Wenn Dokumente aus der NS-Zeit sich mit frühen Erinnerungen mischen, sieht man die eigene Kindheit in einen Albtraum gehüllt. Die Nationalsozialisten verhafteten jüdische Bürger, enteigneten sie und schickten sie in Konzentrationslager, mochten sie auch dekorierte Kriegsteilnehmer sein und Ehrenbürger. Peter Kern erzählt die Geschichte der Sägewerksbesitzer Samuel.
Die für den Neubau des Bahnhofs Biebermühle notwendigen Hölzer sollten ursprünglich aus dem Hobel- und Sägewerk der Gebrüder Samuel kommen. Rohe Dachbalken, gehobelte Bretter lieferte ihr gut gehendes Geschäft; das heißt, es lief gut, solange die Nazipartei noch nicht an der Macht war. Nach dem Januar 1933 ging das an der Rodalb gelegene Geschäft den Bach runter. Den Dorfnazis galten die Gebrüder als Kapitalisten. Ob sich der von den braunen Chefideologen gemachte Unterschied zwischen raffendem und schaffendem Kapital bis in die Westpfalz rumgesprochen hatte, ist fraglich. Das hätte auch nur Verwirrung gestiftet; denn die beiden mussten als ordentliche Schaffer gelten. Für die NSDAP vor Ort stellten sie eine schwer abzutragende Hypothek da.
Der Mann vertiefte sich in die Bruchstücke beider Biografien. Mit den Schriftstücken tauchte die Erinnerung auf. Der dem Samuelschen Sägewerk in der Bahnhofstraße benachbarte Lagerplatz diente den Dorfkindern als Spielplatz. Einen Herrn Samuel, der sie hätte verscheuchen können, gab es da nicht mehr. Die Bretter vor dem schwarz gestrichenen, großen Schuppen, darin die kreischende, die Baumstämme in Scheiben schneidende Säge, waren zum Trocknen übereinandergestapelt und mit Hölzchen auf Abstand gehalten. Vier, fünf solcher Holzstapel türmten sich nebeneinander auf, dazwischen schmale, begehbare Gänge. Die gestapelten Bohlen überragten die Köpfe der Kinder. Ein schönes Versteck, und es roch so gut nach Harz. Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein…
Die Fichten und Tannen für die Fabrik kamen aus den umliegenden Wäldern. Ging das Kind an den neben den Eisenbahnschienen aufgestapelten Baumstämmen vorbei, fiel ihm Der Gestiefelte Kater ein. – „Wem gehört der Wald? – Dem Grafen!“ War der Herr Knecht der Graf? Einmal hatte es beim Frühschoppen sonntags die Väter über das Sägewerk reden hören. Der Herr Knecht sei einmal der Knecht von dem reiche Judd gewesen. Der reiche Judd hätte sich abgemacht, und seitdem wäre der Knecht sein eigener Herr.
Wer waren überhaupt die Judde, fragte sich damals das Kind. An Sylvester ließ es mit seinem Indianerstamm die Juddeferz krachen, kleine, aneinandergebundene Kracher, die nicht richtig Krach machten, so wie die Chinaböller. Dafür knatterten sie aber lustig, wenn man einen ganzen Bund auf einmal anzündete. Beim Babilon gab es sogar eine 40er Kette für 20 Pfennige, im Geschäft, wo es sonst nur Tinte und Schulhefte zu kaufen gab.
Wer waren die Judde, wer war Ludwig Samuel? Vorgeführt bei der Gestapo im vorderpfälzischen Neustadt, gibt er folgendes zu Protokoll:
„Ich bin am 23.5.1885 in Rodalben als Sohn der Holzhändlerseheleute Josef Samuel und Babette geb. Kahn geboren. Die Volksschule besuchte ich bis zur 5. Klasse in Rodalben und anschließend 6 Klassen Realschule in Pirmasens. Nach Absolvierung der Realschule kam ich in Darmstadt in eine Holzhandlung als Lehrling. Im April 1906 rückte ich zum 18. Inf. Reg. Landau ein und machte dort mein Einjähriges. Nach Ableistung der Militärdienstzeit kehrte ich nach Rodalben zurück und betätigte mich in der elterlichen Holzhandlung. In der Zwischenzeit machte ich noch zweimal meine Reserveübungen beim 18. Regiment in Landau/Pfalz. Im Jahre 1913 verheiratete ich mich mit Johanna geb. Plauth und trat gleichzeitig als Teilhaber in das elterliche Geschäft ein.
Am dritten Mobilmachungstage 1914 rückte ich zum 18. Inf. Reg. ein und wurde sofort dem Bay. Reserveinf.Reg.Nr. 5 zugeteilt. Tags darauf kam ich ins Feld. Im September 1914 wurde ich zum Vizefeldwebel befördert und im Juli 1915 zum Leutnant der Landwehr. Während des Krieges wurde ich zweimal verwundet. Den Krieg habe ich bis zum Ende an der Front als Leutnant und Kompanieführer und später als Regimentsnachrichtenführer mitgemacht. An Auszeichnungen habe ich erhalten: E.K.1 und 2, das Bay. Militärverdienstkreuz 3. Klasse, den Bay. Militärverdienstorden 4. Klasse und wegen besonderer Verdienste den Bay. Militärverdienstorden 4. Klasse mit Krone. Außerdem erhielt ich das Verwundetenabzeichen und das Frontkämpferehrenkreuz. Nach dem Kriege betrieb ich vorerst noch mit meinem Vater und dann mit meinem Bruder Gustav das elterliche Geschäft. Vorbestraft bin ich noch nicht.“
Den die Geheime Staatspolizei als Verbrecher behandelte, gehörte zu den Honoratioren des Dorfs. Er saß dem Synagogenrat vor, sang mit seiner schönen Tenorstimme als der Vorbeter der Gemeinde, war Mäzen und Beirat des Vereins, dem der Ort sein Krankenhaus, das Sankt Elisabeth, zu verdanken hat und wetterte auf öffentlichen Versammlungen gegen die Nazis. Noch 1935 attackierte er in Zeitungsartikeln ihren Gauleiter Josef Bürckel. Der ließ den Sägewerksbesitzer mehrmals in Haft nehmen, konnte der ihm doch gefährlich werden. Denn auch Samuel und nicht nur Bürckels Kontrahent im Lehrerkollegium, Karch, behauptete, der Obernazi wäre einmal Separatist gewesen. Als Bürckel noch der kleine Schullehrer war, wäre er sogar ins Büro des Sägewerks eingebrochen, um dort seine an Samuel gerichtete Korrespondenz zu stehlen, da diese seinen früheren Separatismus belegt hätte. Ludwig Samuels Sohn Fritz gab das ihm vom Vater Erzählte wieder. Der Nationalsozialist der ersten Stunde als gewesener Franzosenfreund? Die Karriere wäre futsch gewesen, bevor sie in Gang hätte kommen können.
Den ausgewanderten Sohn hatte der Vater im damaligen Palästina besucht. Nach seiner Rückkehr wird er inhaftiert. Damals entsteht das wiedergegebene Gestapo-Protokoll. Es beginnt so:
„Neustadt a.d.Weinstr., den 14.9.1937
Vorgeführt erscheint:
Samuel, Vorname Ludwig,
Sohn von Josef und Babette geb. Kahn, geb. am 23.5.1885 in Rodalben, verheiratet mit Johanna geb. Plauth, israelische Konfession, Kaufmann und Holzhändler, z. Zt. im Amtsgerichtsgefängnis Pirmasens in Schutzhaft, mit dem Gegenstand seiner Vernehmung bekanntgemacht erklärt (…)
Ludwig Samuel wird aus dem Gefängnis entlassen. Sein Betrieb gehört nun einem Parteimitglied und einem parteilosen, weiteren Gesellschafter. Es sind seine früheren Angestellten. Der eine trägt den harmlosen deutschen Vorname Bernd als Nachnamen. Er und sein Kompagnon, der Herr Knecht, haben sich gerade das Säge- und Hobelwerk ihres Chefs unter den Nagel gerissen und nun markieren sie selbst den Chef. Das gesamte Gut der Firma eignen sie sich an, inklusive der Samuelsche Werbebotschaft. Noch in einer der Heimatgemeinde gewidmeten Festschrift aus den 60er Jahren konnte der Mann die identische Werbung lesen.
Ludwig geht nach Göppingen, um von dort zu emigrieren. Er wird im Zuge des Novemberpogroms verhaftet und vom 12.11. bis zum 26.11.1938 in Dachau inhaftiert. Nach seiner Entlassung muss er ins Krankenhaus; ein SS-Mann hat ihm in die Niere getreten. Dass er mittellos ist, wollen die Schergen nicht glauben. Sie verhaften ihn erneut, im Glauben, er habe noch irgendwo große Gelder versteckt. Endlich gelingt ihm mit Hilfe eines bayrischen Generals, in dessen Regiment er gedient hat, die Flucht nach England. Die Gestapo versucht alles, um seiner noch habhaft zu werden. In einem Schreiben vom 1. 4. 39 heißt es: „Ist Samuel bereits ausgereist, so bitte ich die Reisepässe seiner Familienangehörigen, soweit sie solche in Händen haben, vorerst einzuziehen mit der Begründung, dass Samuel ausgereist ist, obwohl er wusste, dass gegen ihn ein Gerichtsverfahren schwebt.“
Ludwigs Frau Johanna gelingt es, mit Hilfe der Schottischen Kirche und in der sprichwörtlich letzten Minute aus Deutschland mit einem Zug herauszukommen. In England bleiben die beiden während der ganzen noch verbleibenden Nazizeit. Ludwig wird kurzzeitig auf der Isle of Man interniert. Zurück in London findet er Arbeit und trägt Zeitungen aus. Seine Frau steht einem Restaurant vor.1946 emigrieren die beiden in die USA. Ihr noch vor Kriegsausbruch geflüchteter Sohn Albrecht hat in Indianapolis eine Firma für Möbelrestauration gegründet. Den Vater und gelernten Holzfacharbeiter kann THE SAMUELS’ FURNITURE COMPANY INDIANAPOLIS, IND. gut gebrauchen.
Der Vater starb 1951 in New York, die Mutter überlebt ihn um bald 30 Jahre. Samuel fühlte sich für den Tod seines zweiten Sohnes Manfred in Auschwitz mitverantwortlich. Der Zionist Manfred wollte nach Palästina und bereitete sich erst auf einem serbischen, dann auf einem holländischen Gut für ein Leben als Landwirt vor. In Holland kam er in ein Konzentrationslager, konnte fliehen und fuhr mit dem Fahrrad durch Frankreich bis zur Schweizer Grenze, wo ihn die Grenzbeamten an die Gestapo auslieferten. Manfred besaß ein amtliches, ihm das Ausreisegesuch nach Palästina genehmigendes Dokument, und man hätte ihn vielleicht gehen lassen. Der Versuch auszuwandern, unterblieb, vielleicht auch als Folge des Rates, den der Vater dem Sohn einmal gegeben hatte. Gehen oder bleiben? Ludwig Samuel hegte damals die Hoffnung, er könne mit der gesamten Familie nach Neuseeland oder nach Australien auswandern. Deshalb war sein Rat: „Bleib, wo du bist!“
Nach Kriegsende reiste Manfreds Mutter ins britische Mandatsgebiet Palästina, in der Hoffnung, ihren Sohn dort zu finden. Eine Frau hatte Nachricht gegeben; sie wüsste, Manfred lebe dort. Die Suche blieb ohne Erfolg. Man schickte die Mutter nach Paris, dort könne man ihr weiterhelfen. Auf einem für die Suche nach Vermissten eingerichteten Amt erklärte ihr ein jiddisch sprechender Mann, Manfred sei in Auschwitz ermordet worden.
Kurz vor seinem Tod geht Ludwig Samuel noch einmal nach Rodalben. Sein Sohn Fritz spricht von der Verbitterung seines Vaters. Den macht man zum Ehrenbürger des Dorfs, aber sein Eigentum ist unwiderruflich den Herren Bernd und Knecht vermacht.
Auszug aus „Manuskript sucht Verlag”. Der Text kam mit Hilfe des Archivs von Herrn Peter Conrad zustande.
Siehe auch:
Le Struthof
Letzte Änderung: 17.06.2023 | Erstellt am: 17.06.2023