Zur Lage der Menschenrechte in Usbekistan

Zur Lage der Menschenrechte in Usbekistan

Das Massaker von Andischan jährte sich am 13. Mai 2015 zum zehnten Mal. Trotzdem scheinen die brutalen Vorkommnisse der bewaffneten Niederschlagung eines friedlichen Aufstands im Südosten Usbekistans, bei dem zahlreiche Frauen und Kinder erschossen wurden, in Deutschland immer noch weitestgehend unbekannt zu sein. Michele Sciurba, Case Worker mit dem Schwerpunkt Verfassungsrecht und Menschenrecht, nimmt sich diesen Umstand zum Anlass, um darauf aufmerksam zu machen, warum sich die Menschenrechtslage in Usbekistan in den letzten zehn Jahren nicht verbessert hat.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Maßgeblich für das Zustandekommen dieses möglicherweise bedeutendsten Dokuments des 20. Jahrhunderts waren vor allem die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, die gezeigt haben, dass Menschenrechtsverletzungen stets Akte der Barbarei nach sich ziehen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde ein Jahr später, 1949, ratifiziert. Die darin verbürgten Grundrechte – die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1), die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2), die Gleichheit aller vor dem Gesetz (Art. 3) sowie die freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit (Art. 5) – sind unser wichtigstes Rechtsgut.

Die Idee, den Menschenrechten weltweit Geltung zu verschaffen, liegt der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zugrunde, die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und am 3. September 1953 in Kraft gesetzt wurde. Auch sie beruht auf der Lehre, die aus der Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen wurde. Ihr Ziel ist es, politisch-moralische Leitbegriffe wie den der Menschenrechte der Verfolgung nationalstaatlicher Interessen überzuordnen und eine transnationale Rechtsnorm als unabdingbares Werte- und Normengerüst zu etablieren, damit Menschenrechte nicht nur in der eigenen Gesellschaft, sondern zugunsten einer moralisch verantwortlichen globalen Gemeinschaft auch jenseits der eigenen Grenzen eingefordert werden können, denn für Verbrechen gegen die Menschlichkeit darf es keine Immunität geben.

Das Massaker von Andischan und seine Folgen

Vor zehn Jahren, am 13. Mai 2005, schossen usbekische Sicherheitskräfte in der Provinzstadt Andischan wahllos hunderte von Zivilsten bei einem Volksaufstand nieder. Selbst vor der Tötung verletzter, bereits am Boden liegender Menschen schreckten sie nicht zurück. Im UN Universal Periodic Review Report von 2013 ist von etwa 700 Toten die Rede, darunter Frauen und Kinder (UNCAT, 2013).

Nachdem die Europäische Union 2005 auf die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission gedrängt und anschließend Sanktionen gegen Usbekistan verhängt hatte, so zum Beispiel eine Visasperre für hochrangige usbekische Politiker und ein Waffenembargo, setzte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Aufhebung eben dieser Strafmaßnahmen auf die politische Agenda (mehr). Er berief sich dabei insbesondere auf den Antiterrorkampf im benachbarten Afghanistan und die damit verbundenen deutschen Sicherheitsinteressen.

Damit war die weitere Aufklärung des Massakers gestoppt. Es fehlte jede Druckkulisse, die das usbekische Regime zu Reformen gezwungen hätte. Unter dem Motto „Dialog statt Sanktionen“ wurde ein bunter Strauß an Kooperationen ins Leben gerufen, die, angeregt von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, 2007 in eine neue EU-Zentralasienstrategie mit dem Titel „Partnerschaft für die Zukunft“ mündeten. Diese und eine Reihe weiterer Initiativen vermittelten den Eindruck, Usbekistan beschreite mit deutscher Hilfe den Weg der Rechtsstaatlichkeit. In Wirklichkeit jedoch wurde zu Beginn des Jahres 2011 im Zuge einer Verfassungsänderung die Mehrheitspartei im Parlament autorisiert, den Ministerpräsidenten zu ernennen, ein Vorrecht, das bislang dem Präsidenten vorbehalten war, der nun seine präsidentielle Macht mit der Position des Vorsitzenden des Ministerkabinetts kombinieren darf und auf diese Weise den Ministerpräsidenten seiner exekutiven Autonomie beraubt (BTI, 2014).

Die Vergangenheit zeigt, dass das usbekische Regime einzig und allein auf massiven Druck von außen reagiert. Ein Beispiel dafür ist der Boykott usbekischer Baumwolle, an dem sich mehr als 100 internationale Unternehmen beteiligten, um dem flächendeckenden Einsatz von Kindern bei der Baumwollernte einen Riegel vorzuschieben. Er bewog 2013 die Regierung in Taschkent dazu, die Kinderarbeit abzuschaffen und Beobachter der ILO (der Internationalen Arbeitsorganisation), einer Sonderorganisation der UN, zuzulassen.

Vor dem geschilderten Hintergrund verwundert es nicht, dass deutsche Ermittlungsbehörden Amtshilfe-Ersuchen aus Usbekistan so handhaben wie Ersuchen anderer Staaten, die über ein funktionierendes rechtsstaatliches System verfügen. Und das, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) allein in den letzten vier Jahren 21 Verbote gegen die Auslieferung Verfolgter nach Usbekistan erlassen hat, weil dort keiner von ihnen mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen kann und weil systematisch gegen Artikel 3 der EMRK verstoßen wird, der Folter verbietet.

Die rechtliche Situation in Usbekistan

Usbekistan ist ein Unrechtsstaat. Daran hegen weder die Vereinten Nationen noch die Europäische Union Zweifel. Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International teilen diese Einschätzung. In Usbekistan ist die Meinungsfreiheit extrem eingeschränkt. Was die usbekische Justiz betrifft, hat das Regime als Antwort auf die internationale Kritik ein paar Gesetzesänderungen, so etwa 2008 das Gesetz zur richterlichen Haftprüfung (Habeas-Corpus-Gesetz), auf den Weg gebracht – und zugleich ständig missachtet. Staatliche Stellen verfolgen nach wie vor unliebsame Personen, sperren sie ohne Gerichtsverfahren ein und greifen, wie in allen hierzu relevanten UN-Berichten nachzulesen ist, systematisch zur Folter, um den Gefangenen die erwünschten Aussagen abzupressen. Unabhängigen, freien Rechtsanwälten wurde die Lizenz zur Berufsausübung entzogen (Human Rights Watch, 2011). Eine Kontaktaufnahme mit politischen Untersuchungsgefangenen wird unterbunden oder nur unter Aufsicht gestattet. Infolgedessen stellte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes 2013 die Gefangenenbesuche in Usbekistan notgedrungen ein. Ein Länderbericht (BTI-Report) von 2014 beschreibt die usbekische Justiz zwar als verfassungsrechtlich getrennt und unabhängig von der Exekutive, kommt aber zu dem Schluss, dass sie in Wirklichkeit in hohem Maße korrupt ist und anfällig für Druck seitens des Präsidentenamts, des nationalen Sicherheitsdienstes und der Staatsanwaltschaft. De facto ist sie gleichgeschaltet und dient nur als Vehikel für die Interessen des Regimes.

Nur ein Beispiel von hunderten dokumentierten glaubwürdigen Aussagen aus einem Human-Rights-Watch-Bericht: Ein Mitarbeiter der britischen Botschaft in der usbekischen Hauptstadt Taschkent, Kayum Ortikov, verbrachte 2009 neun Monate im Taschkenter Gefängnis nach einer allem Anschein nach rein politisch motivierten Verurteilung wegen angeblichen Menschenhandels. Er berichtete, dass man seine Genitalien mit angezündeten Zeitungen verbrannte und mit Nadeln unter seine Fingernägel stach. Es kam auch zu Drohungen, von HIV-positiven Häftlingen vergewaltigt zu werden. Er wurde bei Verhören stundenlang an einen Stuhl gefesselt und mit kaltem Wasser übergossen, während zwei High-Speed-Ventilatoren seinen Körper von jeder Seite unterkühlten. Außerdem wurde er an den Handgelenken an der Decke aufgehängt und von acht oder neun Personen geschlagen. Er litt so intensiv, dass er seine Handgelenke aufzubeißen und sich mit einer Rasierklinge Kopf und Hals aufzuschneiden versuchte (Human Rights Watch, 2014).

In den letzten Monaten habe ich als Case Worker den Fall eines jungen Mannes betreut, der wegen angeblicher Korruption zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde, und zwar ohne öffentliches Verfahren, ohne anwaltliche Verteidigung und ohne jegliche Vorlage von Beweismitteln. Sowohl die Inhaftierung als auch der Prozess fanden in einem der zahlreichen usbekischen Geheimgefängnisse statt. Die katastrophale Lage, in der sich Politik und Menschenrechte in Usbekistan befinden, spiegelt sich im Corruption Perceptions Index von Transparency International wider, in dem Usbekistan mit nur 18 von möglichen 100 Punkten und einem prozentualen Ergebnis von lediglich 6 Prozent an 166. Stelle von insgesamt 175 Staaten rangiert, vergleichbar den Ländern Nordkorea und Sudan. Auch bei der internationalen Nichtregierungsorganisation Freedom House schnitt Usbekistan unter dem Aspekt der politischen und der Freiheitsrechte als eines der zehn am schlechtesten bewerteten Länder der Welt mit der geringstmöglichen Punktzahl ab.

Von Seiten der Machthaber wird alles unternommen, um Einblicke internationaler Institutionen in die Funktionsweise von Staat und Gesellschaft in Usbekistan zu verhindern oder die tatsächlichen Verhältnisse zumindest zu camouflieren. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Usbekistan der United Nations Convention against Transnational Organized Crime zwar beigetreten ist, jedoch dem wichtigen Paragraphen 2 zu Artikel 35 seine Anerkennung versagt, sich also ausdrücklich weigert, sich einem internationalen Gerichtshof zu unterwerfen.

Seit Anfang der 1990er Jahre gibt es in Usbekistan de facto keine registrierten unabhängigen oder oppositionellen politischen Parteien mehr, und die offiziell zugelassenen unterstützen alle den usbekischen Präsidenten Islam Karimow. Da Vereinigungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit in Usbekistan kaum gewährleistet sind, ist auf freie und faire Wahlen praktisch nicht zu hoffen. Die Wahlkommission wird durch das Büro des Staatspräsidenten gesteuert und registriert nur diejenigen Kandidaten, die zuvor befürwortet worden sind. Vom Büro der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und dem für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) wurde noch keine Parlaments- oder Präsidentschaftswahl in Usbekistan als frei und fair beurteilt (US State Department, 2013).

Nachdem Islam Karimow Ende März 2015 im Präsidentenamt bestätigt worden ist, besteht so gut wie keine Aussicht auf eine positive Veränderung. Deshalb sieht sich ausnahmslos jeder Inhaftierte in Usbekistan der Gefahr ausgesetzt, in der Haft brutal gefoltert und zu Geständnissen gezwungen zu werden. Unter dieser Prämisse ist jede Inhaftierung absolut lebensbedrohlich.

Verwendete Quellen und weiterführende Publikationen

Veröffentlichungen der Vereinten Nationen
1. UNCAT, Concluding observations on the fourth periodic report of Uzbekistan, 10 December 2013, S. 4
2. UN, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights defenders, 4 March 2015, S. 64 (Uzbekistan)
3. UN Universal Periodic Review, Summary report of 16 Stakeholders’ submissions, 30 January 2013
4. UN General Assembly, Situation of human rights in Uzbekistan, 18 October 2006
5. UN, Report of the Special Rapporteur on the question of torture, Addendum Mission to Uzbekistan, 3 February 2003

Regierungsberichte
6. US State Department, Human Rights Report: Uzbekistan 2013

Materialien von Nichtregierungsorganisationen
7. Amnesty International, Secrets and Lies: Forced Confessions under Torture in Uzbekistan, 2015
8. Human Rights Watch, Country Summary: Uzbekistan, January 2015
9. Human Rights Watch, ‘Until the Very End’. Politically Motivated Imprisonment in Uzbekistan, 2014
10. Human Rights Watch, ‘No One Left to Witness’. Torture, the Failure of Habeas Corpus, and the Silencing of Lawyers in Uzbekistan, 2011
11. BTI 2014 — Uzbekistan Country Report, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2014

Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
12. Eshonkulov v Russia, Application No. 68900/13, 15 January 2015
13. Nizamov v Russia, Application Nos. 22636/13, 24034/13, 24334/13, 24528/13, 7 May 2014
14. Egamberdiyev v Russia, Application No. 34742/13, 26 June 2014

Letzte Änderung: 08.12.2021  |  Erstellt am: 17.07.2021

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