Ehrenrettung der Bösewichte

Ehrenrettung der Bösewichte

KONTRAPUNKT

Unser Wortschatz schrumpft nicht nur, weil zu viele Menschen eine rigoros utilitaristische Lebensauffassung haben und bei jedem Wort, das sie nicht kennen, fragen: „Was gibt mir das?" Er verarmt auch, weil das politisch-moralische Bewusstsein jeder neuen Generation immer neue Wortverbote befürwortet, weil sie einst in einem nun verwerflichen Kontext gebraucht wurden. Thomas Rothschild sieht gerade darin die Geschichte ignoriert.

Dass Agamemnon seine Tochter Iphigenie tötet, ist nach heute übereinstimmender Meinung eine Untat und rechtfertigt, jedenfalls nach der Rachelogik des Gleichgewichts von Verbrechen und Strafe, die Ermordung des Mörders durch seine Frau Klytaimnestra. Dass Kreon die Bestattung von Polyneikes verbietet, ist nach heutiger Meinung inhuman und setzt ihn ins Unrecht und Antigone ins Recht. Dass Philipp II. gegen seinen Sohn Carlos intrigiert, ist für uns Heutige herzlos und macht ihn zum Tyrannen. In all diesen Beispielen werden der Beurteilung Maßstäbe zugrunde gelegt, die in unserer Gegenwart anerkannt werden, aber nicht immer schon gegolten haben.

Die zunehmende Beurteilung der Vergangenheit nach heutigen Standards, die mangelnde Bereitschaft also oder die Unfähigkeit zu historischer Einordnung, zeugt von einer massiven Denkfaulheit und hat den adäquaten Zugang zu literarischen Werken der Vergangenheit versperrt. Sie haben ihren Sinn verloren, wenn man sie nicht mehr unter Berücksichtigung der zur Zeit ihrer Entstehung geltenden Werte und Moralvorstellungen liest. Man muss, ja darf diese in vielen Fällen nicht teilen, aber wer dem Leser oder dem Zuschauer vorkaut, was er nach heutigen Maßstäben zu denken habe, betrügt diese um eine Erfahrung, die ohne Bewusstsein von Differenz nicht zu haben ist. Auch die Gegenwart lässt sich nur begreifen, wenn man weiß, was sie von der Vergangenheit und möglicherweise von der Zukunft unterscheidet, wenn man diese also mit historischem Wissen benennt. Wo das N-Wort nicht mehr in Kenntnis seines mittlerweile mit Gründen kritisierten Bedeutungshorizonts ausgesprochen werden darf, ist nicht nachvollziehbar, warum Filme wie „Guess Who’s Coming to Dinner“ oder „In the Heat of the Night“ noch vor 50 Jahren Empörung erregt haben und wogegen die amerikanische Bürgerrechtsbewegung gekämpft hat. Es ist nicht nur wohlfeil, sondern, mit Verlaub, schlicht dumm, wenn man Eugen Onegin aus der Perspektive einer (mehr oder weniger) demokratischen bürgerlichen Gesellschaft vorwirft, dass er denkt und handelt wie ein von seinem Autor durchaus kritisch betrachteter adeliger Dandy vom Typus des „überflüssigen Menschen“, der keine Funktion in der Gesellschaft seiner Zeit erfüllt, oder Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi, dass er, 1912 erfunden, nicht reagiert, als hätte er den Holocaust vorhergesehen, als wäre Karl Lueger nur ein früherer Heinrich Himmler.

Muss man wirklich an die in den Schulen offenbar nicht mehr vermittelte Binsenwahrheit erinnern, dass Werte und Moralvorstellungen zeitbedingt sind, dass sie sich verändern, ihre Gültigkeit verlieren, durch andere Werte und Moralvorstellungen ersetzt werden? Wer das missachtet, wird historischen und literarischen Figuren der näheren und weiteren Vergangenheit nicht gerecht, ist allenfalls so klug wie ein Musiker, der auf seiner Violine nach Tasten oder Ventilen sucht.

Im Rahmen einer Weltsicht, die davon überzeugt ist, dass die Götter allmächtig sind und das Schicksal der Menschen bestimmen, durfte sich Agamemnon verpflichtet fühlen, seine Tochter Iphigenie zu opfern, um so eine Windstille zu beenden und mit seinem Heer heimkehren zu können. Im Rahmen einer Weltsicht, die die Staatsräson vor den zugleich protektionistischen Humanismus einer Antigone stellt, der zu seiner Zeit nicht konsensfähig war, darf Kreon auf der Einhaltung von Regeln bestehen, die für weniger privilegierte Zeitgenossen als die Tochter des Ödipus verbindlich waren. Im Rahmen einer imperialistischen Weltsicht, die im 16. Jahrhundert kaum angezweifelt wurde, durfte sich Philipp selbst auf Kosten seines eigenen Sohnes den Wünschen des Großinquisitors beugen.

Das alles erscheint uns nach heutigen Maßstäben inakzeptabel. Zum Mangel an historischem Bewusstsein kommt das totale Fehlen an in die Zukunft gerichteter Fantasie. Wer möchte Gift darauf nehmen, dass es nicht schon in wenigen Jahren allgemein als inhuman, ja unvorstellbar gelten könnte, dass Generäle Menschen opfern dürfen, um einen Krieg zu entscheiden; dass Politiker Menschen Asyl und Sicherheit von Lebensgefahr verweigern dürfen, weil diese irgendwelche Formalien nicht erfüllen; dass Philosophen und ihre Abziehbilder Argumente finden, um einen Angriffskrieg und die massenhafte Tötung von Zivilisten scheinbar zu rechtfertigen? Wer möchte ausschließen, dass der sonntägliche Gottesdienst und dessen mittelbare Auswirkungen auf den säkularen Staat einmal als eben so obskur und demokratiefeindlich bewertet werden wie die religiösen Vorstellungen eines Agamemnon oder die Unterwürfigkeit eines Philipp II. gegenüber der katholischen Kirche?

Was heute gilt, muss morgen nicht mehr gelten. Das kann ein Versprechen sein oder auch eine Drohung. So oder so ist es engstirnig und unaufgeklärt, die Vergangenheit zu beurteilen, als hätte für sie gegolten, was heute gilt. Wer Agamemnon, Kreon oder Philipp ohne weitere Bedenken verurteilt, gleicht dem Zeitgenossen, der sich darüber wundert, dass man die Pest im 18. Jahrhundert nicht mit Antibiotika bekämpft hat.

Und wenn nun jemand einwendet: wie verhält es sich mit Filbingers skandalösem Spruch „Was damals rechtens war, das kann heute nicht Unrecht sein“? Was damals, zur Zeit des Nationalsozialismus, als rechtens galt und als Recht kodifiziert wurde, entsprach ja gerade nicht den noch kurz davor geltenden Rechtsvorstellungen. Es war von einem diktatorischen Regime oktroyiert worden. Alternativen zu den nationalsozialistischen Rechtsvorstellungen waren, anders als eine götterlose Welt für Agamemnon, nicht nur denkbar, sondern gehörten zwingend zu den vorherrschenden (christlichen!) Wertvorstellungen. Sie berechtigen, die Vergangenheit an ihnen zu messen. Wer sie, mit allen Konsequenzen und gegen besseres Wissen, verabschiedet hat, darf mit einer Ehrenrettung nicht rechnen.

Letzte Änderung: 18.05.2023  |  Erstellt am: 17.05.2023

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