Die faschistoide Apokalypse (Teil 2/2)

Die faschistoide Apokalypse (Teil 2/2)

Gesellschaftsessay
Thomas Draschan, A political romance | © Art Virus Ltd.

Der Faschismus war noch nie die Lösung irgendeines Problems, und vor allen Dingen dann nicht, wenn ihm Millionen Anhänger gefolgt waren. Albert Camus warnte bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg davor, dass wir bloß nicht glauben sollten, dass wir die Geißel des Faschismus für immer und ewig losgeworden seien, nur, weil endlich der Frieden herrsche. In seinem neuesten Essay legt Artur Becker en détail dar, warum wir unser Schicksal weder den rechts- und nationalkonservativen oder linksradikalen Parteien noch fragwürdigen Ideologen, Religionsfanatikern oder politischen Wirrköpfen überlassen sollten.

Ich fühle mich selbst in einem totalitären System wie ein Fisch im Wasser: Schließlich bin ich in der Volksrepublik Polen aufgewachsen, in der das kommunistisch-katholisch-nationalistische Regime über Leichen ging, wenn es brenzlig wurde und für den Status Quo eine Gefahr drohte. Waren aber diese Kommunisten oder katholischen Priester und Bischöfe Faschisten? Weil sie, oft ohne es zu wissen, ein faschistoid-nationalistisches Bewusstsein repräsentierten? Wissen Insekten, dass sie Insekten sind?

Als Jugendlicher habe ich die Schulappelle, die Uniformen, die Schulembleme, die sozialistischen Propagandasprüche in den Städten, das Arbeiterfest am 1. Mai und die Propaganda im Fernsehen gehasst. Und wir hatten das Gefühl, in einem zu jedweder Schandtat fähigen Staat zu leben, der nicht »normal« war, sondern psychisch krank, weil es jeden Tag viele Widersprüche und Absurditäten gab, denen man sich im Alltag kaum entziehen konnte. Die Flucht in die Privatheit war oft die letzte Lösung, während man im Betrieb oder in der Schule zu allem »Ja und Amen« sagte ‒ als treuer Anhänger der Ideologie selbstverständlich. Oder man ergriff die Flucht in den Westen, wollte man nicht im Gefängnis landen.

Worin unterschied sich aber das kommunistische Regime, das eben auch autoritär war, wie ein faschistisches, von solchen Regimen wie das in Chile unter Pinochet oder die Apartheid oder gar der Nationalsozialismus? In der Volksrepublik Polen oder in Ungarn herrschte eine gewisse Liberalität, die es in der DDR, geschweige denn in der Sowjetunion, so nicht gab. Soll man wieder zählen, wo es statistisch mehr Opfer des stalinistischen Terrors gegeben hat? Und sind die Ideologien, wie wir sie aus dem Nationalsozialismus oder dem Stalinismus kennen, wirklich gleich, zumindest in ihrem terroristischen Anspruch, weil jeder, der Kritik an dem einzigen wahren Glauben übt, sofort zum Feind des neuen Menschenbildes wird? Die Aufmärsche der Hitlerjugend und der FDJ ‒ sie verschwimmen in meinem kritischen Bewusstsein oft zu einem einzigen Bild. Ein Meer aus Fahnen, eine Kakofonie der Appelle und Bekenntnisse im Sinne einer einzigen Wahrheit und Parteipropaganda. Das ist das Bild. Und obwohl die Apartheid den Rassismus als Brennstoff genutzt hat, waren ihre Methoden faschistoid, nicht nur im Terror, sondern auch in ihrer Symbolik (!).

Wie verwundert war ich dann, als ich 1985 in den Westen kam, konkret nach Verden bei Bremen, und feststellen musste, dass man die USA 1968 als ein faschistisches Imperium beschimpft hatte und teilweise immer noch so beschimpfte, zumindest in den alten Kreisen der ehemaligen westdeutschen Studentenbewegung. In den USA, nämlich in Kalifornien, lebte im Exil der Dichter Czesław Miłosz, der 1951 aus dem stalinistischen Polen über die polnische Botschaft in Paris in den Westen geflohen war ‒ als frisch gebackener Antikommunist war er für die französische Linke oder Pablo Neruda unbrauchbar. Und ein gefundenes Fressen. Er wurde von ihr permanent angegriffen. Plötzlich fand sich Miłosz unter den Feinden ‒ und Rechtskonservative oder gar Faschisten im Westen dachten, er sei ein guter Mann … Ein Putin ‒ zum Beispiel ‒ nennt die Ukrainer Faschisten, weil in der russisch-sowjetisch-bolschewistischen Geschichte der Faschist eine ganz andere Bedeutung hat als bei uns im Westen oder in Polen.

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Was aber heute Faschismus bedeutet, beziehungsweise der Rechtsradikalismus, definieren sehr kritisch und plausibel zwei Bücher: zum einen Theodor W. Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Nachwort von Volker Weiß, zum anderen Jason Stanleys Wie Faschismus funktioniert, wobei der zweite Autor mir in diesem Jahr in Frankfurt über den Weg gelaufen ist, ausgerechnet in meinem Sachsenhäuser Hotel Libertine (sic!) trafen wir uns, in dem ich wohne und schreibe; vom Zufall kann man hier allerdings nicht unbedingt sprechen, da wir im selben Verlag publizieren.

Stanleys Buch kannte ich schon in der polnischen Übersetzung aus dem Englischen, und wir sprachen im Hotel kurz über den umtriebigen linken Warschauer Verlag Kultura Polityczna, wo das Werk erschien, und den Publizisten Sławomir Sierakowski, der postneolinkes Gedankengut in seinem Verlag und in den linksliberalen Zeitungen unermüdlich und zugleich kritisch der polnischen Leserschaft serviert. Stanley lebt als Professor für Philosophie in New York und ist amerikanischer Autor mit jüdischen und polnischen Wurzeln, und sein Buch beschäftigt sich wirklich nur mit den neuesten faschistischen – postneofaschstischen – Strömungen, die immer die gleichen Muster und Gesetzmäßigkeiten aufweisen. Ihre faschistoiden Charakteristika sind: Teilung der Menschen in Gute und Böse (Gute sind nur wir!, die wir endlich aufräumen ‒ im Namen der Wahrheit), Entmenschlichung des Gegners (!), Mythologisierung der eigenen glorreichen nationalen Vergangenheit, Verfolgung einer großen, eschatologische Züge besitzenden Verschwörungstheorie (seht, hier sind die Lügner, die euch in Wahrheit versklaven) und so weiter. Stanley bringt heutige Beispiele des Faschismus und untersucht die faschistoiden Charakteristika solcher Politiker wie Trump, Putin oder Orbán, er schaut sich die rechts- und nationalkonservativen Parteien an: Front National (seit 2018 Rassemblement National), Recht und Gerechtigkeit (PiS), Fidesz und Fratelli dʼItalia oder eben auch Trump und das heutige Russland.

Nähme man hier aber auch die Gesetze der Scharia (und auch die verschiedenen Arten, diese auszulegen) unter die Lupe, wie es Stanley mit den politischen rechtsradikalen Strömungen unserer Zeit tut, würde man in diesem Fall sofort auf faschistoide Tendenzen stoßen, was auch viele Dogmen anderer Religionen betrifft. Aber wie würde man dann mit den mystisch-synkretistischen Lehren der Weltreligionen umgehen müssen? Mit der Gnosis der Christen oder dem Sufismus, der aus den spirituellen und asketischen Richtungen im Islam erwachsen ist? Ein Meister Eckhardt war doch kein Faschist, eher ein christlicher Buddhist, und die utopischen Romane Canopus im Argos: Archive der Nobelpreisträgerin Doris Lessing hätten ohne den Einfluss des Sufismus gar nicht entstehen können.

Die Menschheitsgeschichte wird in der Gnosis und im Sufismus ganz anders erzählt, als das in der abendländischen Wissenschaft und Geschichtsschreibung seit der Aufklärung der Fall ist, und die beiden mystischen Lehren zeigen eindeutig häretische Tendenzen auf. Eine mehrdimensionale Welt in einem Universum voller Liebe, in dem der Geist eine Evolution durchlebt, um zu seinem göttlichen Ursprung (Bewusstsein!) zurückzukehren, ist nicht unbedingt die Theodizee, die sich der orthodoxe Islam oder das orthodoxe Christentum vorstellen. Vielmehr entsprechen solche spirituell-esoterischen Vorstellungen denen der Quantenphysik, und man sollte hier deren Begründer Max Planck sprechen lassen: »Der Einwand, daß dieser ideale Geist selber doch nur ein Produkt unserer Gedanken ist und daß unser denkendes Hirn schließlich auch aus Atomen besteht, die physikalischen Gesetzen gehorchen, vermag einer näheren Prüfung nicht standzuhalten. Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß unsere Gedanken uns ohne weiteres über je-des uns bekannte Naturgesetz hinausführen können und daß wir Zusammenhänge auszumalen vermögen, die mit eigentlicher Physik überhaupt nichts mehr zu tun haben. Wer da behauptet, daß der ideale Geist nur im menschlichen Gedanken existieren könnte und mit dem Denkenden zugleich aus dem Leben verschwinden würde, der müsste konsequenterweise auch behaupten, daß die Sonne, wie überhaupt die ganze uns umgebende Außenwelt, nur in unseren Sinnen, als der einzigen Quelle unserer wissenschaftlichen Erkenntnis, existieren kann, während doch jeder vernünftige Mensch davon überzeugt ist, daß die Sonne selbst beim Aussterben des ganzen Menschengeschlechts nicht im mindesten dadurch an Leuchtkraft einbüßen würde. Wir glauben an die Existenz einer realen Außenwelt, obwohl sie sich einer jeden direkten Erforschung entzieht. Ganz ebenso hindert nichts, an die Existenz eines idealen Geistes zu glauben, obwohl er sich niemals zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung machen lassen wird.«1

Doch kehren wir zu unserem eigentlichen Thema zurück: Stanleys Schreibstil entspricht jedenfalls seinen klarsichtigen Gedanken, er fasst sich kurz und transparent, ohne Umschweife benennt er richtig die Aspekte des neuen Faschismus, was auch der Unterhaltung während der Lektüre zugutekommt.

Der Faschismus, ähnlich wie der Kommunismus in der vulgarisierten Ausführung, also im institutionalisierten Marxismus-Leninismus (Engels und Mao behalten wir an dieser Stelle im Hinterkopf), hat ja den absoluten Anspruch auf Wahrheitsdeutung und damit eine Mission in der Geschichte, wobei diese messianischen Züge sehr unterschiedlich ausfallen können, vergleicht man sie mit anderen Ideologien und ihren Aspirationen bezüglich ihrer weltgeschichtlichen Rolle, die diese Ideologien spielen wollen. Wie Leszek Kołakowski schreibt, wolle die Rechte den Status Quo bewahren ‒ die Linke ihn stattdessen zerstören. Man kann deshalb kaum von Utopie im Kontext des Faschismus (Ahnenkult!) sprechen, aber sehr wohl im Kontext der Linken. Doch beide Ideologien versprechen populistisch eine soziale und intellektuelle Erlösung von allen bisher ungelösten Problemen, vor allem von Feinden der wahren Frei-heit (!), die nur im Rahmen eines Diktats durch eine Autorität möglich sei (wohlgemerkt, wir sprechen hier von Ideologien und nicht etwa von negativer Dialektik des Neomarxismus in der Ausführung von Adorno und der Frankfurter Schule). Allerdings: Verfolgt man die Idee, eine einzige Wahrheit institutionell zu etablieren und zu installieren, landet man natürlich schnell in einer Diktatur; deshalb haben die Protagonisten der faschistoiden Parteien als erstes immer großen Hunger auf die Gerichte, auf die Verfassung, auf die Gesetze: Sie werden derart geändert, dass die einzige Wahrheit, nämlich die ihrer Partei, endlich regieren darf. Sollte die AfD jemals in Deutschland an die Macht gelangen, was nicht mehr unvorstellbar scheint, wird sie die Verfassung und die Gerichte reformieren, de facto manipulieren, um endlich die vermeintlich verlorengegangene Ordnung der Dinge, die im Prinzip doch einst alle glücklich gemacht hat, wiederherzustellen ‒ für alle Leute, die aber nur ihre Leute sind, ihre Anhänger.

Apropos Populismus: Kommen wir nun zum Anfang dieser Überlegungen zum Faschismus erwähnten Buch Aspekte des neuen Rechtsradikalismus von Adorno zurück; der Frankfurter Philosoph sagt ganz klar, dass der Rechtsradikalismus (und damit Faschismus) ein geeignetes psychisches Terrain für seine Entwicklung und seinen Erfolg brauche. Die faschistische Propaganda spreche gezielt das Unbewusste der potenziellen Wähler und Anhänger an, insbesondere solcher, die in ihrem Denken einen Hang zur Untertanenmentalität verraten. Diesen Gedanken fand ich bei der Lektüre des ansonsten für adornosche Verhältnisse sehr schmalen Werkes absolut überzeugend, denn weder Bildung noch Aufklärung helfen, wenn jemand ganz einfach eine bestimmte Art von Bewusstsein hat, das kritisches Denken ausschaltet oder gar nicht erst in Betracht zieht, das Irrationale aber permanent durchlässt und sogar fördert. Im Klartext heißt das: Manche Zeitgenossen denken, sie seien keine Faschisten, sobald sie sich aber äußern und ihre Ansichten darstellen, bemerkt man bei ihnen und in ihrem Denken sofort faschistoide Merkmale und Tendenzen …, was nur noch grauenvoll ist. Die Hochzeit zwischen Philosophie und Psychologie verdanken wir übrigens dem Philosophen Karl Jaspers, und es ist für mich faszinierend zu beobachten, wie manche Menschen, auch aus meiner nächsten Umgebung, gar nicht über ihren Schatten springen können. Nicht in diesem Leben ‒ sie müssten mehr oder weniger neu inkarnieren und neu anfangen. Sie stehen sich selbst im Wege, weil bei ihnen ein kritisch-epistemologisches Denken durch ungebremste Emotionen, die ihre Psyche und ihr Verhalten beherrschen ‒ und vor allem ihr Denken ‒, gänzlich verhindert wird. Leider kommen solche Individuen auch an die Macht, und sie weisen dann meistens in ihrem Charakter narzisstische Züge auf.

Betrachtet man nun die neuesten Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland, ist das sehr beängstigend, dass ihr Protest gegen die Regierenden (Stichwort: Wir sind die »Anti-Establishment-Partei«), der in bestimmten Aspekten sogar völlig berechtigt sein kann, offenbar nur einen Weg kennt: den des rechtsradikalen Populismus, der sich in dem linksradikalen Populismus sogar teilweise widerspiegeln kann ‒ und umgekehrt auch. Diese Hassliebe der beiden Kräfte kennen wir aber schon seit Langem.

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Seit fast dreißig Jahren nun fahre ich quer durch Deutschland zu Lesungen, um meine Bücher und Texte vorzustellen. Ich mag besonders die Lesungen in »privaten« Räumen, weil sie an die alte Salonkultur des 19. Jahrhunderts anknüpfen, und im Frühjahr 2024 besuchte ich die Buchmesse in Leipzig und las auch dort eines Abends in privaten Gemächern. Nach der Lesung folgte das obligatorische Dinner in einem italienischen Restaurant im Zentrum der Stadt, und ich ließ mich mit meinem Tischnachbarn, einem beruflich erfolgreichen Leipziger, der bestimmt nicht wesentlich älter war als ich, auf ein längeres Gespräch ein: ergo, er hatte das Jahr 1989 und dessen historisch-politische Zäsur bereits als ein erwachsener Zeitzeuge erlebt. Ihn fragte ich, was nun das Geheimnis des Erfolges der AfD in Sachsen sei, ich fragte ohne Vorurteile und zurückhaltend wie ein Publizist, und ich ertappte mich dabei, dass ich meine Frage mit dem gleichen Impetus formuliert hatte, den die Besucher aus dem Westen in den Achtzigerjahren pflegten, wenn sie uns Polen nach dem Erfolg der Solidarność fragten; sie wollten erfahren, was nun die Stärke des Widerstandes gegen das kommunistische Regime ausmache, warum dieser überhaupt für uns so selbstverständlich sei.

Die Sachsen hätten schon immer eine rebellische Natur und Mentalitätsgeschichte, sagte mein Tischnachbar, und sie seien mit der Regierung ganz einfach nicht einverstanden, sie würden ihr misstrauen und seien unzufrieden mit der Politik der Regierenden. Ich kommentierte seine Erklärungen nicht, zumal sie mir mit einer etwas vorwurfsvollen Stimme vorgetragen wurden ‒ nach dem Motto: »Das ist unser Land, lasst uns in Ruhe, wir wollen ganz anders leben … als ihr es uns vorschreibt…«

Ich war eigentlich erschrocken, da diese emotional geschilderte Unzufriedenheit mit dem bundesrepublikanischen Staat für mich kleinbürgerlich und irgendwie weltfremd klang. Auf Bali, in Chile oder in Südafrika leben viele Menschen in Armut, und für die meisten von ihnen sind wir Europäer zwischen Warschau und Lissabon alle reich, zudem genießen wir in Europa solche Freiheiten, die auf anderen Kontinenten unvorstellbar sind, da ihre Gesellschaften in den meisten Fällen weder stabil noch liberal sind.

Eine nicht aufhören wollende Nörgelei und eine diffuse, weil nur für Eingeweihte verständliche Sehnsucht nach einem Leben, das einst viel besser war als das heutige, sind für die faschistoiden Ideologien ein ausgezeichneter Brennstoff. Man könnte den Eindruck gewinnen, hört man sich die Kritik an der Gesellschaft und der Regierung seitens der AfD (oder auch anderer rechtsradikaler Parteien im Ausland) an, die DDR oder die Volksrepublik Polen seien im Vergleich zu der heutigen ‒ vermeintlichen ‒ Bevormundung und Freiheitsberaubung durch unsere westlichen Regierungen und durch den Leviathan Europäische Union Oasen der Freiheit gewesen, was natürlich vollkommen absurd ist.

Und würde man noch einmal Helmuth Plessners Buch Die verspätete Nation aufschlagen und gründlich analysieren, könnte man vielleicht behaupten, dass das preußische Bürgertum, dem Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan ein verheerendes Zeugnis ausgestellt hatte, eine unglückliche Fortsetzung in dem Bürgertum der DDR gefunden habe, die eine offene Gesellschaft kaum erschaffen konnte, was in den benachbarten Ostblockländern ebenso schwierig war, auch in Polen ‒ trotz der Erfolge der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność. Aus dieser explosiv instabilen Epoche sind nun Mythen und Wut auf die Regierenden geblieben ‒ als eine Art Atavismus aus dem Sozialismus ‒, und ein weiteres Ergebnis dieser Verschlossenheit und Idiosynkrasie im Namen einer kommunistischen Ideologie ist eben das Fehlen eines mondänen, weltoffenen Denkens, das zwischen Xenophobie und Xenophilie kritisch unterscheiden kann, auch wenn das Bild von in einer Küche bei einem Glas Wodka diskutierenden Dissidenten und Arbeitern und Intellektuellen von seiner Romantik nichts eingebüßt hat (an solchen progressiven Diskussionen habe ich ja damals selbst teilgenommen).

Aber die psychische kollektive Vergewaltigung des Bürgertums im Ostblock durch die Sowjetisierung, durch den vulgarisierten Marxismus also, darf doch nicht ständig für eine Erklärung des Rechtsrucks, des Rechtsradikalismus, herhalten. Und da wäre ja noch in diesem Zusammenhang ein anderer komplizierter Fall zu betrachten ‒ der Rechtsradikalismus in Polen oder Italien hat zwar ähnliche Charakteristika, die historische Ausgangslage ist in diesen Ländern allerdings komplett anders als in Deutschland. Die Täter- und Opferfrage hat in Polen und Italien eine ganz andere Konnotation: Der polnische Faschismus, sofern man von der National-Demokratischen Bewegung und Partei Endecja von Roman Dmowski überhaupt in dieser Weise sprechen kann, wird mit dem Überfall Polens durch Nazi-Deutschland am 1. September 1939 beendet, und in meiner Heimat wird die größte Widerstandsarmee Europas gegründet, die Armia Krajowa, die Landesarmee. Italiens Faschismus, für Hitler ein Vorbild, wird zwar erst 1945 sein Ende finden, aber immerhin hatten die Italiener im Westen die größte Partisanenbewegung aufgebaut, die Resistenza ‒ in Polen waren es etwa 350.000 und in Italien zwischen 200.000 und 250.000 Partisanen.

Aber was tun mit solchen Ländern, die in ihrer Geschichte mit dem Faschismus im Prinzip gar keine Erfahrungen gemacht haben? Auf eigener Haut sozusagen? Die jedoch heute mit faschistischen Tendenzen in der Politik, in der Gesellschaft zu kämpfen haben? Was tun also, wenn man nach dem Rechtsradikalismus der US-Amerikaner fragt, der im Trumpismus seinen vorläufigen Höhepunkt findet? Bedeutet das, weil es sich hier um die größte Demokratie der Welt handelt, dass der Faschismus nicht nur weltweit eine Renaissance erlebt, sondern auch solche Staaten erobern will, die ihn eigentlich immer bekämpft haben? Und wie kann es angehen, dass einige wenige Personen auf diesem Planeten so unvorstellbar reich sind, dass sie einen Mikroblogging-Dienst-Riesen einfach kaufen können ‒ wie das der Fall bei Twitter war ‒, um anschließend Milliarden von Menschen eine einzige Weltsicht unterzujubeln, auf diese Weise also gänzlich und massiv, weil mit Hilfe modernster Technologien, gegen das holistische Denken und gegen die Philosophie von Henry Bergson vorgehend, dem es um eine multiperspektivische Betrachtung aller Entwicklungen im Kontext unserer Zivilisation ging? Fragen über Fragen, die nur schlaflose Nächte bereiten können.

Wir im Westen betrachten sehr kritisch die chinesische, postneo-kommunistische Gesellschaft, in der die Bevölkerung in der Diktatur eines Punkte- und Kameraüberwachungssystems leben muss ‒ unsere westlichen Regierungen sind allerdings selbst imstande, modernste Technologien anzuwenden, um über ihre unbequemen Gegner Kontrolle auszuüben. Die Spyware Pegasus ist überall bekannt. Die Liste der Länder ‒ weltweit ‒, die diese Auspioniersoftware (vermutlich) benutzen, ist gewaltig, und mich hat es schon immer fasziniert, warum der Staat so gerne unter unsere Teppiche, Bettdecken und in unsere intimste Korrespondenz einen dreisten Blick wagt, auch in den westlichen Demokratien, wie das beim Pegasus der Fall ist.

Aber mein guter Freund Janusz aus Venedig, der Komponist und Musiker ist und praktisch als Mathematikgenie und Autodidakt im Bereich der Programmsprache Common Lisp im Alleingang seine eigene Komponistensoftware Opusmodus entwickelt hat, erzählt mir manchmal Sci-Fi-Geschichten, die schon bald Realität werden dürften. Es geht natürlich um die Zukunft der KI ‒ können Sie sich vorstellen, wie ein Rechtsradikaler zusammen mit dem Avatar von Adolf Hitler in seiner Wohnung sitzt, mit seinem erlauchten Gast zu Abend isst und über die schlimme weltpolitische Lage und die bösen Flüchtlinge, die Ingenieure aus Syrien, über die dämonischen Kräfte, vor allem über die Juden und die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, herzieht und dabei ein Bier trinkt und seinen besten Freund nach Lösungsvorschlägen fragt? Auch der Faschismus wird die KI nutzen und für seine Zwecke einsetzen.

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich ein Katastrophist bin, wie einst vor dem Zweiten Weltkrieg der polnische Dichter Czesław Miłosz, der ähnlich wie sein Landsmann Witkacy, der geniale Maler und Prosaist, die kommende Katastrophe des Zweiten Weltkrieges vorausgeahnt hat: den Zusammenbruch Europas und der Aufklärung, den Sieg des kalten Verstandes. Ich bin auch kein eifriger Leser des Vorzeigenihilisten Emil Cioran, des Autors von Auf den Gipfeln der Verzweiflung, der in seinem ontologischen Pessimismus unbesiegbar und zugleich selbst für Suchende und Verzweifelte äußerst attraktiv ist. Aber dennoch muss ich katastrophistisch feststellen, dass wir in Europa die Türen für den Faschismus sehr weit geöffnet haben ‒ ebenso für radikale Islamisten und ihre menschenverachtende Ideologie, die mit einer ernsthaften Erlösungslehre im Prinzip nichts zu tun hat.

Ich weiß, hier spricht durch mich die europäische Sichtweise, der Blick unserer Kultur und Bildung, mehr oder weniger das Wissen um den eschatologischen Geist des Christentums, aber das ist mein Zugang zu den Weltreligionen, gänzlich in unserem Kulturkreis verankert. Ich gebe die Hoffnung dennoch nicht auf, obwohl im Sinne der Frankfurter Schule das »Hoffnung haben« bereits ein Vorzeichen des Scheiterns einer Utopie ist, dass es uns gelingen wird, »ein bö-ses Erwachen« zu vermeiden.
Der Faschismus war noch nie die Lösung irgendeines Problems, und vor allen Dingen dann nicht, wenn ihm Millionen Anhänger gefolgt waren. Eine Mehrheit also. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg reiste Jeanne Hersch wieder nach Deutschland und sprach mit den Menschen und fragte, »wer war denn nun von euch ein Anhänger des Nationalsozialismus?« Die Antwort lautete meistens wie erwartet: niemand, wir nicht. Der Wald aus erhobenen Armen, der noch vor Kurzem praktisch im ganzen Land prächtig gedieh, war plötzlich verschwunden.

Aber ich freue mich auf das neue Album von The Cure, auf die Endsongs. Ich weiß natürlich nicht, ob der Frontman dieser fantastisch düsteren Dark-Wave-und-Post-Punk-Band jemals Origenes gelesen hat, einen der ersten Theologen und Philosophen des Urchristentums. Bei Origenes ist jedenfalls die Rede von der Wiederherstellung aller Zeiten, somit des Urzustandes vor dem Fall der Seelen. Seine Lehre wurde in den Kanon der christlichen Theologie nicht aufgenommen, was wir den Konzilen im 6. Jahrhundert zu verdanken haben. Jedenfalls gab es in seiner Theologie auch einen Platz für die Erlösung des Bösen, des Satans, und damit keine Hölle. Wenn man so will, hat Origenes für den Existenzialismus vorgedacht, denn dann kann in der Tat nur der Mensch die Hölle sein. Das soll hier nicht wie ein Trost klingen, doch die Vorstellung, dass die Apokalypse eigentlich jeden Tag stattfindet, weil wir gefallene Seelen beziehungsweise die eigentlichen Usurpatoren der Hölle seien, macht Mut, um selbst die Dinge anzupacken und zu erledigen, die angepackt und erledigt werden müssen, damit die Endsongs von The Cure keine Wirklichkeit werden.

Hotel Libertine, Frankfurt am Main 30.9.-6.10.2024

^1^Zitat ist zu finden in seinen Vortragsreden, die Planck 1932 gehalten hat ‒ im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft.

Letzte Änderung: 02.11.2024  |  Erstellt am: 28.10.2024

Den ersten Teil des Essays finden Sie hier.

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