Kampf um Syrien

Kampf um Syrien

Türkei strebt Vorherrschaft im Nahen Osten an
Bashar al-Assad in Russia | © www.kremlin.ru

In einer Region, die bereits in Flammen steht, markiert der Vormarsch der Rebellen bis Damaskus einen Wendepunkt in den Machtverhältnissen. Die Flucht Bashar al-Assads nach Russland und der Sturz seines Regimes durch islamistische Rebellen haben ein gefährliches Machtvakuum in Syrien geschaffen. Gruppen wie Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die früher mit Al-Qaida verbunden waren, versuchen nun, die Kontrolle über das Land zu übernehmen. Trotz ihrer Bemühungen um internationale Legitimität bleibt unklar, ob diese Gruppen stabile und inklusive Strukturen aufbauen können. Michele Sciurba wirft einen Blick auf die neuesten Entwicklungen und ihre Hintergründe.

Die Gefahr, dass das Machtvakuum durch konkurrierende Milizen, Extremisten und ausländische Mächte ausgefüllt wird, ist groß. Russland und der Iran, bisher Assads Hauptunterstützer, signalisieren bereits, dass sie sich stärker auf diplomatische Lösungen konzentrieren wollen, um ihre Interessen in Syrien zu sichern. Dieser Konflikt betrifft nicht nur Syrien, sondern auch zentrale Akteure wie Israel, den Iran, die Türkei, Russland und die Vereinigten Staaten. Der syrische Bürgerkrieg hat sich zu einem geopolitischen Stellvertreterkrieg entwickelt, dessen Auswirkungen weit über die Region hinausreichen.

Wer ist Hay'at Tahrir al-Sham (HTS)?

Die islamistische Milizgruppe HTS, einst bekannt als Jabhat al-Nusra, hat sich zu einem zentralen Akteur im syrischen Bürgerkrieg entwickelt. Gegründet als Ableger von al-Qaida, kappte die Gruppe 2016 offiziell ihre Verbindungen zur Terrororganisation und benannte sich in HTS um. Ihr Anführer Abu Mohammed al-Jawlani bemüht sich seither, die Gruppe als pragmatische Alternative zur Assad-Regierung darzustellen. HTS ist eine der effektivsten militärischen Organisationen in Syrien und spielt eine zentrale Rolle bei der Offensive gegen das Assad-Regime. Dabei erhält die Gruppe indirekte Unterstützung von der Türkei. Trotz ihrer Bemühungen, sich von ihrem extremistischen Image zu distanzieren, bleibt die Gruppe in vielen Ländern als Terrororganisation eingestuft.

Rolle der Kurden im Syrien-Krieg

Der plötzliche Rückzug der US-Truppen im Jahr 2019 war ein schwerer Schlag für die Kurden. Ohne die militärische Unterstützung der USA wurden sie anfällig für Angriffe durch die Türkei und islamistische Milizen. Hunderte IS-Gefangene konnten aus kurdischen Lagern fliehen, da die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) ihre Kapazitäten umlenken mussten, um die türkischen Angriffe abzuwehren.

In dieser komplexen Lage bleibt die internationale Reaktion unzureichend: Während die USA wieder gezielte Maßnahmen gegen den IS ergreifen, schweigt die NATO zu den türkischen Angriffen auf die Kurdischen Gebiete, und Deutschland verstärkt die Spannungen durch Waffenlieferungen an die Türkei. Dieser politische Kurs widerspricht nicht nur den Prinzipien westlicher Demokratien, sondern gefährdet auch langfristig die Sicherheit Europas. Die kurdischen Autonomiegebiete in Nordostsyrien sind nicht nur ein Zufluchtsort für zahlreiche Binnenvertriebene, sondern auch ein Leuchtturm demokratischer Selbstverwaltung im Nahen Osten. Sie repräsentieren ein Gegenmodell zu autoritären Regimen und islamistischem Fundamentalismus.

Die Kurden haben im Syrien-Krieg eine bedeutende und vielschichtige Rolle gespielt. Ihre politischen und militärischen Errungenschaften sind ebenso bemerkenswert wie die Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen:

1. Autonomie und Neutralität

Zu Beginn des Bürgerkriegs 2011 hielten sich die kurdischen Kräfte neutral. Ihre Bedingung für eine Zusammenarbeit war die Garantie einer kurdischen Autonomie – ein Angebot, das weder die Regierung noch die Opposition annahmen. Nach dem Rückzug des Assad-Regimes aus den kurdischen Gebieten im Norden Syriens übernahmen die Kurden 2012 die Kontrolle. Assad zog seine Truppen ab, um sie gegen die Opposition einzusetzen, was den Kurden Raum für ihre Selbstverwaltung gab.

Kurdische YPG Kämpfer:innen | © Foto: Kurdish struggle
2. Rojava – Ein Modell für Selbstverwaltung, Frauenrechte und gesellschaftlichen Fortschritt

In den kurdisch kontrollierten Gebieten errichteten die Kurden die autonome Region Rojava. Diese setzt auf Basisdemokratie, Gleichberechtigung der Geschlechter und den Schutz ethnischer sowie religiöser Minderheiten. Araber, Assyrer und andere Gemeinschaften sind in die Verwaltung eingebunden, was Rojava zu einem Symbol für Inklusion macht. Auch wirtschaftliche Reformen, wie der Aufbau von Genossenschaften und die Förderung ökologischer Landwirtschaft, sind Teil des Experiments.

Rojava hat die Emanzipation der Frauen zu einem zentralen Pfeiler seines politischen Projekts gemacht. Frauen besetzen führende Positionen in Politik, Gesellschaft und Militär. Die Gleichstellung der Geschlechter ist nicht nur ein Ideal, sondern gelebte Praxis. Die Frauenselbstverteidigungseinheiten „YPJ“ stehen exemplarisch für diese Entwicklung und sind ein Symbol für Hoffnung und Fortschritt.

Flaggenkarten von Rojava
3. Kampf gegen den Islamischen Staat (IS)

Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten „YPG“ und Frauenverteidigungseinheiten „YPJ“ spielten eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des IS. Mit Unterstützung der USA und anderer westlicher Staaten gelang es ihnen, den IS in weiten Teilen Syriens zu besiegen und internationale Anerkennung zu erlangen. Die Befreiung der Stadt Kobanê wurde zu einem internationalen Symbol ihres Widerstands. 2014 eröffneten die kurdischen Kräfte einen humanitären Korridor, um 20.000 Jesiden vor dem IS-Massaker im Sindschar-Gebirge zu retten.

Wie wichtig der Kampf gegen den IS ist, zeigt auch, dass die USA inmitten des Sturzes von Bashar al-Assads am Sonntag die innerhalb der letzten Monate massivsten Luftschläge gegen den IS in Syrien durchgeführt haben. Laut dem US-Zentralkommando wurden 75 Ziele, darunter Lager und Führungsstrukturen der Terrormiliz, getroffen. Die Operation soll deutlich machen, dass Washington weiterhin entschlossen ist, den IS zu bekämpfen, und gleichzeitig die neue Führung in Damaskus davon abhalten, mit extremistischen Gruppen zu kooperieren.

4. Konflikt mit der Türkei

Die Türkei betrachtet die kurdischen Kräfte in Syrien als Bedrohung. Ankara sieht die PYD als verlängerten Arm der PKK, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird. Militäroperationen wie die Besetzung Afrins 2018 und Angriffe auf andere kurdische Gebiete zielen darauf ab, die Autonomie Rojavas zu zerstören. Die Türkei rechtfertigt diese Angriffe mit Sicherheitsbedenken, verfolgt jedoch klar geopolitische Ambitionen. Während die Türkei die HTS unterstützt, destabilisiert sie die kurdischen Autonomiegebiete. Parallel zum Sturz von Assad setzt die Türkei ihre militärischen Angriffe auf die kurdische Selbstverwaltung fort. Ziel der Angriffe sind nicht nur militärische Stellungen, sondern vor allem zivile Infrastruktur wie Elektrizitätswerke, Weizenlager und medizinische Einrichtungen. Die Angriffe schwächen die kurdischen Gebiete, die bisher das einzige Bollwerk gegen den IS und islamischen Terror sind. Die Rojava-Gebiete sind ein Modell demokratischer Selbstverwaltung im Nahen Osten und für unsere Sicherheit im Westen von erheblicher Relevanz.

v.l.n.r. Vladimir Putin, Ebrahim Raisi, Tayyip Erdoğan | © Foto: www.kremlin.ru

Die jüngsten türkischen Operationen, die Ankara als Reaktion auf einen Anschlag der PKK aus 2023 auf eine Munitionsfabrik rechtfertigt, könnten das empfindliche Gleichgewicht in der Region endgültig kippen. Bereits jetzt berichten kurdische Verwaltungen von chaotischen Zuständen, insbesondere in der Nähe von Gefängnissen, in denen IS-Kämpfer festgehalten werden. Die Gefahr, dass Extremisten die Unsicherheit für Gefängnisausbrüche nutzen, ist real.

Die Türkei nutzt den Konflikt in Syrien, um ihren Einfluss im Nahen Osten auszubauen. Ankara unterstützt die HTS sowie die Syrische Nationalarmee (SNA), um eine islamisch geprägte Regierung in Syrien zu etablieren. Dabei verfolgt sie ihre eigenen geopolitischen Interessen auf Kosten der Stabilität in der Region. Ziel ist ein Sicherheitskorridor entlang der türkischen Grenze, in dem arabische Bevölkerungsgruppen angesiedelt werden sollen, um die kurdische Präsenz zu schwächen.

Karte Kurdische Bevölkerung | © Foto: CIA / Federal Foreign Office
5. Geopolitische Isolation

Obwohl die kurdischen Autonomiegebiete bewiesen haben, dass sie ein zentraler Stabilitätsfaktor in der Region und ein effektiver Schutzwall gegen den islamistischen Terror sind, werden sie anders als bspw. die Ukraine von der internationalen Staatengemeinschaft nicht unterstützt. Ihre Schwächung durch die Türkei untergräbt den Kampf gegen den IS und könnte eine neue Welle des Extremismus auslösen. Neben der militärischen Bedrohung stehen die Kurden unter immensem geopolitischen Druck. Sie müssen ihre Autonomie gegenüber Syrien, der Türkei und anderen Akteuren verteidigen, während sie international weitgehend isoliert bleiben. Die Rolle Russlands und des Irans im Konflikt sowie die Rivalität zwischen den Regionalmächten erschweren dabei ihre Lage.

Fazit

Der syrische Konflikt ist mehr als ein regionaler Machtkampf. Er ist ein Schlüsselmoment für die Zukunft des Nahen Ostens. Die Kurden haben gezeigt, dass demokratische Werte und Gleichberechtigung auch in einer Region voller Konflikte möglich sind. Während sich die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf den Kampf zwischen Assad und HTS richtet, bleibt die Lage in Rojava, den Kurdischen Autonomiegebieten, dramatisch. Die Türkei und islamistische Milizen bedrohen die Errungenschaften dieser autonomen Region. Ein Scheitern Rojavas würde die Rückkehr zu autoritären Strukturen bedeuten. Rojava ist ein Testfall für die Werte der internationalen Gemeinschaft. Ohne klare internationale Unterstützung drohen ihre Errungenschaften zunichte gemacht zu werden. Die Weltgemeinschaft steht vor der Frage, ob sie die Kurden fallenlässt oder endlich auch in ihrem eigenen Interesse Verantwortung übernimmt, um den weiteren Vormarsch von islamischem Terror im Nahen Osten zu verhindern.

Letzte Änderung: 09.12.2024  |  Erstellt am: 09.12.2024

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