Über Rationales und Irrationales

Über Rationales und Irrationales

Ein Brevier aus unserer Zeit, in der wir vor der Gefahr des Dritten Weltkriegs stehen
Thomas Draschan, cathedral of tomorrow | © Art Virus Ltd.

Die Gefahr eines Dritten Weltkriegs ist in den letzten drei Jahren größer geworden, vor allem durch den Überfall Russlands auf die Ukraine und natürlich auch durch die terroristischen Attacken der Hamas und Hisbollah auf den israelischen Staat, der sich entschieden und mit allen militärischen Mitteln dagegen wehrt. Bei uns in Europa spielt sich vor unserer Tür ein kriegerischer Konflikt ab, der uns allen zunehmend Sorgen macht. Die Ursachen für diesen Konflikt sind vielfältig, und der Westen, auch Deutschland, muss sich mit seinen Fehlern, die gegenüber Putins Russland und seinem imperialen Drang gemacht wurden, kritisch auseinandersetzen. Die Historikerin und Autorin Anne Applebaum, die diesjährige Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, und der Schriftsteller und Publizist Marko Martin, der im Schloss Bellevue eine kritische Rede auf der Jubiläumsfeier zum Fall der Berliner Mauer gehalten hat, beleuchten und analysieren einige dieser Fehler in ihren Interviews, Texten und Büchern. Dabei stützen sie sich auf die vielen kritischen Stimmen aus Mittelosteuropa, die bei uns im Westen oft kein Gehör fanden und immer noch nicht richtig finden ‒ ähnlich wie unsere westlichen Osteuropakenner wie zum Beispiel Timothy David Snyder, Tony Judt, Timothy Garton Ash oder Franziska Davies.

»Selbstgefälligkeit ist wie ein Virus,
das sich schnell über Grenzen hinweg ausbreitet.«
Anne Applebaum in ihrer Rede anlässlich der Verleihung
des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2024

»Speech has allowed the communication of ideas
Enabling human beings to work together to build the impossible
Mankind’s greatest achievements have come about by talking
Our greatest hopes could become reality in the future
With the technology at our disposal, the possibilities are unbounded
All we need to do is make sure we keep talking«
Talkin’ Hawkin’ auf dem letzten
Studioalbum The Endles River (2014) von Pink Floyd

Der 7. Oktober 2024 müsste eigentlich in die deutsche Geschichte eingehen (oder wenigstens in die deutsch-polnische und damit europäische): Die kritische Rede des deutschen Schriftstellers, Publizisten und Intellektuellen Marko Martin (geb. 1970) an diesem Tag im Schloss Bellevue auf der Jubiläumsfeier zum Fall der Berliner Mauer vor 35 Jahren hat die Empörung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und ein breites Echo in der deutschen Presse hervorgerufen. Thema dieser Rede ist nicht etwa die glorreiche Vergangenheit der deutschen »friedlichen« Revolution von 1989 gewesen, sondern ‒ nomen est omen ‒ deren Demontage sowie die infame Gegenwart: nämlich die feige Rolle und Haltung Deutschlands, vor allem der Sozialdemokraten und der Christdemokraten, gegenüber der imperialen Politik Russlands und Wladimir Putins. Auch die Haltung Steinmeiers als Außenminister wurde von Martin scharf verurteilt, hat doch dieser 2016 die Nato-Manöver an der Ostflanke als »Säbelrasseln und Kriegsgeheul« bezeichnet, obwohl es, wie es in der Rede heißt, lediglich um den Schutz der dortigen Demokraten gegangen sei.

Martins Hauptvorwurf betrifft die völlige Ignoranz der deutschen Politik gegenüber der Rolle der Solidarność und den Verdiensten der Polen im Zusammenhang mit dem Fall der Berliner Mauer ‒ Lech Wałęsa war zwar wichtig und lustig, dieser charismatische Streikführer, Elektriker und Dialektiker, aber erst »Onkelchen« Gorbatschow habe doch das kommunistische Kartenhaus zum Fallen gebracht, so die hiesige Haltung. Es geht bei diesem Vorwurf auch um die deutsche Entspannungspolitik und die »Brücke« (in Steinmeiers Worten), geschlagen zwischen Berlin und Moskau durch das Projekt Nord Stream 2. Martin gibt allerdings zu, dass er im Großen und Ganzen Offensichtliches ausspreche und lediglich Fakten benenne, die den Historikern, geschweige denn den Polen und anderen Osteuropäern bekannt seien.

In einem Interview mit dem Online-Portal »t-online« nach seiner Jubiläumsrede, die Steinmeier aus dem Gleichgewicht brachte (»er hat (…) die Contenance verloren«, so das Fazit des Jubiläumsredners), erklärte Martin: »Die Ironie des Ganzen besteht ja darin, dass ich gar nichts besonders Neues gesagt habe. Experten für Osteuropa, wie die Historikerin Franziska Davies, Beobachter aus dem Ausland wie André Glucksmann oder Timothy Garton Ash haben über all die Jahre und Jahrzehnte immer wieder vor Putin und einem aggressiven Russland gewarnt. Sie und viele andere. Aber Steinmeier war einfach blind.«

Tja, und nun ist die Milch (endlich!) verschüttet, wie man im Polnischen sagt, wenn man ein unumkehrbares negatives Ereignis meint, das aber in diesem Fall positiv verstanden werden soll. Ein deutscher Intellektueller hat das gesagt, was viele Deutsche nicht hören oder in den kritisch reflektierten Essays ost- und ostmitteleuropäischer Autoren, auch von Emigranten dieser Provenienz, nicht lesen wollten. Václav Havel warnte Deutschland schon 2007 vor dem Nord-Stream-Projekt und vor allem davor, mit Russland und Putin über die Köpfe der Polen hinweg Geschäfte zu machen.

Auch ich werde meine eigenen Erfahrungen mit deutschen Schriftstellern aus Ost und West nicht vergessen, denen ich schon vor gut zwanzig Jahren erzählt habe, dass Russland in der Lage sei, die Ukraine und sogar die baltischen Länder und Polen und vielleicht auch Deutschland anzugreifen. Sie hörten sich meine Argumente völlig ungläubig an und sahen mich an, als sei ich verrückt. Erst nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine erinnerten sich einige Kollegen an meine Worte der Kassandra, die ich nie sein wollte und auch gar nicht sein konnte ‒ ich schöpfte ja nur aus dem polnischen Gepäck der historischen Erfahrungen mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion, eines imperialen und autoritären Staates.

Der Westen versteht die polnischen Sorgen im Zusammenhang mit Putins imperialem Denken bis heute nicht, obwohl er behauptet, sie am 24. Februar 2022 endlich verstanden zu haben. Aber das ist nicht der Fall. Niemand im Westen werde sein bequemes Philosophieren und Caféleben im schönen Paris oder im schönen Frankfurt am Main im Namen der Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine aufs Spiel setzen, schrieb ich in meiner jüngsten deutschsprachigen Essaysammlung Schwarze Servietten auf meinem Herzen. Aus den Leben der Kosmopolen. Und Ostdeutschland? Viele Ostdeutsche scheinen den Glauben an Demokratie vorerst verloren zu haben ‒ zurzeit sieht es zumindest stark danach aus. Aus vielen ehemaligen Dissidenten oder Demonstranten, die im Oktober 1989 in Leipzig auf die Straße gingen und gegen das DDR-Regime protestierten, sind Stalinisten und Putinisten geworden. Für den hybriden Krieg Russlands gegen den Westen sind also solche Parteien wie die AfD oder BSW oder PiS oder Fratelli dʼItalia ein Segen; und geopolitisch betrachtet: auch ein Segen für die BRICS-plus-Staaten, die an Spaltung großes Interesse haben, wie alle zum faschistoiden oder linksradikalen Autoritarismus neigenden Regierenden.

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Man kann Martins kritische Gedanken zu den deutsch-deutschen Geschichtsverstrickungen nach der Wende und zur Mythologisierung der eigenen Geschichte des Jahres »1989« natürlich fortsetzen, da gibt es noch vieles aufzuarbeiten, doch eine Sache erscheint mir bei dieser deutsch-deutschen Kritik aus dem Mund des deutschen Autors am wichtigsten: seine glasklare These, dass die bundesrepublikanische Politik mitverantwortlich für das kriegerische Blutvergießen in der Ukraine sei, denn Russland habe man ja all die Jahrzehnte mit Milliarden Euro fürs Gas gefüttert und bei dieser Fütterung in Deutschland und woanders wirtschaftlich profitiert, gab es doch dann ausreichend billige Energie. Martin schreibt in seiner Rede, die man auch auf WELT-online nachlesen kann: »Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern ›eine Brücke‹ ‒ Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 (gerichtet an den Bundespräsidenten, Anm. des Autors) ‒, als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte, und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her. Und wiederum war mit beträchtlicher Arroganz überhört worden, wie hellsichtig in Osteuropa gewarnt wurde. Und es ist auch das bedrohte Osteuropa, das die Folgen zu tragen hat – in der nächsten Zeit überdies womöglich sogar ohne amerikanischen Beistand.« Übersetzt gesagt: Deutschland müsse sich von seinen Lebenslügen befreien, und es ist nun ganz natürlich, dass Martin in seiner kritischen Rede auch davor nicht kneift, die Mitschuld an dem russischen Krieg gegen die Ukraine solcher verfehlten Politik seiner Landsleute zu attestieren, sagt er doch zum Schluss seiner Rede: »wie wäre es dann gleichzeitig mit einer Debatte zu jenem Erkenntnis-, Handlungs- und Ehrlichkeitsdefizit West, das es doch ebenso einzugestehen und zu überwinden gelte? Und zwar nicht als rein rhetorische Bußübung, sondern als notwendiger Abschied von gesamtdeutschen Lebenslügen und Verdrängungen, denn diese kosten anderswo, ganz konkret und fürchterlich, Menschenleben.«

Das ist alles kein harter Tobak, sondern die bittere Realität. Bis 1970, aber auch noch bis 1980, als die Streiks in Danzig begannen und Solidarność entstand, mochte die »Ostpolitik« Willy Brandts, deren Mitschöpfer u. a. Egon Bahr war, auch gut funktionieren, sie hatte auch Früchte getragen, die Friedensverträge mit Warschau und Moskau von 1970 legen davon ein Zeugnis ab. Auch der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für jüdische Opfer des Nationalsozialismus in Warschau ist als symbolischer Akt der Reue und des Versöhnungswillens unvergesslich geblieben.

Doch dann geschahen Dinge in der alten BRD, die den Freiheitsdrang der Polen, zumindest aus der Perspektive der damaligen westdeutschen Politik, vor allem der Sozialdemokraten, in einem zwiespältigen Licht erscheinen ließen. Helmut Schmidt zum Beispiel sagte 1981 in einem Interview für die New York Times, dass der Westen die Teilung Europas in Jalta anerkannt habe und dass jedweder Versuch, diesen Status Quo zu ändern, auf die Provokation eines Weltkriegs hinauslaufen würde. Auf den ersten Blick könnte man sagen: Das ist wahre Realpolitik, Bravo! Und der General Jaruzelski, der am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht einführte, mutierte in dem damaligen politischen Feuilleton der Westdeutschen zu einer shakespeareschen Figur, also einer tragischen Gestalt, die doch nur versuche, Schlimmeres zu vermeiden (man möge hier nur die Beiträge von Theo Sommer in der ZEIT lesen).

Die Angst vor dem Einmarsch der Sowjets in Polen wie auch die Angst vor dem Dritten Weltkrieg (die heute zurückgekehrt ist, aber dazu später) kennen wir Polen aus dieser Zeit auch, aber darum geht es nicht. Es geht stets um eines: um die Auslegung des Irrationalen und Rationalen in der Politik, weil diese Auslegung immer wieder Ambivalenzen hervorbringt, wie wir es am Beispiel der deutschen »Ostpolitik« sehen. Und der polnische Publizist jüdischer Herkunft Leopold Unger, der Autor der Pariser Exilzeitschrift Kultura, der seine Beiträge aus Brüssel schickte (wo er zu Zeiten des Kalten Krieges lebte), bringt es mal wieder auf den Punkt, was solche Ambivalenzen in der Auslegung des Irrationalen und Rationalen betrifft, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Geschichte.

In seinem Kultura-Text Deutschland, Deutschland! von 1982 schreibt Unger kritisch über Schmidts Äußerungen zum in Jalta kreierten Status Quo für das damalige, in zwei politische Blöcke geteilte Europa: »Herr Schmidt kennt die Geschichte schlecht. Es ist beschämend, ihn daran zu erinnern. Nur ganz kurz: (l) In Jalta ging es nicht um die Teilung Europas. In Jalta versprachen die drei Männer Polen freie Wahlen und eine demokratische Regierung. Roosevelt äußerte sich zuversichtlich, dass diese Wahlen ›so tadellos wie die Frau von Cäsar‹ sein würden, Molotow versprach, dass sie spätestens in zwei Monaten stattfinden würden, und Churchill fügte hinzu, dass man dem Wort von Herrn Stalin absolut vertrauen könne. 2) Polen ist der Sieger in einem Krieg, der von Deutschland verschuldet wurde. Da Jalta das Ergebnis des Krieges ist, tragen die Deutschen die Schuld an Jalta, und anstatt über den Status quo zu reden, sollten sie alles, was in ihrer Macht steht, tun, um diesen Status zu ändern, auf jeden Fall sollten sie aufhören, die Polen dafür zu stigmatisieren, dass sie sich in diesem Status unwohl fühlen.«

Wird die Ukraine heute nicht auch stigmatisiert? In bestimmten westlichen Kreisen? Aus Angst vor dem Dritten Weltkrieg? Das sind die Fragen, die man sich heute wieder stellen muss.

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Ich finde es ermüdend und ganz gewiss auch absurd, dass ich 2024 immer noch in diesem alten »Kabuff« der deutschen und europäischen Geschichte herumwühlen und nach Antworten suchen muss. Seit 1989 müssen wir uns in Europa mit Deutschland weiterhin intensiv beschäftigen, was wir bereits seit 1914 tun. Also eine sehr lange Zeit. »1989« war damit nicht nur ein Tag der Freude, weil die kommunistischen, moralisch durch die Sowjetisierung depravierten Regime beendet wurden, sondern auch ein Tag der Sorge und der Zweifel, ob die deutsche Vereinigung funktionieren und die Welt dadurch wirklich sicherer werden würde.

Aus dieser Perspektive konnte sich die deutsche Politik allerdings nur selten die Welt anschauen, und wie man heute sieht, scheint das der eigentliche Fehler gewesen zu sein: Die Unfähigkeit Deutschlands, und zwar trotz der großartigen und beispiellosen Verarbeitung der Verbrechen des Dritten Reiches (Stichwort: Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main), eine Ostpolitik zu betreiben, die die ehemaligen kleinen Ostblockländer des Warschauer Paktes wie Polen, Tschechien, Slowakei oder Ungarn, die allesamt den größten Beitrag zum Mauerfall geleistet haben, bei allen Bemühungen um Frieden mit Russland vollständig mitberücksichtigt hätte. Das war, wie gesagt, leider nicht der Fall, und der heutige Rechtsruck, der auch in Polen stattgefunden hatte, hat seinen Ursprung zum Teil in dieser sehr einseitigen, auf die Zufriedenheit Russlands vorrangig ausgerichteten Versöhnungspolitik, die unter der Bodenfläche eben eine Politik der Suche nach preiswerter und damit die deutsche oder die italienische Wirtschaft zufriedenstellender Energie war.

Die Reaktion auf diesen Missstand und dieses Ungleichgewicht der polnischen oder ungarischen Rechtskonservativen war unmissverständlich, und hier, würde man Marko Martins Kritik an seinem Land fortsetzen, müsste man Deutschland in die Pflicht nehmen und sagen: Ja, ihr habt es vergeigt und Öl ins Feuer gegossen, denn für die Rechtskonservativen aus den genannten Ländern war so eine Politik ein gefundenes Fressen und ihre Radikalisierung und zum Schluss Germanophobie die Folge solcher Politik. Das scheinbar rationale Handeln im Westen, denn andere Länder haben hier auch vom russischen Gas profitiert (Italien und Frankreich zum Beispiel, die zu Anfang des Jahres 2024 nach wie vor Importeure von Gas aus Russland gewesen sind), rief letztendlich irrationale Prozesse hervor, die anschließend eine Eigendynamik angenommen haben, welcher wir nun mehr und mehr ausgeliefert sind, wodurch es furchtbar schwer wird, einen haltbaren und dauerhaften Frieden zwischen Russland und der Ukraine herzustellen. Das muss den Regierenden in der EU, hoffentlich, sonnenklar sein. Oder wenigstens ihren Beratern.

Egon Bahrs und Willy Brandts Realpolitik und Ostpolitik, die für sie rationale Gründe hatte ‒ die Vermeidung einer erneuten Konfrontation mit Russland und damit des Dritten Weltkriegs ‒, bewirkte aber irrationale Verhaltensweisen, und diese eben nicht nur in Russland, sondern auch in Polen, Ungarn oder Deutschland. Mich hat es schon immer fasziniert, wie das Tandem Rationales versus Irrationales und umgekehrt die Geschichte lenkt. Das liegt vielleicht daran, dass ich in einem so gut wie vollständig irrationalem Staat aufgewachsen bin, in dem eben Wasser gepredigt, aber in Wirklicht Wein getrunken wurde. Und um eine Utopie zu realisieren, muss man manchmal irrational vorgehen ‒ mit unterschiedlichen Ergebnissen natürlich.

In Jalta wurde Polen, das wissen wir nun von Leopold Unger, betrogen, und auch Milan Kundera wies in seinem famosen und kritischen Essay Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas von 1983 auf diesen Umstand hin, indem er dem Westen durch die Blume Verrat an seinen Brüdern und Schwestern in Mittelosteuropa bescheinigte ‒ heute müsste man die Ukraine zu diesen damaligen Geiseln des sowjetischen Imperiums (und Jaltas!) hinzufügen. Über die Idiosynkrasie dieser Existenz als Geiseln und damit als Garanten für den Frieden (einen faulen Frieden, wie man heute sieht) schreibt Kundera (in der Übersetzung von Cornelia Falter): »Die Polen, die Tschechen, die Ungarn blicken auf eine sehr bewegte, von Brüchen gekennzeichnete Geschichte zurück sowie auf eine Tradition schwächerer und unbeständigerer Staatswesen als die großen europäischen Völker. Eingezwängt zwischen den Deutschen auf der einen und den Russen auf der anderen Seite erschöpften sich die Kräfte dieser Nationen im Kampf um ihr Überleben und um ihre Sprache zu sehr. Nicht imstande, sich ausreichend ein europäisches Bewusstsein nahezubringen, blieben sie der am wenigsten bekannte und zerbrechlichste Teil des Westens, verborgen zudem hinter dem Vorhang von seltsamen und schwer zugänglichen Sprachen.«

Dass Kundera nicht auf dem Holzweg mit seiner These, der Westen behandle seine Brüder und Schwestern stiefmütterlich ‒ auch wegen seiner eigenen Bequemlichkeit und Sicherheit letztendlich ‒, gewesen ist, zeigt der Umstand, wann die Autorin und Historikerin Anne Applebaum für Deutschland und Westeuropa genauso attraktiv wurde wie in den USA oder in Polen, wo sie mit ihrem Mann, dem Außenminister Radosław Sikorski, lebt. Erst musste der Krieg ausbrechen, Russland die Ukraine überfallen, damit Applebaum eine Einladung in die Paulskirche bekam, um in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegenzunehmen. All die Jahrzehnte zuvor hörte sich der Westen die Unkenrufe aus Mittelosteuropa zwar an, nahm sie aber nicht wirklich ernst.

Und Applebaums Bücher, so zum Beispiel Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine (2019), sind ja mittlerweile nicht nur eloquent und unterhaltsam geschriebene Einladungen zum vertieften Studium der zerbrechlichen und komplizierten nationalen Identität der Ukrainer; sie beleuchten auch analytisch, in welcher Lüge oder mit welchen Verdrängungen das sowjetische Regime all die Jahrzehnte gelebt und dennoch prächtig funktioniert hatte ‒ zumindest war der Weg bis zur Glasnost Gorbatschows ein äußerst ermüdender, weil aussichtsloser. Seit Putin an der Macht ist, vor allem seit 2014, als die Krim von Russland übernommen wurde, sind alte Verhaltensmuster aus der Sowjetunion wiederbelebt worden: Ukrainer seien »Faschisten«, heißt es in Putins Kriegsrhetorik, und man erinnert sich an Stalins Propaganda, die auf die freundliche Begrüßung der Wehrmacht durch die ukrainische Bevölkerung im November 1941 anspielte, weil die Ukrainer dachten, die deutsche Besatzung werde nicht so schlimm sein wie die sowjetische; man erhoffte sich sogar Freiheit und Unabhängigkeit, zumal die Erinnerung an »Holodomor«, an die Hungersnot von 1931-1933, der 3,9 Millionen Ukrainer zum Opfer fielen, im Gedächtnis der ukrainischen Bevölkerung weiterlebte. Die Ukrainer hatten sich verrechnet, was sie schnell und leidvoll merkten; die Deutschen begingen in der Ukraine furchtbare Verbrechen, wie in Polen zuvor, und die ukrainischen Juden wurden sofort in den Tod geschickt, etwa 800.000 Menschen. Aber selbst unter Chruschtschow war die von Stalin verursachte Hungersnot in der Ukraine ein Tabuthema. Es gab lediglich Gerüchte, und Gerüchte gab es in Russland schon immer, und so setzen sich diese auch heute fort. Fast automatisch denkt man hier an Nikolai Gogols, des ukrainischen Meisterdichters, der auf Russisch schrieb, Erzählung aus dem Genre des Absurden Die Nase ‒ die täglich auf dem Niewski-Prospekt in St. Petersburg beim Spazieren beobachtet werde, doch könne das wirklich wahr sein? Niemand weiß es genau.

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Apropos Gogol: Der Osten ‒ das war der Raum, wo sich witzige und absurde Geschichten abspielten, und so manch Autor, der genau in diesem Stil eines ums Überleben kämpfenden Schelmen seine Stories und Romane erzählte (wogegen rein literarisch zunächst einmal nichts einzuwenden ist), trug, ohne es zu ahnen, zur Verharmlosung des sowjetischen Imperiums und der durch den Sowjetismus und durch den institutionalisierten Marxismus vulgarisierten marxschen Philosophie bei ‒ und damit auch der Idee der Utopie. Aus dieser Verharmlosung wurde Entertaiment, das den kritischen Blick auf Putins Russland eingeschläfert hatte. Westeuropäische Verlage trugen zu dieser fatalen Entwicklung bei.

Bei allen strategisch-politisch wichtigen Annäherungen an Russland, damals an die Sowjetunion, wurden in all den Dekaden vor 1989 weder die Stimme von Leopold Unger noch von Václav Havel oder Milan Kundera und schon gar nicht von Gustaw Herling-Grudziński, Czesław Miłosz oder wenigstens von Adam Michnik ‒ gelegentlich aber von Leszek Kołakowski, ebenso dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ‒ wirklich ernstgenommen und mitberücksichtigt. Wäre das geschehen, hätte Willy Brandt 1985 bei seinem zweiten Besuch in Polen womöglich Lech Wałęsa doch noch persönlich getroffen ‒ was er aber aus Angst, die russischen Partner, das Regime in Moskau, zu verstimmen, nicht getan hatte.

Die Polen mussten jedenfalls nach 1945 und 1989 für die Deutschen viel Geduld aufbringen, was manchmal durch den Umstand erleichtert wurde, dass die Solidarität unter den Normalsterblichen, den gewöhnlichen Bürgern, immer gut funktioniert hat und bis heute funktioniert. Sagenhaft ist schon all die materielle und psychische Unterstützung, die die polnische Bevölkerung in der Epoche der Solidarność erfahren hat, und ich spreche hier eben nicht nur von Druckerschwärze und Lebensmittelpaketen, die aus Westdeutschland Lkw-weise in die Volksrepublik Polen geschickt wurden, sondern auch vom Engagement eines Norbert Blüm für die Solidarność und ihre Anhänger, wobei hier gesagt sei, dass uns solche Politiker, wie er einer war, heute fehlen (was auch sehr viel über unsere Zeit sagt).

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Anne Applebaum erzählt in ihrer Dankesrede, die sie in der Paulskirche am 20. Oktober anlässlich der Preisverleihung gehalten hat, für polnische Dissidenten ‒ und das weiß sie natürlich ‒ nichts Neues. Genauso wie Marko Martin in seiner Rede desselben Jahres im Schloss Bellevue bei der Jubiläumsfeier zum Fall der Berliner Mauer vor 35 Jahren für die Polen nichts Neues erzählt hat ‒ aber für die meisten Westeuropäer und Deutschen schon. Liest man Anne Applebaums Buch Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine aufmerksam, stellt man fest, dass es vor der russischen Invasion in der Ukraine geschrieben worden ist; doch das Buch liest sich wie ein prophetisches Studium des Irrationalen und Rationalen, eine Art Symbiose von beidem, im Kontext der sowjetischen und russischen Bemühungen in den mehr als hundert Jahren ukrainischer Geschichte, den Ukrainern ihre nationale Identität zu stehlen und eine neue, die richtige nämlich, zu verpassen.

Und wie stellt man in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Irrationalen und Rationalen im Prozess solcher Entscheidungen, die eine ganze Welt aus dem Gleichgewicht heben und bei Millionen von Menschen Leid und Angst verursachen? Und überhaupt: Wenn man vom Völkermord spricht, vom Genozid, so entspringen doch die Gründe für diesen immer einer irrationalen Idee, obwohl sie für die Usurpatoren dieses Genozids als absolut rational und gerecht erscheint, gehe es doch den Tätern um ihr Überleben und um die Wahrheit, die einzige und gerechte Wahrheit. Verpasst man aber einer ganzen Nation die richtige, ihre wahre Identität, muss man doch alle, die sich dagegen wehren, töten. Applebaum schreibt im Vorwort zum Völkermord in der Ukraine unter Stalin (in meiner Übersetzung aus dem Poln.): »Das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren ‒ der Holodomor im Winter und Frühjahr 1933 und die Verfolgung der ukrainischen intellektuellen und politischen Elite in den folgenden Monaten ‒ führte zur Sowjetisierung der Ukraine, zur Vernichtung der ukrainischen nationalen Idee und zur Beseitigung jeglicher Bedrohung für die Einheit der UdSSR durch die Ukraine. Raphael Lemkin, ein polnischer Jurist jüdischer Abstammung und Schöpfer des Begriffs ›Völkermord‹, bezeichnete die Ukraine dieser Epoche als einen ›klassischen Fall‹: ›Es handelt sich um einen Völkermord, der nicht nur die Vernichtung von Menschen bedeutet, sondern auch einer Kultur und einer Nation.‹ Seit Lemkin den Begriff ›Völkermord‹ geprägt hat, hat der Ausdruck einen engeren, mehr juristischen Charakter angenommen. Er ist auch zu einer umstrittenen Waffe geworden, die in politischen Auseinandersetzungen von Russen wie auch von Ukrainern und verschiedenen Gruppen innerhalb der Ukraine verwendet wird.«

Und in ihrer Dankesrede in der Paulskirche heißt es (in der Übersetzung aus dem Engl. von Jürgen Neubauer): »(…) als ich die Geschichte der ukrainischen Hungerkatastrophe erforschte, jener Tragödie, die im Mittelpunkt von Stalins Versuch stand, die Ukraine als Nation auszulöschen, ahnte ich nicht, dass sich diese Geschichte zu meinen Lebzeiten wiederholen könnte oder würde. Doch 2014 wurden aus eben diesen sowjetischen Archiven alte Pläne hervorgeholt, entstaubt und wieder zum Einsatz gebracht.«

Der Pazifismus wird jedenfalls keinen Diktator, der einen Krieg gegen eine ganze Nation führt, stoppen, aber das hat schon der österreichisch-tschechisch-jüdische Schriftsteller Friedrich Torberg behauptet, der nicht ohne für ihn typische Ironie sagte, Hitler habe man nur mit einem gewaltigen militärischen Einsatz »niederringen« können. Ich weiß, dass diese Worte vom »Niederringen« einer fürchterlichen Diktatur, die obendrein einen Krieg gegen eine souveräne Nation führt, fast niemanden trösten werden, zumal heute die Gefahr eines Dritten Weltkriegs größer ist denn je, zumindest seit der Kuba-Krise 1962. Und ich weiß auch, dass es viele Gläubige eines neuen Glaubens gibt, der die Schuld an dem Krieg gegen die Ukraine vorrangig dem Westen, der EU, der NATO und vor allem den USA in die Schuhe schiebt (dass einige Anhänger dieses neuen Glaubens dabei vergessen, wer 1945 Deutschland im Westen Europas befreit und dank des Marshallplans wiederaufgebaut hat, ist schon erstaunlich und beunruhigend; außerdem sind sie in ihrer scharfen Beurteilung der USA ausnahmsweise asymmetrisch, denn für imperiale Aspekte der russischen Außenpolitik sind sie blind und taub, obwohl Russland noch nie gewusst hat, wo seine Grenzen enden). Und ich weiß auch, dass es in Russland solche Menschen gibt, die sich Putin querstellen und für ihren Protest furchtbar leiden und sogar sterben müssen. In letzter Konsequenz ist die Frage die, ob man sich im bequemen, doch verräterischen Appeasement versteckt und damit den Kopf in den Sand steckt, um vermeintlich Frieden zu bewahren, vor allem im eigenen Hause, oder lieber die Ärmel hochkrempelt und kämpft. Denn, wie Applebaum in ihrer Rede in der Paulskirche sagte: »Wer die Zerstörung fremder Demokratien akzeptiert, ist weniger bereit, gegen die Zerstörung der eigenen Demokratie zu kämpfen.« Das ist die größte Gefahr eines solchen Appeasements, von dem hier die Rede ist, und allmählich wird die Neigung zu solch einem Appeasement auch hier und da in Westeuropa deutlich erkennbar, zumindest was einige, allseits bekannte alte und neue politische Strömungen angeht.

Allerdings frage ich mich auch, ob jemand wirklich zum rationalen Denken und Handeln fähig ist ‒ und ich spreche hier nicht nur von Empathie, die dem Verstand, der Ratio, erst seine verdiente Größe verleiht und ihn dann zum Beautiful Mind macht, sondern auch von Logik ‒, wenn er Drohungen ausspricht, die den Einsatz von Atomwaffen einbeziehen, mögen sie auch nur taktischer Natur sein und einige wenige NATO-Basen in Osteuropa, also auch in meiner polnischen Heimat, treffen.

Ich bin 2022 und 2023 in Hiroshima und Nagasaki gewesen und habe gesehen, wozu der Mensch fähig ist: zum Auslöschen jeglichen Lebens, was irrational genug ist. Niemand wird mir die Bilder, die ich dort in den Museen der Gedenkstätten von Hiroshima und Nagasaki gesehen habe und die kurz nach dem Abwurf der beiden Atombomben geschossen wurden, aus meinem Gedächtnis vertreiben können: Ich würde es auch nicht zulassen. Ich muss sie hier nicht einmal beschreiben, diese Bilder ‒ jeder kennt sie aus den Filmen, aus den Zeitschriften und Zeitungen und vor allem aus dem Internet.

Aber was ich beschreiben will, ist die ungeheure Stille, der ich am Ground Zero in Nagasaki gewahr wurde. In ihr einige Minuten verharrend, glaubte ich plötzlich, menschliche Stimmen dieser willentlich entfesselten Entropie zu hören, und sie waren eben nicht nur chaotisch, sondern auch nach einer Ordnung süchtig und zugleich unfähig, ein ordentliches Klagelied einzustimmen, obwohl sie es danach lechzte. Das Chaos und diese Kakofonie waren für mich unerträglich, und trotzdem konnte ich den Ground Zero kaum verlassen ‒ ich konnte den Blick vom Elend nicht abwenden, meinen Gehörsinn nicht ausschalten, weil sich das menschliche Leid in mich hineingebohrt hatte wie ein Parasit, der mich zum Überleben brauchte.

Und als ich dann endlich den Ground Zero von Nagasaki verließ, dachte ich mir unterwegs zum Lunch im chinesischen Viertel, zu dem ich mit meiner Begleiterin und Übersetzerin meines Romans Drang nach Osten Tsuzuko Abe aus Osaka ging: Nein, es darf nicht das Chaos der atomaren Zerstörung im Namen einer Ideologie und des Nationalismus unsere Zukunft werden, sondern die Kommunikation, verehrte Herren Diktatoren, vielleicht doch ganz im Sinne Michel Serres’ oder gar Adornos, also eine subversive und kritische Kommunikation, die dem autoritären Denken jederzeit Paroli bietet und sich selbst nicht im Wege steht.

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Eine Digression muss ich mir zum Abschluss meiner Ausführungen doch noch erlauben, und zwar gänzlich im Sinne der Geopolitik, die die Gefahr eines Dritten Weltkriegs noch einmal in einem etwas anderen Licht darstellt. Vergessen wir also, welche esoterisch-nationale Nahrung Putin und andere ihm verwandte Geister zu sich nehmen: Werke von Alexander Geljewitsch Dugin, Iwan Alexandrowitsch Iljin oder gar Wladimir Sergejewitsch Solowjow, dem Autor von Kurze Erzählung vom Antichrist, in der prophetisch von Weltherrschaft und Gründung einer Union in Europa die Rede ist, damit endlich der ewige Frieden herrschen kann. Für die Liebhaber des Synkretismus im Dienst eines russischen nationalen Messianismus sind solche Autoren natürlich unglaublich wichtig.

Bleiben wir aber auf dem Teppich, entdecken wir schnell gewisse Muster, die uns an die alte Teilung der Welt im Kalten Krieg erinnern. Damals in Ost- und Westblock geteilt, stehen heute die EU-Staaten samt den USA auf der einen Seite und auf der anderen BRICS-plus-Staaten (Brasilien, Russische Föderation, Indien, China, Südafrika und seit Neuestem auch Vereinigte Arabische Emirate oder Ägypten u. a.). Das sind die neuen Antipoden, mag auch Donald Trump, der seine politische Suppe täglich sowohl aus irrationalen wie auch rationalen Ingredienzien kocht, in seinem narzisstischen Autoritarismus nach einer völlig neuen Weltordnung trachten; der neue Ronald Reagan ist er allerdings auf jeden Fall nicht. Er täuscht nur vor, ein Visionär zu sein.

2018 war ich auf Einladung der Sylt Foundation und meiner Freundin Indra Wussow als Writer-in-Residence in Südafrika unterwegs, so nicht nur in Johannesburg und Pretoria, sondern auch in Limpopo. Ich spürte starken Gegenwind, wenn ich mich mit südafrikanischen Intellektuellen über Geopolitik unterhielt, fand es aber nachvollziehbar, dass Südafrikaner trotz aller Probleme mit der Arbeitslosigkeit und der Korruption im eigenen Land dem Westen, den USA und der EU ‒ in ihren Augen und grob gesagt: den ehemaligen Ausbeutern und Tätern in ihrer Heimat, in der die Apartheid ein faschistoides politisches Regime aufgebaut hatte ‒ mit Misstrauen begegnen. Russland und Putin gehören in diesem geopolitischen Spiel zu ihrer ersten Wahl, ihres Erachtens eben als Bekämpfer des westlichen Imperialismus ‒ die Aufnahme Südafrikas in die Staatengemeinschaft BRICS-plus darf also bei solch einem buchstäblich schwarz-weißen Denken nicht verwundern. Was ich aber meinen Gesprächspartnern nicht einmal durch die Blume sagen wollte, weil ich ihre Hoffnungen nicht in Frage zu stellen vermochte, war, dass auch China und Russland in Afrika keine lauteren Absichten hegen, im Gegensatz: Sie „kolonialisieren“ Afrika auf ihre Art und Weise neu.

Als Pole fühlte ich mich zwar für die kolonialen Verbrechen der Westeuropäer in Afrika kaum verantwortlich, aber als Kosmopole schon, wenn auch nur bedingt, hat doch Polen in der Ukraine, in Weißrussland und Litauen seine „koloniale Politik“ mehr oder weniger nach einem archaischen Muster betrieben: Die ukrainischen Bauern betrachtete man im gebildeten und wohlhabenden Warschau wie Menschen zweiter Klasse. Das taten aber auch säkularisierte Juden in Polen oder in Deutschland und Frankreich ‒ für sie war diese merkwürdige Folkloristik der Ostjuden, der Chassidim zum Beispiel, ziemlich fremd. Wie gut, kann man aufatmend sagen, dass es so jemanden damals gegeben hat wie Marc Chagall.

Doch das alles, was ich hier skizziere, ist nur psychologisch von Bedeutung, denn sowohl in Chile wie auch in Südafrika oder auf Kuba oder eben auch in Osteuropa wollen viele nicht mehr als minderwertige Bewohner unseres Planeten dastehen und als solche betrachtet werden ‒ im Vergleich zu den westeuropäischen Dauernörglern, die sich zwischen Warschau und Lissabon nach wie vor vor allem selbst verwirklichen, und klappt es nicht mit dem neuen Yoga-Kurs auf Madeira, wie man es sich vorgestellt hat, kann man immer noch zu den nihilistischen Romanen aus Frankreich zurückkehren und in teuren, Instagram-tauglichen Cafés und Boutiquen die Zeit totschlagen ‒ notfalls auf Kredit. Aber das ist ein anderes Thema.

Interessant ist nämlich in diesem geopolitischen Zusammenhang Barack Obamas Rede, die er im Dezember 2014 an die kubanische und amerikanische Nation gerichtet hat, also in dem Jahr auch, in dem am 18. März die Krim durch Russland übernommen wurde (zunächst einmal von grünen Männchen, die aus dem Nichts kamen und ganz einfach als große russische Patrioten gelten sollten). Ging es in Obamas Rede wirklich nur um ein US-amerikanisches Versöhnungsangebot mit dem kubanischen Volk? Liest man sie heute erneut, versteht man zumindest besser, warum der Redner darin von China und Vietnam spricht, von der Normalisierung der Beziehungen zu diesen beiden Staaten, die doch für Russland potenziell immer als Verbündete in Frage kommen, zumindest mehr als die USA. Jedenfalls hat man den Eindruck, dass Obamas Rede unterschwellig eine Art Versuch ist, dem russischen imperialen Drang ‒ siehe Krim ‒ den Winden aus den Segeln zu nehmen. Die latenten Sorgen des US-amerikanischen Imperiums, der stärksten Militärmacht, einer weltweit führenden Wirtschaft, werden zumindest in dieser Rede heute noch sichtbarer als im Jahre der Annexion der Krim ‒ und wo Russland, das in der Ukraine nach den Bodenschätzen buddeln will, und China und Teheran heute stehen, wissen wir alle.

Ein Gogolscher Epilog anstatt einer kulturgeschichtlichen Analyse der intellektuellen oder merkantilen Korruptheit gewisser westlicher Politiker, die man beim Namen gut kennt …

Nun hat Deutschland zusammen mit anderen westeuropäischen Ländern in den Jahren vor dem russischen Angriff auf die Ukraine viele, sehr preiswerte und schmackhafte Brotlaibe in Putins Russland gekauft, und eines Tages entdeckte der Westen ‒ und insbesondere Deutschland war über diese Entdeckung sehr erstaunt und erschrocken ‒ in einem dieser Brotlaibe Putins Nase. Zunächst war es auch bloß ein Gerücht, als man hier und da hörte, diese Nase gehöre wirklich Putin und gehe im Westen gerne spazieren, um gewisse Recherchen anzustellen ‒ um zu schnüffeln. Man ignorierte aber im Westen dieses Gerücht, und als man entdeckte, dass es kein Gerücht war, sondern bittere Wahrheit, war es schon zu spät: Man konnte sie nicht mehr fangen. Die Nase war nämlich längst zu ihrem Besitzer zurückgekehrt, und diesmal ‒ oh Wunder ‒ passte sie ihm wie angegossen. Komisch, dachten sich viele, aber nicht nur im Westen, selbst ein Gogol darf sich mal irren.

Aber dass sie sich geirrt haben könnten, kam ihnen immer noch nicht in den Sinn. Sie dachten tatsächlich weiter ‒ und sie denken das bis heute ‒, diese Nase sei beherrschbar und werde sich in Dinge, die sie eigentlich nichts anging, nicht einmischen.

Nein, ihr seid auf dem Holzweg. Sie wird es tun, sie wird sich in alles einmischen, diese Nase, und sie ist obendrein, nach wie vor, zu allem fähig. Ihr braucht deshalb, nach wie vor, den osteuropäischen Chor, der die ganze Zeit versucht, euch eure Tragödie endlich verständlich zu machen, damit ihr eines Tages ‒ wie man im Polnischen sagt, wenn man ›das böse Erwachen‹ meint ‒ nicht mit der Hand in einem Nachttopf aufwacht.

Hotel Libertine, Frankfurt am Main, 11.11.-27.11.2024

Letzte Änderung: 16.12.2024  |  Erstellt am: 29.11.2024

Der Autor empfiehlt folgendes Buch und verweist auf die Dankesrede von Anne Applebaum, die hier angehört werden kann.

Anne Applebaum Ansprachen aus Anlass der Verleihung | © Foto: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

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