
Was, wenn die Zukunft Europas längst geschrieben steht – nicht in politischen Weißbüchern, sondern in alten Visionen, rätselhaften Bildern und prophetischen Worten? In seinem neuen Essay nimmt Artur Becker uns mit auf eine Reise durch die Tiefen der europäischen Prophetie – von Hildegard von Bingen über Nostradamus bis zu Alois Irlmaier.
Narrenfreiheit ist ein teures Gut und sollte wohldosiert unter die Leute gebracht werden, und Künstler und Dichter wissen vermutlich am besten, wie wichtig es ist, sich mit solchen Themen zu befassen, die im Allgemeinen als hanebüchen oder ketzerisch angesehen werden, vor allem unter den Philistern oder Szientisten. Kaum einer weiß, womit sich Doris Lessing (1919-2013) ‒ immerhin Literaturnobelpreisträgerin ‒ literarisch am liebsten beschäftigt hat: mit Utopien. Ihr Zyklus »Canopus im Argos: Archive« ist eine in fünf Romanen beschriebene Sci-Fi-Utopie, beziehungsweise handelt es sich bei diesem speziellen Werk um eine ganz andere Vision unserer Vergangenheit und Zukunft ‒ eine andere als die, die uns üblicherweise überall serviert wird; bei Lessing erscheint die Menschheit als ein Produkt einer höheren, in diesem Fall von Frauen dominierten Zivilisation.
Der größte Fehler des Menschen ‒ so verstehe ich Lessing ‒ sei, dass er tatsächlich glaube, eine gradlinige lineare Schöpfung der biologischen Evolution zu sein: einmalig im ganzen Universum, verkürzt gesagt ‒ von einer Ansammlung von Aminosäuren evolviert bis zum menschlichen Hirn im Holozän. Selten kommt der Mensch auf die Idee, dass er vielleicht nicht allein im Weltall existiert ‒ Giordano Bruno wurde für diese ketzerische Idee 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aber auch die Propheten und Hellseher hatten es in Europa nie leicht ‒ von Nostradamus bis Alois Irlmaier (1894-1959), dem Rutengänger, Brunnenbauer und Hellseher aus Freilassing, dessen Prophezeiungen für das Europa unserer Epoche am Anfang des 21. Jahrhunderts besonders treffsicher zu sein scheinen. Tief ist der Brunnen der europäischen Prophetie, in den der fromme und einfache Mann aus dem Berchtesgadener Land geschaut hat. Aber nicht nur er.
Alois Irlmaier konnte schon zu Lebzeiten eine Legende werden, zumindest als lokaler Hellseher, der vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vielen verzweifelten, nach ihren verschollenen Angehörigen suchenden Menschen geholfen hatte, in erster Linie Frauen, die erfahren wollten, was nun aus ihren Ehemännern oder Söhnen geworden war. Aber vielen Zeitgenossen gefiel Irlmaiers hellseherisches Talent nicht: Er wurde 1947 von einem Pfarrer der Gaukelei und des Betrugs bezichtigt, und es kam auch zu einem gerichtlichen Prozess, bei dem er allerdings vom Gericht freigesprochen wurde ‒ trotz widersprüchlicher Zeugenaussagen und irgendwelcher Zahlungsschwierigkeiten, die den einfachen Brunnenbauer plagten; er trug auch Verantwortung für eine Großfamilie. Aber es ist kein Wunder, dass er nicht verurteilt wurde, es wird nämlich berichtet, dass Irlmaier während der Verhandlung den Richter ins Bockshorn habe jagen können. Um die seherischen Fähigkeiten des Brunnenbauers und Rutengängers zu prüfen, habe der Richter den gottesfürchtigen Mann gefragt, ob er wisse, wo sich jetzt seine Frau (des Richters) befinde und was sie jetzt mache. Irlmaiers Antwort hätte eigentlich den Gerichtssaal zum Lachen bringen müssen, denn er antwortete, seine Frau empfange in diesem Moment zu Hause einen fremden Mann und trage dabei ein rotes Kleid. Ein Gerichtsdiener sei prompt zum Hause des Richters losgeschickt worden und habe kurze Zeit später bestätigen können, dass Irlmaier mit seiner Behauptung richtig gelegen habe. Das habe nun den Richter vollends überzeugt, dass der Angeklagte kein Scharlatan sein dürfe.
Und dann heißt es in manchen Berichten, wobei es viele interessante Zeitzeugenaussagen gibt, die schriftlich festgehalten wurden, dass selbst Konrad Adenauer den oberbayerischen Seher eingeladen habe, um sich einen Ratschlag einzuholen, und zwar mehrmals. Das ist alles aber nicht wirklich von Bedeutung, viel wichtiger ist, was der Brunnenbauer aus Freilassing über die Zukunft Europas gesagt hat. Es gibt dazu zahlreiche Bücher ‒ vor allem natürlich bei den alternativen Verlagen, die aus der New-Age- und Esoterikszene der Achtziger und Neunziger hervorgegangen sind und die erkannt haben, was für ein Riesenpotenzial solche Buchpublikationen haben, sowohl ideologisch wie auch merkantil.
Ältere Leser werden sich bestimmt an die Bücher des Publizisten Manfred Dimde erinnern, der bereits in den Achtzigern anfing, Bücher zu Nostradamus und seinen Prophezeiungen zu publizieren ‒ meistens bei Droemer und Hayne, wobei Dimde behauptete, die geheimen Verse des berühmten Sehers endlich entschlüsselt zu haben, und ich erinnere mich an die spannende Lektüre dieser pseudowissenschaftlichen Bücher, die mich in ihren Bann zogen, als ich jung war ‒ übrigens ähnlich wie die Bücher von Erich von Däniken. Dabei wollte ich lediglich erfahren, was uns die Zukunft bringen wird, das Jahr 2000, das Wassermannzeitalter und das 21. Jahrhundert, oder ob es wahr ist, dass vor uns schon andere hochentwickelte Zivilisation existiert haben, womit wir wieder bei Doris Lessings utopischen Romanen angelangt wären.
Heute herrscht auf dem Gebiet der Verschwörungstheorien vor allem der Verlag Kopp, der alles anzubieten hat, was die Seele eines Konsumenten von Verschwörungstheorien begehrt: geheime Gesellschaften, geheime Technologien im Dritten Reich, Präastronautik, Anunnaki (die angeblichen Schöpfer der Menschheit), Reptiloide (die eigentlichen Beherrscher der Menschheit), Zukunftsvisionen, Matrix, »braune Esoterik«, Rechtspopulismus gepaart mit Xenophobie (nach dem Motto: Europa schaffe sich ab) und so weiter ‒ da fand sich auch schnell Platz für Eva Hermann, einst Bestsellerautorin bei Hoffmann und Campe, Hayne und Pendo (sic!), heute eine Art Hohepriesterin in diesem synkretistischen Sumpf aus faschistoider Esoterik, die Kopp bietet. Der Verlag dealt also mit »purer« Wahrheit und entlarvt das Establishment als Betrüger ‒ als Diener der Archonten, um es in der Rhetorik der Gnostik auf den Punkt zu bringen. Und schon ‒ spinnt man diesen pseudoketzerischen Gedanken weiter ‒ landet man in einer postneufaschistischen Sackgasse; passend zu diesen apokalyptischen Büchern aus der Schmiede rechtspopulistischer Esoterik bietet Kopp auch Outdoor-und-Survival-Artikel wie auch Nahrungsergänzungsmittel. Jodtabletten, Gaskocher, Zelte ‒ mon Dieu!
Das alles ist jedoch nebensächlich, denn viel wichtiger ist, dass es einen Autor gibt, der sich seit mehr als dreißig Jahren die Mühe macht, Alois Irlmaiers hellseherisches Werk einzuordnen und für uns brauchbar zu machen ‒ verständlich und analytisch. Er heißt Stephan Berndt und hat bereits in den Neunzigern angefangen, eine riesige Datenbank mit europäischen Prophezeiungen aufzubauen und konstant zu füttern, jedoch mit solchen Prophezeiungen, die auf unsere Epoche abzielen und vornämlich aus den letzten fünfhundert Jahren stammen, also aus der Neuzeit und unserer Gegenwart, wobei Hildegard von Bingens Visionen und noch ältere Quellen berücksichtigt werden. Bei diesen speziellen Prophezeiungen gibt es zwei Motive, die sich bei vielen Hellsehern wiederholen ‒ den plötzlichen Überfall der Russen auf Westeuropa und die dreitägige Finsternis.
Die Datenbank der europäischen Prophetie erlaubte dem Autor, zahlreiche Bücher zu dieser Thematik und zu Alois Irlmaier zu schreiben. Allerdings meidet das deutschsprachige Feuilleton solche Autoren wie Stephan Berndt; so gibt es lediglich eine einzige Besprechung eines seiner Bücher, erschienen 2012 in der Süddeutschen Zeitung, die das Buch »Hellseher und Astrologen im Dienste der Macht. Die geheimen Einflüsse auf Politiker und Herrscher« und seinen Autor selbstverständlich vernichtend kritisiert und im Prinzip in den Boden stampft: als Meinungsmacher und Verschwörungstheoretiker. Das ist aber auch nebensächlich. Viel wichtiger ist nämlich die Frage, was Alois Irlmaier vorhergesagt hat und was sich schon erfüllt haben könnte ‒ und das ist schon beunruhigend und zugleich inspirierend, was eine mögliche Gestaltung unserer europäischen Zukunft angeht.
Natürlich, man könnte sagen: alles dummes Zeug, und man erinnert sich in diesem Kontext sogleich an das Buch von Karl Jaspers »Strindberg und Van Gogh: Versuch einer Pathographischen Analyse. Unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und Hölderlin« von 1926. Emanuel Swedenborg (1688-1772), der schwedische Theosoph, behauptete, das Jenseits regelmäßig bereist zu haben, was er in seinen Aufzeichnungen »Himmel und Hölle« dokumentiert hat. War er schizophren? Oder hat er wirklich die Verstorbenen und ihre Welten besucht? Bei Swedenborg spielen Korrespondenzen eine wichtige Rolle: Die jenseitigen Landschaften und Räume entsprechen der geistigen Verfassung der Verstorbenen. Ist jemand ein Mörder gewesen, so wohnt er im Jenseits unter seinesgleichen, aber in einer kargen und menschenfeindlichen Landschaft, in engen und hässlichen Räumen. Die Reihe der Künstler und Dichter, die Swedenborg mit seinen Ideen zum Aufbau der jenseitigen Welten, Sonnen und Planeten beeinflusst und inspiriert hat, ist ungeheuerlich lang und exquisit ‒ von Goethe bis Joseph Beuys. Was will man mehr?
Und war Friedrich Hölderlin ein Prophet der Moderne? Als Opfer seiner psychischen Erkrankung und der Zwangsbehandlung am Universitätsklinikum in Tübingen? Seine psychische Krankheit und das Ausloten der Grenzen, die nur ein Individuum überschreiten kann, korrespondieren bereits mit den Ideen des Existenzialismus und Nihilismus ‒ einerseits; andererseits zeigt er uns, wohin die Reise mancher Dichter im 20. Jahrhundert gehen wird: nämlich ontologisch in ein Niemandsland, in dem gescheiterte und gesellschaftsmüde Geister, Outlaws, leben und bis an ihre Grenzen gelangen, was die Ohnmacht vor dem Tod und der Sinnlosigkeit des Konsums in einer Wohlstandsgesellschaft angeht; auch die Ohnmacht gegenüber einer Diktatur wird in dieser Dichtung thematisiert ‒ das Individuum wird zum unbedeutenden Rädchen der Weltgeschichte. Die Beatniks liebten nicht nur den prophetischen Dichter William Blake, sondern auch Hölderlin. Der Ideenhistoriker und Autor Matthias Bormuth schreibt in seinem Vortrag »Krankheit und Erkenntnis – Überlegungen nach Karl Jaspers« von 2019 (in Nr. 213 der Oldenburger Universitätsreden): »Walter Müller-Seidel prägte – auch in Nachfolge von Jaspers – den Begriff der ›Epochenverwandtschaft‹ für Romantik und Moderne. Er betonte deshalb im Horizont Hölderlins, dass für beide Zeiten die Krankheit als ›Mittel der höheren Synthesis‹ gelte. Entsprechend heißt es – angelehnt an die existenzphilosophische Terminologie von Jaspers – in seinem Porträt des Dichters: ›Hölderlins geistige Situation ist in mehrfacher Hinsicht, wie oft in der Moderne, eine Grenzsituation.‹«
Kannte Hölderlin das gnostische Geheimnis der Herkunft der Menschheit ‒ in seiner prophetischen und psychischen Grenzsituation eines Wanderers zwischen den Welten? Der Mensch ‒ sollte er doch eine verlorene und gefallene Seele sein, deren wahre Heimat die Hesperiden sind? Der Garten der goldenen Äpfel, der unsterblichen Seelen also? Ist dann die geistige Evolution nichts weiter als Rückkehr zum Ursprung des Daseins, das »göttlich« ist, weil es vom unsterblichen Bewusstsein, einem empathischen und uneigennützigen Logos, geformt wurde?
War also Irlmaier auch psychisch labil? Woher kommt die Gabe des Hellsichtigen, des Hellseherischen, der Prophetie? Wo öffnet sich dafür der tiefe Brunnen, aus dem man nach Belieben Informationen zur Zukunft schöpfen kann, der individuellen und der kollektiven? Meistens sind es sehr gläubige Menschen, die solche prophetischen Visionen haben, wie zum Beispiel der italienische Pater Pio, der berühmte Kapuziner und Ordenspriester, der sogar heiliggesprochen wurde.
Irlmaier hat ebenso ein bescheidenes Leben geführt, und seine Kernaussagen bezüglich unserer Zukunft in Europa verlieren langsam an ihrem prophetischen Charakter, da sich vieles schon erfüllt zu haben scheint ‒ bis auf noch wenige wichtige Ereignisse. Der Brunnenbauer aus Freilassing sagte voraus: »Zuerst kommt ein Wohlstand wie noch nie. Dann folgt ein Glaubensabfall wie nie zuvor. Darauf eine noch nie da gewesene Sittenverderbnis. Alsdann kommt eine große Zahl fremder Leute ins Land. Es herrscht eine hohe Inflation. Das Geld verliert mehr und mehr an Wert. Bald darauf folgt die Revolution. Dann überfallen die Russen über Nacht den Westen.«
Wenn man so will, sind wir in unserer Gegenwart an dem Punkt angelangt, an dem die Rede von hoher Inflation ist. Ich erinnere mich noch an weitere Vorhersagen Irlmaiers, die die Zeit unmittelbar vor dem Überfall Westeuropas durch die Russen erfassen: Es werde ein Krieg im Nahen Osten ausbrechen ‒ zwei riesige Marineverbände stünden sich plötzlich gegenüber ‒, und überall würde man hören: »Alles ruft Frieden, Shalom, da wird es passieren«, so Irlmaier. Der eigentliche Funke werde aber auf dem Balkan fallen. Und vor dem Einmarsch der Russen werde Paris von revoltierenden Menschen angezündet und zerstört, und es werde auch in Italien schreckliche Unruhen geben, in Deutschland werde es allerdings glimpflicher zugehen, vor allem in München und ganz Bayern (na, da hat Irlmaier seinen Patriotismus wohl etwas missbraucht, die Heimat wird verschont …). Dann würden drei Attentate auf sehr hohe Persönlichkeiten (»drei Hochgestellte«) passieren, und kurze Zeit später würden die Russen in drei Keilen Westeuropa überfallen. Zeitpunkt? Kurz nach der Ernte … Irlmaier: »Ich seh‘s ganz deutlich …«
Man fragt sich natürlich, wie wollen die Russen so schnell an den Rhein kommen? Denn bei Irlmaier heißt es, die russischen Soldaten bräuchten nur wenige Tage, um vor Köln zu stehen. Polen wird sich einfach ergeben? Das kann man sich nicht vorstellen. Doch der Krieg werde nicht lange dauern, und der Russe werde besiegt, nach etwa drei-vier Monaten sei der ganze Spuk vorbei ‒ allerdings mit vielen Opfern und viel Zerstörung! Sichere Orte? Wird es überhaupt welche geben? Frankfurt am Main sei kein sicherer Ort ‒ östlich des Rheins und nördlich der Donau gebe es praktisch keinen sicheren Ort, alles werde zerstört, die fliehenden Zivilisten getötet.
Doch der Westen werde die Russen besiegen, indem er ihnen den Nachschub abschneiden werde ‒ von Prag bis zur Ostsee werde von unbemannten Flugzeugen (Drohnen gab es zu Lebzeiten von Irlmaier nicht …) eine giftige Wolke auf einen breiten Streifen herablassen, und wer versuche, diesen Todestreifen zu überqueren, werde sofort tot umfallen. Die gute Nachricht ist jedoch, dass es ‒ laut der Analyse der europäischen Prophezeiungen, die Berndt durchgeführt hat ‒ keinen Atomkrieg in Europa geben werde. Die Niederlage Russlands werde aber vor allem dadurch besiegelt, dass urplötzlich eine dreitägige Finsternis die Menschheit überraschen werde ‒ und Irlmaier rät, bei geweihten Kerzen und geschlossenen Fenstern und Türen im sicheren Versteck die zweiundsiebzig Stunden abzuwarten, danach werde die Welt wie neugeboren aussehen. Heute würde man sagen: Kommt es während dieser dreitägigen Finsternis zu einer Umpolung? Oder gerät unser Planet in den giftigen Schleier eines Riesenkometen?
Jedenfalls werde es nach diesem kurzen Krieg und der globalen dreitägigen Finsterns mehr Tote als in den beiden Weltkriegen geben, und das Klima werde in unseren europäischen Breitengraden viel milder und wärmer werden …, für die Orangen und Zitronen ausgezeichnet. Deutschland wiederum werde eine kulturelle Renaissance erleben, und unsere Demokratien würden durch Monarchien ersetzt werden ‒ für kurze Zeit würde man in Europa auch die Apostasie stoppen, und obwohl man im Zuge der Unruhen und der Revolte im Vatikan für die Priester ein Blutbad errichten würde, würde man wieder zum Urchristentum zurückkehren und den Glauben an Christus hochhalten: nach dieser traumatischen Katastrophe. Im Großen und Ganzen klingt es wie ein wunderbares Märchen, resultierend aus einer Projektion und Sehnsucht nach Frieden und Wohlstand.
Irlmaiers Vision hat jedoch nichts zu tun mit dem in der Esoterikszene erwarteten goldenen Zeitalter, das mit dem Wasserzeitalter kommen und die Menschheit und ihren Planeten in eine höhere Dimension und Bewusstseinsebene katapultieren würde. Es ist auch schade, dass Irlmaier über keine universitäre und theologische Bildung verfügte. Der Brunnenbauer aus Freilassing würde sich wundern, dass er mit seinen Visionen zur Zukunft Europas kein Einzelgänger und Eigenbrötler war. Die Entstehung einer Europäischen Völkerunion hat auch der russische Religionsphilosoph und Dichter Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853-1900) prophezeit, und zwar in seiner »Kurzen Erzählung vom Antichrist« von 1899. Seine Vision ist apokalyptisch und gnostisch, die Menschheit erlebt ein tragisches Ende ohne eine Erlösung: Die Weltherrschaft wird von einem ihr vermeintlich wohlgesinnten Führer übernommen, der aber in Wahrheit der Antichrist ist. Die Europäische Union wäre demnach nichts weiter als ein Instrument dieses Antichristen.
Irlmaier scheint einer der wichtigsten Hellseher des 20. Jahrhunderts zu sein, weil er seine Zukunftsvisionen sehr konkret und inhaltsreich formuliert hat. Aber von steigenden Mieten und schrecklichen Umweltkatastrophen hat schon Madame Buchela (1899-1986) berichtet, auch von Unruhen in den europäischen Großstädten und dem Ende des Wohlstands in Deutschland. Die französische Seherin Marie-Anne Lenormand (1772-1843) hat auch den Brand von Paris kurz vor Beginn des »Dritten Weltkrieges« im Kontext des Angriffs der Russen vorhergesagt: »Barbaren« würden während einer schrecklichen Revolte die französische Hauptstadt anzünden, wobei dieses Ereignis dem Einfall der »Moskowiten« in Westeuropa und Polen vorausgehen würde.
Ich möchte an dieser Stelle keine weiteren Vorhersagen repetieren ‒ es gibt genug Material zum Studieren, gedruckt und online, vor allem natürlich auf YouTube und Social Media, wo sich bekanntermaßen auch viele Scharlatane herumtreiben. Und »dem schlafenden Propheten« Edgar Cayce oder dem Dichter und Trappisten Thomas Merton müsste man eigene Essays widmen.
Denn Prophezeiungen sind dazu da, um uns zu warnen, damit wir Zeit gewinnen und uns besser vorbereiten können ‒ vielleicht sogar in dem Sinne, dass wir versuchen sollten, eine Katastrophe zu vermeiden oder wenigstens etwas abzuschwächen: in ihrer prophezeiten Tragweite. Czesław Miłosz (1911-2004), der polnische Dichter und Nobelpreisträger von 1980, besuchte 1936 seinen in Paris lebenden Onkel Oscar Milosz, seinen litauischen Verwandten, der in Frankreich Diplomat und ein angesehener Dichter war ‒ allerdings ein mystischer und prophetischer, vom Schlag eines William Blakes. Und Oscar Milosz verriet seinem damals noch jungen, aber betörend talentierten Verwandten: wann genau der Zweite Weltkrieg ausbrechen würde, was dann auch tatsächlich eintrat.
In unserer Zeit steht alles auf dem Kopf, wie schon in solchen Epochen, als es zu diametralen Änderungen in der Gesellschaft und in der Wissenschaft kam; wir sind gerade dabei, ebenso die Marschrichtung zu ändern, Ideen, die ausgedient haben, zu erneuern. Und wir brauchen sehr viel Mut und Kraft, um das neue Zeitalter zu kreieren. Deshalb sollten wir die europäische Prophetie nicht sofort in die Schublade mit den Verschwörungstheorien stecken, sondern kritisch beleuchten und prüfen, was und ob sie uns etwas Wichtiges zu sagen hat. Bei Irlmaier kann man sich sicher sein, dass es der Fall ist. Leider.
Letzte Änderung: 18.07.2025 | Erstellt am: 18.07.2025
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