Erinnerung an Shoah lässt sich nicht löschen oder verdrängen

Maxim Billers ZEIT-Kolumne Morbus Israel sorgte für viel Aufregung im deutschsprachigen Feuilleton, zumal sie von der ZEIT-ONLINE-Redaktion »depubliziert« bzw. im Internet »gelöscht« wurde ‒ was natürlich faktisch nicht möglich ist; Billers Text kann online weiterhin brav gelesen werden. Und was bewog die Redaktion dazu, den Text von der ZEIT-Homepage zu verbannen? Ihr Kolumnist, bekannt natürlich für seine spitze und vor nichts zurückschreckende Zunge, auch nicht vor Sakralem, knöpfte sich mal wieder einige Deutsche vor und nahm ihren kritischen Umgang mit dem militärischen Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza und im Verteidigungskrieg gegen den Iran und seine Atomwaffenproduktion unter die Lupe. ZEIT-ONLINE-Leserinnen und -Leser fühlten sich beleidigt, der Text Billers sei »menschenverachtend«. Aber seine Kolumne Morbus Israel hat dennoch einen doppelten Boden, denn sie spricht unbewusst das kollektive Erinnerungsproblem an ‒ und die Frage nach der Rolle der Shoah im Konflikt zwischen Israel und seinen terroristischen Feinden.
Juden und Polen haben im Zweiten Weltkrieg Millionen ihrer Leute verloren, und zwar auf grausamste Art und Weise. Im Holocaust, der hauptsächlich im durch die Nazis okkupierten Polen und aus ihrer Hand stattgefunden hat, kamen ca. 3,1 Millionen in Polen lebender Juden um, die dort die größte Diaspora Europas bildeten (und damals eine der größten der Welt), und dann folgte noch die zweite Vernichtung; die Nazis töteten ca. 3 Millionen Polen. Ihre gemeinsame Heimat wurde praktisch ‒ bis auf Krakau, eine der schönsten Städte Europas ‒ dem Erdboden gleichgemacht, und den meisten Deutschen ist dieser Umstand bis heute nicht bewusst.
Die Opferrolle ist den Polen wie auf den Leib geschnitten, schließlich hat das Land unter drei Teilungen durch Preußen, das zaristische Russland und das Habsburger Reich gelitten und musste für mehr als hundert Jahre von der Landkarte Europas verschwinden. Es war dann aber für die Polen, die die meisten Bäumchen in Yad Vashem besitzen, natürlich ziemlich schwierig, als sie das eigene Gesicht, das der ganzen Nation, auf einmal kritisch im Spiegel betrachten, tief in die eigenen Augen blicken und das Gewissen prüfen mussten. Denn nach 1989 wurden solche Texte und Bücher veröffentlicht ‒ nicht nur von Jan Tomasz Gross oder Barbara Engelking und Jan Grabowski ‒, die auch eine dunkle Geschichte der polnischen Opfernation erzählten, die der Täter, die Juden verraten und nicht gerettet haben. Viele Polen können bis heute diese kritische Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit nicht verdauen, und je mehr sie nach rechts rücken, wird der Mythos einer unschuldigen und glorreichen Nation immer größer.
Als ich nun die »depublizierte«, aber im Internet hier und da herumgeisternde ZEIT-ONLINE-Kolumne Morbus Israel von Maxim Biller las, musste ich, obwohl ich natürlich weiß, dass man Äpfel mit Birnen nicht vergleichen sollte, daran denken, wie sich ein Opfer fühlt, wenn ihm plötzlich auch Täterschaft zugeschrieben wird: Denn was Biller in seiner umstrittenen Kolumne an den Pranger stellt, ist die andauernde und an Stärke zunehmende Kritik (obsessive geradezu), die manche Deutsche ‒ »Täterenkel«, wie er in seinem kurzen Text auf eine für ihn typische Weise induziert ‒ am militärischen Vorgehen Israels in Gaza und gegenüber dem Iran üben, weil sie dieses Vorgehen völkerrechtlich bedenklich finden und zu Kriegsverbrechen zählen.
Am 7. Oktober 2023 wurden alleine bei dem durch die Hamas verübten Massaker auf dem Supernova-Festival 364 Personen getötet, und nach den terroristischen Attacken auf die Kibbuzim folgten weitere Todesopfer, insgesamt wurden mehr als eintausend Menschen umgebracht, wobei die Terroristen der Hamas Frauen auf brutale Art und Weise vergewaltigten und ermordeten, und sie verschleppten rund 250 Geiseln in den Gazastreifen. Daraufhin begann Israel systematische militärische Operationen gegen die Hamas, die leider auch einen Kollateralschaden brachten, zivile Opfer unter der Bevölkerung in Gaza.
Juden bzw. Israelis erscheinen nun einigen deutschen Kritikern plötzlich als Täter, auch wenn diese im Auftrag der rechtskonservativen Regierung Benjamin Netanjahus handeln, indem sie militärische Befehle ausführen. Doch aus dem Munde der Nachfahren der Pickelhauben- und Hakenkreuzbindenträger, um in der Rhetorik Billers zu bleiben, kann solch ein Vorwurf eines – »völkerrechtlich« betrachteten – Kriegsverbrechens rechts- und nationalkonservative Israelis richtig auf die Palme bringen. Aber nicht nur sie, wie man es an der »depublizierten« Kolumne sieht.
Die ZEIT hat sich mit dieser Löschung des Online-Textes von Biller (im Print ging er durch) keine Freunde gemacht. Im Prinzip wird diese Löschung vielerorts als Schwäche der Redaktion gedeutet, die doch habe wissen müssen, was für einen Kolumnisten sie engagiert habe ‒ wer Biller bestelle, bekomme auch Biller. Und auch die Kommentare der Leserinnen und Leser der _Morbus-Israel_-Kolumne haben bleibende Spuren hinterlassen: Sie fanden den Text »menschenverachtend« und hasserfüllt, und viele wollen DIE ZEIT nicht mehr abonnieren. Er endet ‒ nach der obligatorischen Beschimpfung der »Täterenkel« im Kontext ihrer völkerrechtlichen Bedenken gegenüber Israel im Krieg gegen den islamistischen Terror ‒ mit einem Witz, der in der Tat zynisch und gar nicht witzig ist: Ein Arzt rät einem israelischen Soldaten, der von seinem Einsatz in Gaza zurückgekommen ist und darüber klagt, dass er vom Töten der Araber die Schnauze voll habe, sein tödliches Werk fortzusetzen – trotz der Therapie. Der Witz wurde vielerorts als »geschmacklos« empfunden und bezeichnet. Aber sei es drum. Biller wundert sich zurecht darüber, dass sich deutsche Israel-Kritiker zwar weit aus dem Fenster lehnten, jedoch bei den Terrorangriffen der Hamas oder dem Mullah-Regime ihr völkerrechtliches Bewusstsein und Empfinden nicht gleichermaßen kritisch einschalten würden; das sei nun Bigotterie.
Denn Billers privater Krieg gegen die Nachfahren der Pickelhauben- und Hakenkreuzbindenträger, die ihm im Wege stehen, weil sie für den Autor ein falsches Israelbild vermitteln würden, ist das Eine ‒ es schadet nicht, wenn gewisse Moderatoren, Politiker oder Publizisten in diesem Land ein wenig auf die Mütze kriegen, damit sie sich vielleicht nicht verrennen, wobei der Zynismus als eine rhetorische Waffe selbstverständlich immer heikel ist, denn er lässt sich immer schnell und leicht einsetzen, um eine Sache effektvoll detonieren zu lassen, in der Öffentlichkeit selbstverständlich ‒ der Kater danach kann aber auch groß sein.
Jedenfalls kann Biller solche Detonationen im öffentlichen Diskurs perfekt ausführen, und viele loben ihn dafür, den dialektischen Liebhaber des Hasses, der jedoch nicht vernichten, sondern heilen soll. Dass dabei mal etwas gehörig schiefgehen kann, ist bei diesem Autor fast schon Programm.
Das Andere ist aber die Einsamkeit Israels, eines Staates, der um sich herum die meisten Feinde der Welt hat, der seit seiner Entstehung ständig mit militärischen oder terroristischen Angriffen rechnen muss, und nur wenige verstehen, dass viele Juden nie wieder in solch eine Situation geraten wollen wie nach dem 1. September 1939. Das wollte Marcel Reich-Ranicki auch nicht, als er nach dem Krieg in der polnischen Geheimpolizei und später für den Auslandsnachrichtendienst tätig war, natürlich unter den Kommunisten, denn er wollte nie wieder in die Rolle des Opfers schlüpfen.
Was würde zum Beispiel Deutschland tun, wenn ihm seit mehr als vierzig Jahren ein Land ständig mit totaler Vernichtung drohen und hasserfüllte Parolen weltweit verbreiten und terroristische Anschläge gegen dieses Land massiv unterstützen würde? Warum helfen die arabischen Länder den palästinischen Flüchtlingen nicht? Und in der Tat: Über den 7. Oktober 2023 und all die anderen terroristischen Anschläge gegen Israel spricht man nicht mehr. Natürlich, man könnte sagen, Kummer ist Israel gewohnt, wie Polen.
Die zweite Zerstörung des Tempels in Jerusalem unter Kaiser Vespasian im Jahr 70 n. Ch. brachte grausamste Vernichtung für die Zivilbevölkerung in dieser Stadt und in Judäa. Kinder wurden regelrecht abgeschlachtet, der Feldherr Titus, Vespasians Sohn, und seine Soldaten kannten keine Gnade. In seinem famosen Buch Jerusalem: Die Biographie von 2011 schreibt Simon Sebag Montefiore: »Titus befehligte vier Legionen mit insgesamt 60.000 römischen Legionären und heimischen Hilfstruppen, die darauf brannten, der trotzenden, aber gebrochenen Stadt den letzten Stoß zu versetzen. Innerhalb der Stadtmauern lebte etwa eine halbe Million hungernder Juden unter verheerenden Bedingungen: Manche waren fanatische Eiferer, andere Freibeuter und Banditen, aber bei den meisten handelte es sich um harmlose Familien, die dieser Todesfalle nicht entkommen konnten. Da viele Juden außerhalb von Judäa lebten – sie waren im gesamten Mittelmeerraum und Nahen Osten zu finden –, sollte dieser letzte verzweifelte Kampf nicht nur über das Schicksal der Stadt und ihrer Einwohner entscheiden, sondern auch über die Zukunft des Judentums und jenes kleinen jüdischen Kults, des Christentums – und wenn man sechs Jahrhunderte weiter schaut, sogar über die Gestalt des Islam.« Diese Reise durch Jahrhunderte auf der Suche nach Heimat dauerte fast zweitausend Jahre …
Apropos Heimatsuche: Neulich, als ich mit einem befreundeten Rabbiner aus Frankfurt sprach, erzählte er mir, dass es nach 1946 für die Juden immer noch schwer gewesen sei, in die USA zu emigrieren, aber wenn man sagte, man käme aus Kielce in Polen, öffneten sie die Türen zum American Way of Life ‒ in Kielce im stalinistischen Polen hat 1946 bedauerlicherweise ein Pogrom stattgefunden, bei dem siebenunddreißig Juden getötet wurden.
Kann man, sollte man die Shoah-Erfahrung »verdrängen«, abstellen, um damit den Konflikt mit den Palästinensern unbefangener angehen und vielleicht gar lösen zu können ‒ ohne permanent an den Holocaust zu denken? Diese Frage ist nicht neu, sie wird aber auch von der polemischen Kolumne Billers Morbus Israel unbewusst in den Ring geworfen. Moshe Zuckermann, Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender, der als Professor für Geschichte und Philosophie zwischen Frankfurt am Main und Tel Aviv pendelt, schreibt in einem auf den 28. September 2021 datierten Brief an seinen Freund Moshe Zimmermann, den Professor emeritus für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem (ich zitiere aus ihrem gemeinsamen und lesenswerten Buch Denk ich an Deutschland … Ein Dialog in Israel von 2023): »Zumindest was mich anbelangt, kann ich den tiefen intellektuell-kulturellen Einfluss nicht leugnen, den der Aufenthalt in Deutschland während meines zweiten Lebensjahrzehnts, meiner Pubertät, auf mich ausgeübt hat. Gleichwohl weist ›Deutschland‹ in unserem Leben auch eine kollektive Dimension auf, die nicht ignoriert werden kann: Selbst dann, wenn man die Shoah (à la Husserl) in Klammern setzen will, gelingt das nicht wirklich ‒ der Elefant befindet sich stets im Raum (schon allein durch die Tatsache, dass man ihn weghaben will und sich vormacht, dass er nicht da sei; das Bewusstsein weigert sich schlicht, mit der Methode zu kooperieren). Ich glaube, Dan Diner hat einmal behauptet, dass bei Verhandlungen mit den Palästinensern über die Lösung des Konflikts die Shoah aus dem Diskurs fernzuhalten sei. Aber das ist nicht wirklich möglich, und zwar nicht nur, weil die israelische Seite die ›Shoah-Erinnerung‹ instrumentell als Argument zu verwenden pflegt, um den vom Zionismus begangenen Weg ideologisch zu rechtfertigen. Der Elefant ist einfach im Raum.« – Und daran wird sich lange nichts ändern.
Mein ehemaliger und erster Verleger aus Bremen sagte mir schon 1990, es werde noch viel Zeit vergehen müssen, bis die Deutschen irgendetwas Kritisches über Israel sagen dürften ‒ sie müssten eigentlich einfach schweigen. Der Elefant werde einfach immer da sein, in diesem deutsch-jüdischen Raum. Das betrifft natürlich auch den palästinensisch-jüdischen Raum und überhaupt alle anderen Räume der friedlichen oder feindlichen Begegnung ‒ übrigens wird es den Palästinensern an dieser Stelle auch kein Trost sein, wenn ich nun einen kurdischen Freund, einen erfolgreichen Geschäftsmann aus Frankfurt, zitieren werde: »Aber wenigstens haben die Palästinenser einen Staat ‒ wir nicht …«
Meine jüdischen Freunde wiederum, die in verschiedenen europäischen Ländern leben und die Netanjahus Vorgehen in Gaza scharf kritisieren (»jetzt machen wir Holocaust für die Palästinenser«) sagen mir, man sehe sie nun als Antisemiten an, worüber sie auch nicht lachen können, haben sie doch ihre Vorfahren, Eltern, Großeltern und Onkel und Tanten, im Holocaust verloren. Meine Freunde gehen sogar so weit, dass sie Netanjahu nicht nur für Kriegsverbrechen in Gaza verantwortlich machen, sondern auch für den Extremismus in der jüdischen Gesellschaft, der zum Attentat auf Jitzchak Rabin geführt habe. Und ein bekannter jüdisch-deutsch-US-amerikanischer Schriftsteller und Publizist sagte mir neulich beim Abendessen in einer klassischen Frankfurter Apfelweingaststätte, er wolle diesen Namen nicht einmal hören, er wolle sich nicht schon wieder ärgern, als wir über Netanjahu sprachen. In Israel herrscht ein jüdisch-jüdischer Krieg ‒ wie in Polen ein polnisch-polnischer ‒, die Gesellschaft ist geteilt, aber er findet in einem Land statt, das im Nahen Osten nach wie vor die einzige Demokratie ist und das von Millionen Menschen abgrundtief gehasst wird. Der Hass, der Israel täglich entgegenschlägt und durch Islamisten geschürt wird, ist gewaltig, und er entlädt sich seit Jahrzehnten in terroristischen und brutalen Anschlägen und Angriffen auf die Israelis und ihren Staat. Die Dimensionen dieses Hasses, der von den islamistischen Terroristen oder den Mullahs in Teheran kommt, sind uns Europäern oft nicht klar. Wie kann man in solch einer Umgebung, in der der Hass gegen Israel vielerorts die tägliche Nahrung ist, überhaupt leben und überleben? – muss man sich normalerweise fragen.
Meine jüdischen, in Europa lebenden Freunde sind übrigens den Deutschen gegenüber auch nicht unbedingt wohlwollend eingestellt, sie kritisieren an ihnen ihre Neigung zum ständigen Belehren, zur Besserwisserei (ein Auszug aus einer typischen E-Mail könnte so lauten: »… danke für Ihre interessanten Ausführungen ‒ leider ist das Problem noch vielschichtiger, worauf ich demnächst eingehen möchte …«), und sie kritisieren ihre tollpatschige Art, ihr geradezu schlechtes, weil Ignoranz ausdrückendes Benehmen, wenn sie irgendwo zu Gast seien und ihre Gastgeber dann als nicht kompetent genug erachten würden, um zum Beispiel gewisse gesellschaftliche Brennpunkte ausführlicher besprechen zu können. Das sind alles keine Bagatellen, aber es ist viel zu kurz gedacht, wenn man aus diesen Gründen glaubt, den Deutschen ihre Pickelhauben wieder aufsetzen und ihre Hakenkreuzbinden zurückgeben zu müssen. Und manche finden das halt beleidigend … Humor hin, Humor her ‒ Zynismus hin, Zynismus her …
Letzte Änderung: 04.07.2025 | Erstellt am: 04.07.2025
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