Stromschnellen im Paradies

Stromschnellen im Paradies

Von Chiang Khong nach Luang Prabang
Szenerie Mekong  | © Michele Sciurba

Nach Jahrzehnten des geopolitischen Tauziehens zwischen kolonialen Mächten und ideologischen Blöcken ist das südostasiatische Laos eines der wenigen verbliebenen kommunistischen Länder in der Welt. Vom Ende des französischen Kolonialreichs über den Indochinakrieg bis hin zur kommunistischen Machtübernahme 1975 spiegelt das Land den blutigen Kampf um Souveränität und die globalen Spannungen des Kalten Krieges wider. In seinem literarischen Essay nimmt Michele Sciurba den Leser mit auf eine symbolträchtige Bootsfahrt entlang des Mekong und zeichnet ein lebendiges Bild der vielschichtigen Verbindungen zwischen Geschichte und Gegenwart – ein kommunistisches Land, das zwischen ideologischer Starre und pragmatischer Anpassung navigiert, tief verwoben in die komplexe Textur Südostasiens.

Opium Höhle, Ausg. 05. Juli 1903 | © Foto: Le Petit Journal

Es gibt Flüsse, die eine Linie ziehen. Eine Grenze. Zwischen Ländern, zwischen Menschen, zwischen Leben und Tod. Der Mekong aber, dieser mächtige Strom, scheint eine Linie zu sein, die Geschichten verbindet – eine Schnur, auf die das Schicksal seine Perlen fädelt.

Er entspringt im tibetischen Hochland, wo Eis und Stein noch unberührt scheinen, wo die Luft so dünn ist, dass sie kaum für eine Geschichte reicht. Aber der Mekong hat Zeit. Über 4.350 Kilometer trägt er sein Wasser durch China, Myanmar, Laos, Thailand, Kambodscha und Vietnam, so als wolle er den Menschen zeigen, dass ein Fluss mehr sein kann als Wasser.

Hier, in Laos, ist der Mekong wie ein Herzschlag. Zwei Tage lang folge ich ihm, von Chiang Khong nach Luang Prabang. Wir fahren mit einem langen Boot, dessen Motor wie ein gleichmäßiges Summen klingt – beruhigend und zugleich rastlos. Der Fluss selbst ist ein Chamäleon: Mal breit und ruhig, ein Spiegel, der den Himmel einfängt, mal schmal und wild, seine Strömung eine zornige Stimme, die sich durch Felsen und Schluchten drängt.

Die Uferlandschaften wechseln sich ab wie Szenen in einem Theaterstück. Schroffe Felsen ragen auf, so alt und unbeweglich, dass sie jede Hektik der Welt lächerlich machen. Dann wieder tauchen Dörfer auf, aus Bambus und Wellblech gebaut, mit Menschen, die still an den Ufern sitzen, ihre Gesichter maskenhaft. Wasserbüffel stehen im Fluss, ihre massigen Körper halb verborgen, als gehörten sie mehr zum Wasser als zum Land.

Bootsfahrt auf dem Mekong | © Foto: Michele Sciurba

Die Schönheit des Mekong ist betörend, doch sie ist kein einfacher Glanz. Sie ist trügerisch. Wie der Fluss selbst – ein Nahrungsspender, ein Lebenselixier, aber auch eine Waffe. Seine Geschichte ist durchzogen von Opiumrouten, vom Handel, der Träume versprach und Albträume brachte. Heute, sagt man mir, sei das vorbei. Opium sei Geschichte, konserviert in Museen. Der Fluss hat eine neue Rolle gefunden, sagen sie.

Doch die Geschichten des Mekong sind noch da, sie kleben an den Ufern, an den Felsen, an den Menschen. In den Augen des jungen Matrosen, der unser Boot an einem Sandufer mit Hammer und Eisenpflock festmacht, sehe ich es. Wie geschickt er sich bewegt, ruhig, fast gleichgültig. Aber seine Augen verraten, dass der Mekong ihm alles bedeutet. Oder vielleicht: alles abverlangt.

Die Felsen im Fluss tragen Betonmarkierungen. Schlichte Quader, die uns warnen: Hier lauert die nächste Untiefe. Hier verbirgt sich der Tod, unter der glitzernden Oberfläche. Der Mekong duldet keine Arroganz. Ein falscher Kurs, ein Moment der Unachtsamkeit, und der Fluss verschlingt dich – dein Boot, deine Geschichte.

Ich spüre den Fluss unter mir, seinen Herzschlag. Und ich spüre die Geschichten, die er erzählt. Sie handeln von Frankreich und China, von Pathet Lao und kaltem Krieg. Sie sprechen von Monarchien, die fielen, und Republiken, die aufstanden, wie Häuser auf sandigem Grund. Von Träumen, die der Fluss selbst nicht zu tragen vermochte, weil sie zu schwer, zu groß waren.

Der Mekong ist Laos. Und Laos ist der Mekong. Ein Land voller Licht, aber immer auch voller Schatten. Ein Paradies, das an seinen Rändern bröckelt, dessen Schönheit uns lockt, einlädt, aber niemals ganz gehört.

Abenddämmerung Mekong | © Foto: Michele Sciurba

Am zweiten Abend, als die Dämmerung den Himmel rosa färbt, sitzt eine alte Frau am Ufer. Sie sieht dem Fluss zu, als hätte sie jede seiner Launen studiert. Vielleicht weiß sie, dass ein Fluss niemals alt wird. Dass er alles sieht, alles mit sich nimmt – und dabei doch immer derselbe bleibt.

Der Mekong flüstert weiter, leise, wie ein Atemzug. Und mit jedem Flüstern erzählt er die Wahrheit: Auch ein Paradies hat Stromschnellen.

Letzte Änderung: 06.01.2025  |  Erstellt am: 06.01.2025

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