70 Jahre Vereinte Nationen in einer Welt, die an ihren Widersprüchen und dem Gefälle zwischen arm und reich fast zerbricht; die Europäische Union bei der Flüchtlingsfrage uneins wie nie; EU-Staaten, die konsequent EU-Recht brechen. Zum 70. Geburtstag der UNO erleben wir eine Abwendung vom Völkerrecht, die die Grundpfeiler der EU massiv infrage stellt. Michele Sciurba geht der Frage nach, ob nach mehr als 20 Jahren Europäischer Union der europäische Gedanke einer sozialen und gerechten Solidargemeinschaft am Ende ist.
Das Völkerrecht ist die wichtigste Errungenschaft der Nachkriegsgeschichte. Es setzt Humanität und Menschenwürde über nationale und persönliche Egoismen und verpflichtet uns zu empathischem Handeln. Nur in der historischen Betrachtung erschließt sich uns das Völkerrecht, wie wir es heute kennen, und warum wir es bewahren und weiterentwickeln müssen. Die UN-Charta, das Gründungsdokument der Vereinten Nationen, wurde am 26. Juni 1945 verabschiedet und verbietet erstmals in der Weltgeschichte die Anwendung militärischer Gewalt als politisches Mittel, was bedeutet, dass jeder, der gegen diese Norm verstößt, durch die Völkergemeinschaft mit besonderer Schärfe sanktioniert wird. Niemand, und das ist der wichtigste Grundsatz der UN-Charta, ausnahmslos niemand darf künftig Angriffskriege führen. In San Francisco unterzeichneten 50 Staaten die Charta der Vereinten Nationen, die am 24. Oktober 1945 in Kraft trat. Bei der Formulierung universell gültiger Ziele waren einschneidende Erfahrungen aus zwei Weltkriegen maßgeblich. Weltfrieden und die Schaffung eines menschenwürdigen Lebens für alle waren die Leitmotive, die in der Charta gemeinsam formuliert und fixiert wurden. Die UNO befestigte Eckpfeiler der Friedenssicherung, der Bekämpfung des existenzbedrohlich gewordenen Klimawandels und der nachhaltigen Durchsetzung globaler Menschenrechte. Heute sind 193 Staaten Mitglieder der UN.(1) Auch wenn im Rahmen jährlich stattfindender Generalversammlungen der Vereinten Nationen miteinander gesprochen wird, haben diese Gespräche die Welt leider nicht friedlicher gemacht. Ganz im Gegenteil erleben wir unzählige lokale und regionale Konflikte. Allein 2015 gab es bis zum jetzigen Zeitpunkt 21 Kriege, etwa 25 lokale kriegerische Auseinandersetzungen und knapp 180 gewalttätige Konflikte. Dem Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung zufolge gibt es derzeit insgesamt 424 politische Konflikte weltweit.(2) Dieser Stand ist seit Gründung des Instituts in den 90er Jahren die höchste erfasste Anzahl an Konflikten in der Welt überhaupt.
Der entscheidende Unterschied zu früheren Zeiten besteht aber darin, dass es unserer Staatengemeinschaft (bei aller Kritik an der UNO) gelungen ist, ein verbindliches Regelwerk zu schaffen, in dem klar definiert ist, wie man bei einer Flucht von Menschenmassen global vorzugehen hat. Dramatische Weltkriegserfahrungen und die damit verbundenen Flüchtlingsströme während des Zweiten Weltkriegs und danach haben zur Erkenntnis geführt, dass es ein verbindliches Regelwerk im Umgang mit Massenflucht von Menschen geben muss. Über diese Notwendigkeit war zwar bereits Anfang des 20. Jahrhunderts im Völkerbund nachgedacht worden, aber erst am 28. Juli 1951 kam es zur Verabschiedung der sogenannten Genfer Flüchtlingskonvention (3), die Flüchtlingen auf völkerrechtlich bindende Weise sowohl Schutz als auch Hilfe gewährt. Deutschland gehörte zu den ersten sechs Staaten, die die Konvention ratifizierten und das Abkommen möglich machten. Heute haben 148 Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ratifiziert. Eine logische Konsequenz daraus wäre die folgende: Statt einzelne Staaten wie Schweden an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu treiben, wobei nichtsdestoweniger tausende von Flüchtlingen auf der Strecke bleiben, müsste jedes Land, das die GFK ratifiziert hat, im Rahmen seiner Möglichkeiten Flüchtlinge aufnehmen. Das hieße, dass 148 Staaten gemeinsam die Kosten und Logistik zur Handhabung der Flüchtlingsproblematik unter organisatorischer und koordinativer Leitung der UN-Flüchtlingshilfe United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) übernähmen, was das Problem weniger problematisch machen würde. Die Lösung der Flüchtlingsproblematik ist offenbar eine solche, zu der sich die meisten EU-Staaten bereits verpflichtet haben, die aber in letzter Konsequenz kaum jemand einzuhalten bereit ist. Woher kommt diese kollektive Amnesie, die offensichtlich eine europäische ist?
Unter der Prämisse, dass ein Versprechen, das bei gutem Wetter gegeben wird, auch bei Sturm und Regen seine Gültigkeit behalten sollte, wäre die humanitäre Katastrophe in Syrien, im Irak oder in Afghanistan zu bewältigen. Die Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten ist durch die rechtliche Bindung an die Genfer Konvention de facto unsere Pflicht, wie sie die Pflicht aller Staaten ist, die diese internationale Vereinbarung unterzeichnet haben. Glücklicherweise trifft sie zumindest stellenweise auf Erfüllung, so durch Frau Merkel, die sich in aller Klarheit und Deutlichkeit für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten positioniert. In der Genfer Konvention ist rechtlich einwandfrei der Rahmen festgelegt, welcher Schutz Flüchtlingen zu gewähren ist. Dabei werden sowohl die Hilfeleistungen als auch sozialen Rechte, die von den Unterzeichnerstaaten gewährt werden sollen, eindeutig definiert. Darüber hinaus wird genau geregelt, wer Anspruch auf einen Flüchtlingsstatus hat und wer nicht. Ein Flüchtling ist eine Person, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will« (Genfer Flüchtlingskonvention, 1951). Kriegsverbrecher sind dabei ausgeschlossen.
Europa ist für viele Menschen, die auf der Flucht sind, zum Ziel geworden und wird als Synonym für eine Insel der Glückseligkeit gehandelt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Entwurzelungen und schwerwiegenden Entbehrungen einer Flucht für jeden von uns, der auf dieser sicheren Insel ein komfortables Leben führt, kaum zu verstehen sind, und müssten umso mehr Verständnis zeigen. Stefan Zweig, der sich am Ende seiner Flucht aus Nazi-Deutschland nach Petrópolis, Brasilien, 1942 das Leben nahm, beschrieb das Gefühl der Zerrissenheit vielleicht wie kein anderer:
»Jede Form von Emigration verursacht an sich schon unvermeidlicherweise eine Art von Gleichgewichtsstörung. Man verliert – auch dies muß erlebt sein, um verstanden zu werden – von seiner geraden Haltung, wenn man nicht die eigene Erde unter sich hat, man wird unsicherer, gegen sich selbst mißtrauischer. Und ich zögere nicht zu bekennen, daß seit dem Tage, da ich mit eigentlich fremden Papieren oder Pässen leben mußte, ich mich nie mehr ganz als mit mir zusammengehörig empfand. Etwas von der natürlichen Identität mit meinem ursprünglichen und eigentlichen Ich blieb für immer zerstört. Ich bin zurückhaltender geworden, als meiner Natur eigentlich gemäß wäre und habe – ich, der einstige Kosmopolit – heute unablässig das Gefühl, als müßte ich jetzt für jeden Atemzug Luft besonders danken, den ich einem fremden Volke wegtrinke. Mit klarem Denken weiß ich natürlich um die Absurdität dieser Schrullen, aber wann vermag Vernunft etwas wider das eigene Gefühl! Es hat mir nicht geholfen, daß ich fast durch ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen, weltbürgerlich als das eines ›citoyen du monde‹ zu schlagen. Nein, am Tage, da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.« (4)
Wir können höchstens erahnen, wie drastisch und bedrückend es ist, ohne sicheres Ziel seine Heimat verlassen zu müssen. Die Auswirkungen der Flucht haben Europa und Deutschland längst erreicht. Die oft kaum zu ertragenden Szenen, die wir jeden Tag beobachten, lösen unterschiedliche Reaktionen aus. Neben Hilfsbereitschaft und Empathie wird auch die Angst vor Überfremdung und vor Verlust des eigenen Wohlstands immer größer. Insofern ist es gut zu sehen, dass die »Willkommenskultur« Teil unserer Wirklichkeit geworden ist. Trotzdem führt die steigende Anzahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland und der Europäischen Union immer öfter zu verbalen Entgleisungen, die sich einer Rhetorik bedienen, die aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte stammt. Das ist besorgniserregend. Diesen rechtspopulistischen Ansprachen darf es nicht gelingen, demokratische und emphatische Werte auszuhebeln.
Europa driftet auseinander
Während in Europa für eine Bankenrettung in kürzester Zeit Milliardenhilfen von den Regierungen bereitgestellt wurden, führt die Flüchtlingsfrage zu einer Infragestellung der Grundpfeiler der EU. Die Schließung der ungarischen Grenze am 16. Oktober 2015 ist als beschämend zu bezeichnen und ein bitteres Armutszeugnis für die europäische Einheit. Dass in der Europäischen Union jahrzehntelanger Frieden herrscht, ist nur durch den starken und engen Zusammenhalt ihrer Mitgliedsstaaten und der Bildung eines gemeinsamen Binnenmarktes denkbar. Vor diesem Hintergrund ist es kaum zu fassen, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in der Flüchtlingsfrage konsequent europäisches Recht bricht, und es darüber hinaus tatsächlich fertig gebracht hat, einen Zaun zu seinen Nachbarn zu bauen. Schließen wir die Grenze, können wir auch getrost die Augen verschließen vor gegenwärtigen Problemen, mag hier die Devise gewesen sein. Aber den Grenzübertritt in Ungarn zu einer Straftat zu erklären und über achthundert Kriegsflüchtlinge einzusperren und zu kriminalisieren, ist nicht nur ein Skandal, sondern eine Kriegserklärung an das Wertesystem der Europäischen Union. Es ist eine explizite Missachtung der UN-Charta und der Genfer Flüchtlingskonvention, ein klarer Bruch von geltendem EU-Recht und internationalen Abkommen. Es kann einem nur noch den Angstschweiß auf die Stirn treiben, wenn man bedenkt, dass wir uns auf diesem Kurs in eine Situation zurückbewegen, die an die 1920er Jahre erinnert. Brandstifter wie Orbán bringen sowohl humanitäre Grundsätze als auch politische Stabilität auf bedrohliche Weise ins Wanken. Diese Ausgangsposition hat in der Vergangenheit für zwei Weltkriege gesorgt.
Am Rande des EU-Krisengipfels am 25.10.2015 hat sich Viktor Orbán zum reinen Beobachter und somit als nicht mehr zuständig für die Flüchtlingskrise erklärt. Trotz der unsolidarischen Haltung Ungarns scheint es allerdings zu einem gemeinsamen Handeln in der EU zu kommen. Der dramatische Appell vor dem EU-Treffen, den António Guterres, UN High Commissioner for Refugees, an die Organization for Security and Cooperation in Europe (OSCE) gerichtet hat, in dem er sofortige Maßnahmen der EU zur Unterstützung der UN-Flüchtlingshilfe gefordert hat, um das Leid der Flüchtlinge zu mildern, machte einmal mehr deutlich, wie dringend gemeinsames Handeln ist.(5) In seiner Rede wies er darauf hin, dass politische Unklarheit und die Auflösung traditioneller Machtstrukturen in vielen Ländern zu einer Konfliktverschärfung geführt habe. Diese chaotischen Verhältnisse beschleunigen die Zunahme von Flüchtlingsbewegungen immens. Heute kommen etwa 80 % der Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. 2011 waren das 14.000 Menschen täglich. 2013 stieg die Zahl bereits auf 32.000 Menschen an. 2014 nahm die Zahl der Menschen, die aufgrund von Krieg flüchten mussten, auf die unfassbare Größe von 42.500 Menschen pro Tag zu.
Der Geltungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention kann angesichts dieser Zahlen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das UNHCR hat unmissverständlich die grundlegende Bedeutung der Konvention hervorgehoben und einen Schlüsselbereich wie folgt beschrieben:
»Es steht außer Zweifel, daß Personen, die im Zuge eines Krieges oder Konflikts verfolgt werden oder von Verfolgung bedroht sind, grundsätzlich als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention von 1951 und des Protokolls von 1967 angesehen werden sollten. Im Fall eines Massenzustroms von Flüchtlingen kann es sich aber als schwierig erweisen, jeden einzelnen Asylantrag nach den in der Konvention und im Protokoll festgelegten Verfahren zu prüfen. Deshalb hat sich die Praxis herausgebildet, bei großen Flüchtlingswellen, die unter Umständen erfolgen, die die Annahme nahelegen, daß die einzelnen Mitglieder der Gruppe als Flüchtlinge anzusehen sind, die sogenannte Prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzuführen.« (6)
Das bedeutet, dass es einen nutzbaren, rechtlichen Rahmen für eine generelle Anerkennung des Asylrechts für Flüchtlinge gibt, ohne dass jeder Antrag einzeln geprüft werden müsste. Die Beschleunigung des Asylverfahrens und eine schnelle Integration der Menschen, die in den Schutzbereich der GFK fallen, ist von zentraler Bedeutung, um den Leidensdruck nicht weiter zu verstärken. Dieses Jahr haben ca. 615.000 Menschen das Mittelmeer überquert, davon ca. 475.000 das östliche Mittelmeer nach Griechenland. 80 % der Menschen, die übers östliche Mittelmeer kamen, stammen aus den Kriegsgebieten in Syrien, dem Irak oder in Afghanistan. Diese Menschen fallen vollumfänglich unter den Geltungsbereich der GFK und haben somit, um es noch einmal zu betonen, ein Recht auf Schutz und Hilfe.
Diese Situation stellt uns vor eine große Herausforderung. Die meisten Flüchtlinge suchten allerdings Zuflucht im Libanon, in der Türkei und Jordanien. Diese Länder, die jeweils weit über eine Mio. Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen haben, stehen vor ungleich größeren Problemen als die Europäische Union, die mit ihren ca. 500 Millionen Einwohnern und einer enormen Wirtschaftsleistung zur Aufnahme deutlich besser aufgestellt ist. Die Anzahl an Flüchtlingen, die in diesem Jahr Deutschland erreichen werden, liegt prognostiziert bei 800.000 Menschen. Davon werden nur etwa 440.000 Flüchtlinge im Land bleiben dürfen. Der Rest wird voraussichtlich abgeschoben. Mit gemeinsamem, entschlossenem Handeln wäre die EU aber ohne weiteres in der Lage, diese Flüchtlingskrise zu bewältigen. Auch wenn wir von dem Ausmaß der aktuellen Flüchtlingskrise überfordert sind, sollten wir doch an der Idee einer Solidargemeinschaft festhalten, damit es nicht zu weiteren Szenen wie in Griechenland oder Slowenien kommt, bei denen wir zulassen, dass sich die Entwürdigung von Menschen in Europa fortsetzt. Wir sollten aneinander festhalten und an jeden Einzelnen appellieren, einen Teil zur Lösung beizusteuern.
QUELLEN
1 Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs. Hrsg. v. Deutsche Gesellschaft fu?r die Deutschen Nationen e.V. URL: http://www.dgvn.de/fileadmin/user_upload/DOKUMENTE/UN_Diverse/Charta_Vereinte_Nationen_UN.pdf [30.10.2015].
2 Heidelberg Institute for International Conflict Research: Conflict Barometer. 2014. URL: http://www.hiik.de/de/konfliktbarometer/pdf/ ConflictBarometer_2014.pdf [30.10.2015].
3 UNHCR. The UN Refugee Agency: Genfer Flu?chtlingskonvention. URL: http://www.unhcr.de/mandat/genferfluechtlingskonvention.html [30.10.2015]
4 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2014. S. 465 f.
5 UNHCR. The UN Refugee Agency: Organisation for Security and Cooperation in Europe (OSCE). Conference on Common Security in the Mediterranean Region: Challenges and Opportunities. Remarks by António Guterres, UN High Commissioner for Refugees (transcript). Dead Sea, Jordan. 20 October, 2015. URL: http://www.unhcr.org/5627a1d39.html [30.10.2015]
6 UNHCR. The UN Refugee Agency: Die Genfer Konvention von 1951 u?ber die Rechtsstellung der Flu?chtlinge. Ihre Bedeutung in der heutigen Zeit. URL: http://www.unhcr.ch/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/1_international/1_1_voelkerrecht/1_1_1/FR_int_vr_GFK-Bedeutung_heute.pdf. [30.10.2015]
Letzte Änderung: 08.12.2021 | Erstellt am: 17.11.2021
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