegen Schnitzler

Kontrapunkt
 | © Bernd Leukert

Der respektlose Umgang mit seriösen Stücken auf dem Theater ist kein neues Phänomen. Aber die Überzeugung, dass alle für das Theater geschriebenen oder aus gutem Grund nicht für das Theater gedachten Texte auf das zeitgenössische Unwissen hin umgeschrieben werden müssen, ist vielleicht so verbreitet wie noch nie. Thomas Rothschild musste eine arme Verwandlung ertragen.

Die tiefere Bedeutung von Überschreibungen

Das deutschsprachige Theater krankt nicht an der Unzeitgemäßheit des Mediums, wie immer wieder suggeriert wird, sondern an der Einfallslosigkeit, dem Konformismus und der Unbildung der Theaterleiter und der Dramaturgen. Da „entdeckt“ irgendeine Einrichtung das Puppentheater des Nikolaus Habjan, und schon inszeniert er in atemberaubenden Zeitabständen landauf und landab. Da verspricht eine Institution die totale Erneuerung durch die Ablösung des Literaturtheaters durch die Performance, und schon tummeln sich auf den Bühnen die Selbstdarsteller und Mitmachanimateure von größeren oder geringeren Gaben, aber fast stets ohne Weltkenntnis und erst recht ohne Beziehung zur Sprache jenseits des Alltagsjargons. Da jubelt ein Theater den australoschweizerischen Stückeüberschreiber Simon Stone in den Himmel, und schon darf er flächendeckend ungehindert seine Selbstüberschätzung bei der „Verbesserung“ von Autorinnen und Autoren, an die er nicht annähernd heranreicht, demonstrieren. Aber niemand sagt, dass der Kaiser nackt ist, weil sich der Konformismus offenbar eher auszahlt als die Kritikfähigkeit.

Im Schatten von Simon Stone segelt auch Robert Icke, seit er den Sprung über den Ärmelkanal geschafft hat. Auch er „überschreibt“ mangels eigener Einfälle Dramen der Vergangenheit. Und auch bei ihm versagt die Kritik, wenn es darum geht, die Überzeugungskraft, die innere Logik seiner Bearbeitungen oder gar deren Überlegenheit gegenüber den Vorlagen zu überprüfen. Machen wir also hier den Versuch, die von den Dramaturgen unterlassene Aufgabe ansatzweise zu erfüllen.

Zu Robert Ickes erfolgreichsten Stücken zählt „Die Ärztin“, eine „Überschreibung“ von Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“. In den beiden größten Städten Österreichs, in Wien und in Graz, ist die Vorgeschichte des Holocaust kein Thema mehr. Dort spielt man statt „Professor Bernhardi“, dessen Plot in der Wiener Realität sein Modell fand und der nachdrücklich, von der Sprache, über die Typen bis zu den Umgangsformen, unter österreichischen Bedingungen stattfindet, Ickes „Ärztin“, die den Antisemitismus mit Antifeminismus „überschreibt“. Wer den Völkermord an den Armeniern, den Kolonialismus oder gar Maßnahmen gegen Covid 19 mit dem Holocaust vergleicht, stößt auf Empörung und kommt sogar mit dem Gesetz in Konflikt. Auf dem Theater scheint es als besonders schlau zu gelten, wenn man jegliche Diskriminierung gleichsetzt mit Umständen, die geradewegs zur Shoah geführt haben. Übertragung in die Gegenwart bedeutet für die Direktorien und Dramaturgen, die sich für Icke und gegen Schnitzler entscheiden, die Relativierung der geschichtlichen, bis heute nachwirkenden Wahrheit zugunsten der Schwerpunkte, die aktuell forciert werden. Die einzige Begründung für die Transformation des Arztes Bernhardi in die jüdische Ärztin Ruth Wolff ist die implizite Aussage: was der Figur zustößt, erleidet sie gleichermaßen als Jüdin wie als Frau.

In Österreichs drittgrößter Stadt, in Linz, hat man sich nun doch für das Original entschieden. Am dortigen Landestheater wird „Professor Bernhardi“ am 6. Mai im Sinne des Autors auf die Bühne gebracht. Linz? Von hier, aus der geringgeschätzten „Provinz“, kam Kurt Schossmann ans Burgtheater, wo er in der unvergessenen Inszenierung von „Professor Bernhardi“ durch Angelika Hurwicz im Jahr 1981 den Dr. Schreimann spielte. Schnitzlers Meisterwerk von 1912, das bis zum Ende der Monarchie in Österreich verboten war, ist ja ein Stück über Antisemitismus, aber auch, was oft übersehen wird, über den Sinn und die Erfolgsaussichten von Widerstand in der Politik, über die Macht von und die Skepsis gegenüber Ideologien. Man muss schon sehr weltfremd sein, wenn man annimmt, derlei bedürfe in Österreich und anderswo einer Aktualisierung. Bernhardi allerdings kann sich seinen Sarkasmus leisten, der von manchen als Arroganz interpretiert wird und ihm bei ihnen die Sympathie entzieht, weil der Massenmord an den europäischen Juden noch bevorsteht. Schnitzler konnte davon nichts wissen. Er ist zuvor gestorben.
Robert Icke weiß mehr. Seine Konsequenz ist eine Geschlechtsumwandlung.

Letzte Änderung: 11.04.2023  |  Erstellt am: 11.04.2023

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