„Uns kann das Schlimmste geschehen“

„Uns kann das Schlimmste geschehen“

Ein Ghetto-Tagebuch aus Vilnius
Gedenktafel im ehemaligen jüdischen Ghetto von Vilnius | © CC BY-SA 3.0

Dank großer Archive und einer umfangreichen Bibliothek ist das YIVO-Institut für jüdische Forschung in Manhattan eine zentrale Stelle für die Erforschung des osteuropäischen Judentums. Nun hat sich das YIVO vorgenommen, seine Schätze im Rahmen seines Online Museums durch Ausstellungen zu einzelnen Lebensgeschichten zugänglich zu machen und sie mit seltenen oder einzigartigen Artefakten, Dokumenten, Fotos, Büchern, Animationen so zu ergänzen, dass sich die jüdische osteuropäische Tradition nachvollziehbar wird.

Die erste Ausstellung des YIVO Online Museums griff auf eine erst 2017 entdeckte Autobiographie von Beba Epstein (1922-2012) aus Vilnius zurück und erzählte die Geschichte eines Mädchens, das dem Alltag entrissen, das Ghetto und mehrere KZs überlebt hatte und 1946 in die USA emigrieren konnte. Die neue Ausstellung präsentiert unter dem Titel „Der Bericht eines Jugendlichen über Leben und Tod im Ghetto von Wilna“ das Tagebuch, das Yitskhok Rudashevski zwischen Juni 1941 – da war er 14 – und April 1943 geschrieben hat. Anders als die Geschichte von Beba Epstein, die ein Happy End hat, endet Rudashevskis Geschichte tödlich.

Rudashevski hielt gewissermaßen die Schrecken der Geschichte fest: die Übernahme der Stadt durch die deutsche Armee von den sowjetischen Besatzern und die Einsperrung der 55.000 Juden von Vilnius in zwei Ghettos, den täglichen Kampf der Ghetto-Insassen ums Überleben, die Berichte über systematische Massaker in den Wäldern von Ponary südwestlich von Vilnius, wo 70.000 Juden, 8.000 sowjetische Kriegsgefangene und 2.000 polnische Intellektuelle von Nazi-Einsatzgruppen und litauischen Freiwilligen erschossen wurden. Rudashevski vermittelt ein bedrückend lebendiges Bild des Elends und der Angst.

Das Tagebuch beginnt mit der Beschreibung eines Treffens der kommunistischen Jugendgruppe, zu der Rudashevski gehörte. Die Zusammenkunft der Jugendlichen wird durch das Heulen von Sirenen und das Donnern von Bomben unterbrochen, abgebrochen. Innerhalb weniger Wochen wurden die Juden aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen und in die Ghettos zu gehen. „Es ist ein Bild aus dem Mittelalter“, schreibt Rudashevski. „Eine große schwarze Menge von Leuten bewegt sich wie an ihre Bündel eingespannt. Wir begreifen, dass wir bald an der Reihe sind. Ich schaue in das unordentliche Zimmer, auf die Bündel, auf die überwältigten, verzweifelten Menschen.“ Die Rudashevskis mussten sich eine kleine Wohnung mit anderen Familien teilen. „Außer uns vieren sind noch elf Leute im Zimmer“, heißt es im Tagebuch. „Das Zimmer ist schmutzig und trüb. Es ist überfüllt. Es ist die erste Ghettonacht. Drei von uns liegen auf zwei Türen. Ich kann nicht schlafen. In meinen Ohren klingen noch die Klagen des Tages. Ich höre das unruhige Atmen der Leute, mit denen ich so plötzlich zusammengeworfen wurde, Leute, die plötzlich aus ihren Häusern vertrieben wurden, genau wie ich.“

Trotz der konstanten Unterernährung und der schlechten sanitären Einrichtungen im Ghetto wurden Schulen und Jugendclubs gegründet, Lesungen und kleine Konzerte organisiert, eine Zeitung veröffentlicht und sogar die 100.000ste Ausleihe eines Buches aus der Ghettobibliothek gefeiert. Aber als im April bekannt wurde, dass 5.000 Juden in Eisenbahnwaggons nach Ponary gebracht und in Gruben, die als Brennstofflager vorgesehen waren, erschossen wurden, verschwand jede Hoffnung. „Das Ghetto war tief erschüttert, als hätte es ein Donner eingeschlagen“, schrieb Rudashevski. „Leute sitzen eingesperrt in einem Verschlag und auf der anderen Seite lauert der Feind, der sich darauf vorbereitet, uns auf raffinierte Weise nach einem Plan zu vernichten, wie das heutige Massaker gezeigt hat.“ Der letzte Eintrag im Tagebuch lautet: „Uns kann das Schlimmste geschehen.“

Das geschah denn auch. Nach der Räumung und weitgehenden Zerstörung des Ghettos konnten sich einige Juden, darunter Rudashevski und seine Familie, verstecken und harrten bis Anfang Oktober 1943 aus. Schließlich wurde ihr Versteck entdeckt, sie wurden nach Ponary verbracht und dort ermordet. Bevor er abgeholt wurde, konnte Rudashevski das auf Jiddisch geschriebene Tagebuch auf dem Dachboden verstecken, wo ein Verwandter es nach der Befreiung fand und dem Dichter Abraham Sutzkever gab, der Dutzende wertvoller Bücher, Manuskripte und Briefe aus der ursprünglichen Bibliothek des YIVO in Vilnius gerettet hat.

Das Tagebuch wurde in einer gekürzten Fassung schon 1953 in einer Zeitschrift auf Jiddisch veröffentlicht und 1968 in hebräischer Übersetzung im Rahmen einer Ausstellung in Yad Vashem in Jerusalem gezeigt. Es folgten englische (1973), französische (2016), litauische (2018) und deutsche (2020) Übersetzungen.

Dennoch wurde das Rudashevski-Tagebuch nie so bekannt wie das inzwischen kanonische Tagebuch der Anne Frank. Und das, obwohl Rudashevski einen authentischen Eindruck des Alltagskampf im Ghetto vermittelt und, wie die Co-Kuratorin der YIVO Online-Ausstellung, Alexandra Zapruder betont, auch literarisch bemerkenswert ist. „Er war ein außergewöhnliches literarisches Talent“, sagte sie über den jugendlichen Tagebuchschreiber und hob die Sprachbeherrschung und Beobachtungsgabe hervor.

Die Online-Ausstellung „Der Bericht eines Jugendlichen über Leben und Tod im Ghetto von Wilna“ präsentiert zum ersten Mal den vollständigen Text in einer neuen englischen Übersetzung von Solon Beinfeld und verwendet verschiedene technische Möglichkeiten wie Animationen, Graphic Novels, Videodramatisierungen und interaktive Elemente, um Entstehen und Wirkung des Tagebuchs von Yitskhok Rudashevski zu kontextualisieren und einen tragischen Aspekt jüdischer Geschichte einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Letzte Änderung: 17.07.2024  |  Erstellt am: 17.07.2024

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