Der Faschismus war noch nie die Lösung irgendeines Problems, und vor allen Dingen dann nicht, wenn ihm Millionen Anhänger gefolgt waren. Albert Camus warnte bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg davor, dass wir bloß nicht glauben sollten, dass wir die Geißel des Faschismus für immer und ewig losgeworden seien, nur, weil endlich der Frieden herrsche. In seinem neuesten Essay legt Artur Becker en détail dar, warum wir unser Schicksal weder den rechts- und nationalkonservativen oder linksradikalen Parteien noch fragwürdigen Ideologen, Religionsfanatikern oder politischen Wirrköpfen überlassen sollten.
»Wenn man sich zu einem Thema äußert, das in der Gegenwart brennend ist, so sollte man immer gegen den Strom sprechen.«
Jeanne Hersch
The Cure, eine meiner absoluten Lieblingsbands (neben Pink Floyd, Led Zeppelin und Genesis), haben vor wenigen Tagen angekündigt, dass sie in Bälde ein neues Album veröffentlichen werden ‒ nach sehr langer Zeit ein neues! ‒, und der Frontman Robert Smith, ein Melancholiker par excellence, fügte dieser Ankündigung noch hinzu, es sei ein sehr düsteres Album, wobei der Albumtitel ja in der Tat schon alles sagt: Songs of a Lost World. Man könnte also denken, The Cure sind aufmerksame und kritische Beobachter unserer Gegenwart und Epoche und legen mit ihrer neunen Musik ein Zeugnis ab: für die überall auf der Welt vorherrschende Stimmung des nahenden Untergangs, die Endzeitstimmung, die durchaus die Radikalisierung unter den politischen Mitbewerbern, vor allem unter den rechtskonservativen und nationalistischen Kräften und Parteien wie auch unter den religiösen Fanatikern, ganz gut erklärt.
Aber ich möchte in diesem Essay der Debatte zu der heiklen Frage, ob der Zeitgeist unserer Epoche ein Kind der Apokalypse, der erwähnten Untergangsstimmung, sei, nicht allzu sehr folgen, denn das würde meine Gedanken beim Schreiben ziemlich einschränken, und ich möchte ihren natürlichen und freien, weil essayistischen Fluss nicht stören.
Fakt ist jedoch, dass wir global Angst vor unserer Zukunft empfinden, so wie auch Fakt ist, dass diese leider von Populisten und politischen Scharlatanen gezielt instrumentalisiert und manipuliert wird. Ich wage sogar zu behaupten, dass wir in diesem Fall das 20. Jahrhundert längst überholt haben, weil wir eine ungeheure Konjunktur an Verschwörungstheorien erleben, die sich eben mit der globalen Angst vor der Zukunft ideologisch und manipulativ beschäftigen. Unzählige Webseiten und Konten sozialer Medien, deren Gestalter sicherlich auch gut honoriert werden (nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Ländern, die imperiale Absichten haben und gegen den »dekadenten« Westen kämpfen), gießen täglich Öl ins Feuer, um möglichst viele Wähler zu verführen, auf die Seite der politischen Unruhestifter zu ziehen, um einen ganzen Staat und seine Demokratie zu destabilisieren. Die dunkle Seite des Mondes erscheint vielen leicht verführbaren Köpfen, deren Unbewusstes von Propagandisten und Kennern der Untertanenmentalität gezielt angesprochen wird, viel attraktiver als das Rationale, das Kritische, das unseren Verstand ‒ sofern er zur Empathie fähig ist und nicht kalt bleibt ‒ beflügeln kann, sodass wir Schönheit, Freiheit und Gerechtigkeit als den Ausdruck eines natürlichen ontologischen Bedürfnisses empfinden.
Wir kennen natürlich nicht nur in meiner Generation (ich bin Jahrgang 1968) die Angst vor den Pershings II und SS-20-Mittelstreckenraketen, die Angst also vor dem atomaren Krieg, dem Dritten Weltkrieg. Aber ich hatte in meiner Kindheit und Jugend sehr viel Glück, ich wuchs in den Siebzigern in einer intakten Natur auf, nämlich in Ermland und Masuren, und wir kamen damals nicht auf die Idee, dass wir die Natur (die dialektische Meisterin des Universums, weil sie Leben und Schönheit schenkt und nimmt) mit unserem Tun zerstören würden (mit unserer Gier nach Macht und Geld, für die wir eine ausbeuterische Industrie und Technologie einsetzten, eben auch in den Warschauer-Pakt-Ländern, was oft verharmlost wird). Unsere Winter waren damals schneereich und kalt, und die Sommer wunderbar erholsam und heiß. Ich wuchs zwar im Sozialismus auf, aber dessen Ende, das wir damals in der Volksrepublik Polen prophezeiten und erwarteten (wenn auch in ferner Zukunft), war für uns eine der schönsten Utopien, denn fast niemand hatte mit dem Jahr 1989 gerechnet, nicht einmal unsere klügsten und hartnäckigsten Dissidenten, die ewig Unnachgiebigen. Ich erwähne hier diese kläglich untergegangene Epoche nur deshalb, weil unsere Angst vor der Zukunft und damit das Wissen von der Zukunft damals vielleicht nicht naiver waren als die Zweifel und das Wissen der heutigen Menschen, sondern vielmehr das Ergebnis einer manichäischen Weltordnung, des klaren Konflikts zwischen dem Ostblock und dem Westen. Unsere Ängste von damals hatten damit eine konkrete Bodenhaftung, es ging schließlich um konkrete politische Ziele: Wir wollten das kommunistische Regime endlich ad acta legen und in Freiheit leben ‒ in einer Demokratie, wie wir sie aus Westeuropa und den USA kannten. Mehr nicht. Und in diesem Widerstand gegen das kommunistische Regime, was heute kaum vorstellbar ist, haben sehr unterschiedliche Kräfte zusammengewirkt: Katholiken, Atheisten, Ultrakonservative, Postneofaschisten, Liberale, Linke, Rechte, Dichter, Künstler, Punker, Hippies, Hysteriker, Choleriker, Intellektuelle, Arbeiter, Ideologen, enttäuschte Marxisten und so weiter.
Heute nun, da fast schon ein Vierteljahrhundert des 21. vergangen ist, sind wir gänzlich in einer Zeit verschiedenartigster Turbulenzen angelangt, in der die Freiheit weltweit bedroht ist ‒ es gibt immer weniger Inseln, Exilländer, Orte, wo man all den Turbulenzen unserer Epoche unbeschadet entgehen könnte. Politische Unruhen, wirtschaftliche Krisen, Überbevölkerung, andauernde Kriege weltweit, Umweltzerstörung, Klimawandel, Tsunamis, Tornados, Überschwemmungen, Waldbrände, radikale religiöse Terroristen, verrückte Attentäter und so weiter ‒ diese Liste wird von Jahr zu Jahr immer länger ‒ sind unser tägliches Brot. Und es bereitet mir zunehmend ein grässliches Kopfzerbrechen, dass wir im Namen der Sicherheit imstande sind (was man vielen Menschen natürlich nicht verdenken kann), den rechts- und nationalkonservativen oder linksradikalen Parteien, fragwürdigen Ideologen und Weltverbesserern sowie Religionsfanatikern und politischen Wirrköpfen, die, oft ohne es zu wissen, ein faschistoides Gebaren pflegen, unser Schicksal zu überlassen. Doch die Angst vor der Zukunft ist nicht die Hauptursache für die Radikalisierung jedweder Provenienz, es ist zunehmend die Überzeugung, dass die Regierenden unter Realitätsverlust leiden und ihre eigene Agenda verfolgen würden, die nicht mehr dem Wohl des Volkes diene (ich sage hier nichts Neues, der Philosoph und Autor Didier Eribon, der sich in Frankreich nicht solch einer Beliebtheit erfreut wie in Deutschland, hat in seinem Buch Rückkehr nach Reimes dieses Ungleichgewicht zwischen den Regierenden und den Regierten ausgiebig analysiert, obgleich in Bezug auf die Krise der Linken). Außerdem herrscht heute zunehmend Xenophobie ‒ gleich neben der Überzeugung, dass Europa von fremden Kulturen übernommen werde, wobei der Islam die tragende Rolle spielen werde (Scharia versus Grundgesetz).
Viele Menschen sprechen immer lauter vom Ende der Demokratie, obwohl sie sich selbst nicht unbedingt zu den kassandrischen Zweiflern zählen würden ‒ sie zitieren deshalb grinsend Winston Churchills Satz, der schon zu Tode diskutiert wurde: »Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen«, was nur ihre Ohnmacht gegenüber der Rückkehr des Autoritären und Faschistoid-Nationalkonservativen verrät und kulturgeschichtlich eine gähnende Langeweile in meinem Kopf erzeugt, denn wir brauchen heute gänzlich andere intellektuelle Waffen als die, mit denen wir noch im 20. Jahrhundert große Schlachten gewonnen haben, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als es darum ging, einen dauerhaften Frieden aufzubauen und dem Hitlerismus endgültig den Garaus zu machen. Heute sind unsere europäischen Baustellen zudem so zahlreich, dass man praktisch nicht weiß, wo man mit der Arbeit anfangen soll.
Die Integration scheitert dort, wo sich kriminelle und/oder durch die kulturelle Herkunft bedingte Aspekte durchsetzen. Die Messerangriffe der Flüchtlinge aus den immer zahlreicher werdenden Krisengebieten auf zufällig aufgetauchte Unschuldige oder gezielte Racheakte in Gewaltform aus allerlei Gründen schaden auch all den Ausländern, die in ihren neuen Heimaten in Europa ein beruflich und privat erfolgreiches und glückliches Leben führen. In Sekundenschnelle werden durch Unwissende und Wutentbrannte, die in radikalen rechten Kreisen eine Zuflucht finden, ganze Völker in die Schublade gesteckt und zum Feindbild erklärt. Und woran liegt‘s, dass solche Gewalttaten zunehmen? Natürlich liege es an der liberalen Demokratie, wird vorschnell geurteilt, vor allem bei den Rechtsradikalen. Und religiöse Fanatiker, die zur Gewalt greifen, weil sie sich zutiefst in ihrem Glauben durch sogenannte Ungläubige beleidigt fühlen, kann man nur mit Gewalt stoppen: seitens des Staates.
Aber was hier auf der Strecke bleibt, wird ein solcher Täter zur Rechenschaft gezogen oder außer Gefecht gesetzt, ist die Frage nach dem geistigethischen Fortschritt des menschlichen Geistes, warum kann sich der Fanatismus auf diesem Planeten und in dieser Zivilisation überhaupt nach wie vor breitmachen und sogar fortentwickeln? Europa geht so selbstverständlich ‒ wollte ich mit meiner Bemerkung sagen ‒, davon aus, dass wir solche Fragen eben universell und distanziert, weil kritisch und reflektierend, behandeln sollen ‒ allgemeingültig. Doch selbst solch ein Anthropologe wie Helmuth Plessner, der Autor von Die verspätete Nation, einer genialen Analyse des deutschen Bürgertums, das in seiner intellektuellen Trägheit Hitler und dem Volkstum folgte, wird außerhalb Europas ganz anders gelesen und interpretiert. Meine Freunde aus Chile, Myanmar oder Südafrika ‒ und sie sind keine Fanatiker ‒ werfen uns Europäern dezent vor, wir würden in Gesprächen oft bevormundend und rechthaberisch wirken, weil wir dazu neigten, nach Deutungshoheit zu streben, was wir selbst gar nicht so sehen und empfinden würden. Ein Chilene kann nämlich ‒ und er darf das ‒ einen Nietzsche, einen Plessner oder einen Benjamin in seine eigene, heimatliche, konkrete gesellschaftliche Situation verpflanzen und ganz anders lesen und verstehen als wir auf dem alten Kontinent. Ein Chilene ist außerdem in seinem Urteil nicht so zurückhaltend wie ein Japaner (sic!).
Bedenkt man all das, versteht man plötzlich, wie zerbrechlich unsere europäische Kultur ist, wodurch man auch besser begreifen wird, warum globale Probleme wie die Umweltverschmutzung oder die Rückkehr des Autoritären oder des Faschistoiden oder das Scheitern der westlichen Ökonomie nach der Pandemie letztendlich auch lokale Probleme überschatten, die von mächtigen, jedoch sehr trägen Instanzen wie die EU zum Beispiel nicht richtig in den Griff bekommen werden können. In dieser Dialektik, in der Globales auf Lokales trifft, fühlen sich Nationalkonservative wie ein Fisch im Wasser.
Nein, ganz gewiss kann es bei dieser Endzeitstimmung nicht darum gehen, dass ein neuer starker Führer kommt und endlich den ganzen Dreck aufräumt: »Abrakadabra! Ich werde euch alle erlösen! Vergesst Aurelius, Platon oder Churchill, vergesst die Neomarxisten wie George Lukacs oder Adorno samt der Frankfurter Schule, ihr Lieben, unsere Demokratien im Westen drohen uns zusammenzubrechen wie ein Kartenhaus, weil wir nicht mehr Herr in unserem eigenen Haus sind! Wir werden endlich durchfegen und das ganze Gesindel rausschmeißen!« Ich erinnere immer wieder an Albert Camus´ Warnung, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sagte, wir sollten bloß nicht glauben, dass wir die Geißel des Faschismus für immer und ewig losgeworden seien, nur, weil endlich der Frieden herrsche. Er sagte, das Gift des Hitlerismus stecke in jedem von uns, und man müsse daher ständig aufpassen und kritisch sein.
Die totalitäre Weltordnung hat im letzten Jahrhundert die größten Verbrechen der Menschheit begangen, die über uns als Spezies auf diesem in unserer Milchstraße ziemlich einsamen und entlegenen Planeten nichts Gutes sagen. Aber ist das Bedürfnis nach Sicherheit heute wirklich viel gewaltiger als in den vergangenen Jahrhunderten, sodass wir Heutigen, um es in den Worten Zygmunt Baumans zu sagen, sogar dazu bereit seien, unsere Freiheit aufzugeben? Der Mensch wird sich niemals in völliger Sicherheit wiegen können, denn wenn er nicht lernt, riesigen, auf sein Zuhause zusteuernden Meteoriten Paroli zu bieten, wird er sich nach wie vor doch selbst im Wege stehen, indem er dem Nationalismus blind folgen wird, und ich könnte mir trotz gewaltiger technologischer Revolution, die wir in diesem unseren jungen Jahrhundert erleben, vorstellen, dass wir selbst in dreihundert Jahren im Namen des Nationalismus oder des religiösen Radikalismus morden werden, und zwar in völliger Überzeugung, dass dies die einzige Lösung sei, um bestimmte Ziele zu erreichen.
Also muss der Hund woanders begraben sein, nicht dort, wo wir ihn immer vermuten ‒ nämlich in der Vergänglichkeit unseres Tuns, über das wir dann gemütlich reflektieren und schreiben. Denn unser Tun, unsere Taten aus der Vergangenheit, lassen uns oft sprachlos dastehen, und wir wundern uns nur, wie konnte so etwas Schreckliches passieren? Warum konnte man diese oder jene Katastrophe nicht verhindern? Fragen über Fragen, die einem nicht weiterhelfen.
Mich interessiert daher etwas anderes, was den Umgang mit der Vergangenheit angeht: Die Gegebenheiten der konkreten Zeit, in der wir agieren, erzeugen eine ebenso konkrete Dauer, die im Prinzip nie verschwindet, denn selbst nach unserem Tod bleiben ja alle Probleme bestehen und wollen gelöst werden, was ich auch von Emil Cioran gelernt habe, einem der positivsten Nihilisten, den ich jemals gelesen habe. In diesem Kontext weitergedacht: Ich bin aber auch ein großer Anhänger der Philosophie von Henry Bergson und will damit sagen ‒ aber nicht im anthropologischen Sinne à la Helmuth Plessner, der nach maßgeblicher Ordnung in unserem menschlichen, aber exzentrischen Verhalten gesucht hat ‒, dass die Frage nach unserer existenziellen Kondition, die sich am deutlichsten am politischen und geschichtlichen Geschehen ausmachen lässt, auch eine Frage nach der geistigen Evolution unserer Spezies ist. In unserem Gedächtnis ‒ sofern ich Bergson richtig verstanden habe ‒ werden nämlich solche Dinge bewahrt, die unsterblich sind, die tatsächlich eine Dauer haben und sich der materiellen Endlichkeit entziehen. Und das ist eine Grundvoraussetzung für die Kultur und für die Emotionen ‒ auch für den technologischen oder ethischen Fortschritt.
Aber die Rückkehr des Autoritären und Nationalistischen ist nicht nur eine Antwort auf unsere heutigen Probleme, die von den demokratischen Parteien nicht gelöst werden, sondern auch ein Atavismus, mit dem wir seit Jahrhunderten zu kämpfen haben: Da steht ein fremder Mann vor der Tür und braucht Hilfe. Hereinlassen oder abweisen? Ich erinnere in dem Zusammenhang, und das ist nicht nur ein kulturgeschichtlicher Exkurs, daran, dass die Geschichte der Gastfreundschaft auf Homer und seine Werke zurückgeht. Es ist die wichtigste Leistung der griechischen Kultur und Dichtung, sozusagen eine Grundvoraussetzung für so ein Gebilde wie die Europäische Union, dass Homer Odysseus auf eine kosmische und zugleich lokale (im Prinzip touristische) Weltreise schickt, und sein Überleben (beziehungsweise sein Erfolg) nicht nur von seiner List abhängt, also von einem bereits in der Moderne und in der Dialektik verankerten Charakteristikum, wie es Adorno und Horkheimer wollen, sondern auch von der Gastfreundschaft oder von der Verweigerung dieser. Xenos, der Fremde, ist deshalb nie allein, er erlebt Abenteuer und muss aus diesen für seine sich im Wandel befindende Identität Schlüsse ziehen, egal, wie tief er fällt oder im Gegenteil ‒ aufsteigt, und zwar in einem für ihn fremden Land.
Ich predige deshalb seit Jahren schon ‒ und ja, mittlerweile gänzlich gegen die heutige Strömung all der geschichtlich, kulturgeschichtlich, philosophisch und existenziell Verlorenen, die als Regierte keine Geduld mehr haben und die sich mit der dunklen Seite des Mondes beschäftigen (Stichwort: Verschwörungstheorien) und radikalisieren ‒, dass die einzige Lösung die Republik Kosmopolen ist. Eine Republik beziehungsweise ein Europa, in dem man seine Herkunft nicht verleugnet, im Gegensatz: Man pflegt sie, ist aber offen und bereit, diese Herkunft durch Neues und Fremdes zu bereichern und ergänzend fortzuentwickeln. Nationale Gebilde, die voller Stolz auf ihre nationale Kultur sind, sollen auch nicht verschwinden, aber Europa ‒ hier gedacht tatsächlich als ein Staat mit einer demokratisch gewählten Regierung ‒ müsste endlich eine geistige Republik aufbauen, in der es genug Platz für alle geben sollte, auch für solche, die das menschliche Dasein als absurd und grotesk empfinden und deshalb dem Nihilismus und Heroismus viel näher stehen als einer sonnigen und lebensbejahenden Perspektive. Im Postskriptum zu diesem Gedanken möchte ich auch sagen, dass so manches Geheimnis unserer Existenz auch ein solches bleiben sollte, das Drängen auf eine unbedingte Aufdeckung dieses Geheimnisses ist oft kontraproduktiv, zumal alles seine Zeit hat und braucht.
Ich glaube, dass mir in diesem Zusammenhang die Philosophie von Jeanne Hersch deshalb so unter die Haut geht ‒ jedes Mal, wenn ich sie lese ‒, weil sie den Menschen immer ganzheitlich gesehen hat und nie bloß als eine Geisel des Geistes oder des Fleisches. Sie war eine kluge Frau ‒ wie Hannah Arendt Schülerin von Jaspers und Heidegger, eine schweizerischpolnische Jüdin, die dem Idealismus und dem Totalitarismus Klarheit und Unabhängigkeit des menschlichen Verstandes entgegensetzte. Und sie, wie das oft bei solchen klugen Frauen der Fall ist, hat sich für einen Mann eingesetzt ‒ in ihrer ganzen Opferbereitschaft, die nur Frauen leisten können ‒ und ihm alles gegeben und geschenkt: nämlich dem Dichter Czesław Miłosz, einem der wichtigsten Dichter des 20. Jahrhunderts, der Herschs Hilfe auch tatsächlich brauchte und wie viele seiner Zeitgenossen im Zweiten Weltkrieg und im Stalinismus Albträume erleiden musste, aus Sorge um sich selbst, seine Nächsten und Europas Zukunft.
Ein Europa, in dem verwirrte und verirrte Geister wieder komplett auf die Macht der Diktaturen setzen würden, wäre erneut auf eine Katastrophe zugesteuert, die für die kommenden Jahrhunderte schwerwiegende Folgen hätte. Man sieht es am Beispiel Ostdeutschlands, welche geistige Verwüstung die kurze Zeit ‒ in der Weltgeschichte ein Wimpernschlag ‒ des DDR-Regimes verursacht hat und bis heute auf die Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland einwirkt, und zwar negativ. Ein Europa aufzubauen, das grundsätzlich auf dem Fundament des Misstrauens basieren würde, ist ein vollkommen falscher Weg.
Letzte Änderung: 28.10.2024 | Erstellt am: 28.10.2024