Chinas Chance auf eine neue Weltordnung

Chinas Chance auf eine neue Weltordnung

Globalisierung
Stone with the name of AIIB, Jul 2019 | © Wikimedia Commons

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 wird die Weltordnung von der neoliberalen US-Politik dominiert. Diese Weltordnung sieht der Rechtswissenschaftler Michele Sciurba nun im Untergang begriffen. Der russische Angriff auf die Ukraine und die Führungsschwäche des Westens könnten seinem Urteil nach eine chinesisch geführte Welt wirklich werden lassen.

1989 erklärte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, „das Ende der Geschichte“ sei erreicht, und verkündete, dass sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion das westliche liberale Demokratiemodell als ideale Regierungsform durchgesetzt habe. 1 Fukuyama schloss sich damit den Befürwortern des Neoliberalismus an und ignorierte die Folgen einer Politik, die zu gescheiterten Staaten und wachsender Armut führte.

Der Philosoph Jacques Derrida kritisierte Fukuyamas liberales Politikverständnis und legte die von neoliberaler Politik ausgehende Gewalt, Ungleichheit und Ausgrenzung offen:
Denn in dem Augenblick, wo einige es wagen, Neo-Evangelisierung zu betreiben im Namen des Ideals einer liberalen Demokratie, die endlich zu sich selbst wie zum Ideal der Menschheitsgeschichte gekommen sei, muß man es herausschreien: Noch nie in der Geschichte der Erde und der Menschheit haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluß, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen. Anstatt in der Euphorie des Endes der Geschichte die Ankunft des Ideals der liberalen Demokratie und des kapitalistischen Marktes zu besingen, anstatt das „Ende der Ideologien“ und das Ende der großen emanzipatorischen Diskurse zu feiern, sollten wir niemals diese makroskopische Evidenz vernachlässigen, die aus den tausendfältigen Leiden einzelner besteht: Kein Fortschritt der Welt erlaubt es, zu ignorieren, daß in absoluten Zahlen noch nie, niemals zuvor auf der Erde so viele Männer, Frauen und Kinder unterjocht, ausgehungert oder ausgelöscht wurden. 2

In den 1980er Jahren propagierten Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die die neoliberale Politik von Ökonomen wie Milton Friedman vertraten, die Idee, ein ungezügelter Kapitalismus könne weltweit Wohlstand generieren, solange Kapital-, Waren- und Investitionsströme frei von staatlichen Eingriffen blieben.

Die Vorstellung, dass ein globaler Kapitalismus Wohlstand und ständiges Wachstum für alle garantieren könne, hat sich als Illusion erwiesen. Stattdessen hat ein ungezügelter Kapitalismus zu wachsender Ungleichheit und gewalttätigen Protesten wie auf der Ministerkonferenz 1999 in Seattle geführt.

Die Proteste in Seattle richteten sich gegen die aus Sicht der Entwicklungsländer scheiternde Freihandelspolitik der Welthandelsorganisation (WTO), die weder weltweite Armut bekämpfte noch die Achtung von Menschenrechten durchsetzte. Es waren die ersten internationalen Proteste, die über das Internet organisiert wurden und eine weltweite Anti-Globalisierungsbewegung auslösten.

Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die WTO spielten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Schlüsselrolle bei der Stärkung einer globalen neoliberalen Wirtschaftspolitik, die wiederum zur Entstehung gescheiterter Staaten und einer erheblichen Armutsentwicklung in Südasien und vielen Ländern südlich der Sahara führte. 3

Die 46 am wenigsten entwickelten Länder haben derzeit de facto immer noch keinen Zugang zum Weltmarkt. Das Welthandelsregime dient zum Nachteil der ärmsten Länder der Welt in erster Linie den Interessen reicher Industrienationen und multinationaler Konzerne, was zu wirtschaftlichen Gewinnern und Verlierern geführt hat.

Der zunehmende politische Bedeutungsverlust der EU

Die globale Finanzkrise 2008 stellte vorerst den Höhepunkt des Scheiterns neoliberaler Wirtschaftspolitik dar. Während bei früheren Finanzkrisen wie in Mexiko (1994-95), in Argentinien (1995) und in Ostasien (1997) Kapitalabflüsse lokal begrenzt waren, erreichten sie während der globalen Finanzkrise ein noch nie dagewesenes weltweites Ausmaß. 4

Im Anschluss an die Krise kam es zu einem politischen Rückschlag. Die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands und ihre Auswirkungen waren in der gesamten Europäischen Union zu spüren und nährten Zweifel am politischen und wirtschaftlichen Zusammenhalt der Union. Die durch den Irak- und Syrienkrieg ausgelöste Flüchtlingskrise im Jahr 2015 führte zu einer zunehmenden Europaskepsis.

Polen, Ungarn und Tschechien, die der EU im Rahmen der Osterweiterung beigetreten sind, haben zwar den gemeinsamen Binnenmarkt und die Wirtschaftsunion akzeptiert, aber große Teile der politischen Union und die demokratischen Werte der EU abgelehnt. Aufgrund ihrer Weigerung, sich an bestehende Verpflichtungen zur Aufnahme von Flüchtlingen zu halten, die sich aus den Verträgen der Europäischen Union ergeben, geriet die EU in eine tiefe Krise.

Interne Unstimmigkeiten innerhalb der EU und eine zunehmend instabile Partnerschaft mit den USA während der Trump-Regierung haben die EU als internationalen außenpolitischen Akteur erheblich geschwächt.

In seiner Rede anlässlich der Entgegennahme des Friedensnobelpreises 2009 in Oslo wies US-Präsident Barack Obama darauf hin, dass die Nachkriegsordnung nicht nur durch Institutionen und Verträge etabliert wurde, sondern dass die USA in den letzten sechs Jahrzehnten für die globale Sicherheit Sorge getragen haben. 5 In dieser Rede kündigte Obama bereits an, dass sich die USA aus dem Irak und Afghanistan zurückziehen würden.
 
 

 
 
Damit hat Obama eine Verlagerung des Schwerpunkts der geopolitischen Interessen der USA von Afghanistan und dem Nahen Osten auf den asiatisch-pazifischen Raum eingeleitet, und zwar sowohl durch militärische Aufrüstung als auch durch die Schaffung des transpazifischen Partnerschaftsabkommens in den Jahren 2015-2017.

Obamas Entscheidung, den geopolitischen Schwerpunkt der USA auf den pazifischen Raum zu verlagern, hatte Folgen für die chinesische und russische Außenpolitik. China hatte schon lange damit begonnen, seinen Einfluss zu vergrößern, indem es die WTO, der China 2001 beitrat, nutzte, um seinen wachsenden Hegemonieanspruch geltend zu machen.

Seitdem hat die Volksrepublik China mit Hilfe der Russischen Föderation eine alternative Architektur der Weltordnungspolitik geschaffen, nämlich den 2009 gegründeten BRICS-Handelsblock, dem Brasilien, die Russische Föderation, die Republik Indien, die Volksrepublik China und die Republik Südafrika angehören, sowie die Vereinbarung zur Kontingentreserve der BRICS-Staaten und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.

Seit 2013 dient die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Verbindung mit der Kontingentreserve als De-facto-Entwicklungsbank, die sicherstellt, dass die BRICS-Länder sich wechselseitig immer mit ausreichender Liquidität versorgen. Darüber hinaus hat China die Initiative „One Belt, One Road“ (Neue Seidenstraße) ins Leben gerufen. Die „Belt and Road Initiative“ (BRI) wurde 2014 ins Leben gerufen, nachdem Präsident Xi Jinping und Wladimir Putin eine Vereinbarung über die Entwicklung der BRI getroffen hatten.

Die wachsende Bedeutung der BRI für Russlands Unabhängigkeit vom Westen und die Schwächung der EU durch interne Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten mit ihren Verbündeten, insbesondere den USA und letztlich der Türkei, haben Russland neues Selbstvertrauen verliehen und Raum verschafft, sich zu etablieren.

Der Aufstieg von Populismus und das Wiederaufleben von Nationalismus in Europa und auf der ganzen Welt haben den Weg für den Brexit geebnet und autoritäre Führungen gestärkt.

Bislang war die EU nicht in der Lage, das durch die fehlende Führungsrolle der USA entstandene Machtvakuum zu füllen. Besonders deutlich wurde dies nach der Vereinbarung des damaligen US-Präsidenten Trump mit den Taliban über den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan, die von Präsident Joe Biden umgesetzt wurde.

Nach zwanzig Jahren der Besatzung und vielen unerfüllten Versprechen, Afghanistan beim Aufbau eines demokratischen Staates zu helfen, haben die Taliban die Macht in Afghanistan wieder übernommen.

Deutschland hat es versäumt, zahlreiche lokale Helfer aus dem Land zu evakuieren, obwohl seit Monaten klar war, dass die USA ihre Truppen aus Afghanistan abziehen würden und mit Vergeltungsmaßnahmen der Taliban zu rechnen war. Jetzt müssen die Zurückgelassenen um ihr Leben und das Leben ihrer Familien fürchten.

Russlands Krieg: das Ende unserer Weltordnung

Russlands Angriffskrieg in der Ukraine muss vor dem Hintergrund der NATO-Erweiterung an Russlands Westgrenze in den 1990er Jahren betrachtet werden, die trotz gegenteiliger Zusicherungen des Westens stattfand.

Die Bombardierung Serbiens durch die USA im Jahr 1993 brachte den Kreml zu der Überzeugung, dass die Russische Föderation nur in einer multipolaren Welt wieder eine relevante geopolitische Macht spielen würde. Damit setzte 1996 in Russland ein Umdenkprozess ein, der darin zum Ausdruck kam, dass Moskau 1999 seine Truppen der Stabilisierungstruppe (SFOR) von Bosnien nach Pristina verlegte, um einen weiteren Vormarsch der NATO-Kosovo Friedenstruppe (KFOR) zu verhindern und Serbien vor weiteren Gebietsverlusten zu bewahren.

Die Bombardierung Serbiens im Jahr 1993 und der zweite Irakkrieg im Jahr 2003, die beide ohne UN-Mandat durchgeführt wurden, stellten die Führungsrolle der USA in Frage und führten zu einer anhaltenden Erosion des Einsatzes der USA für demokratische Werte und der Verpflichtung zu internationalen Vereinbarungen.

Der zweite Irakkrieg markierte einen Wendepunkt in der Außenpolitik der USA und stellte ihr Engagement für die internationale Ordnung und Menschenrechte grundlegend in Frage. Bei der Bewältigung neuer Herausforderungen an die globale Sicherheitsarchitektur verließen sich die Vereinigten Staaten zur Durchsetzung geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen auf Strategien des Kalten Krieges und militärische Stärke.

Ironischerweise haben die Versuche der USA, ihre geopolitischen und Energiesicherheitsinteressen im Nahen Osten durchzusetzen, den Einfluss Russlands und Chinas in der Region verstärkt, da die USA die zunehmende Fragmentierung der Welt und den stärker werdenden Einfluss regionaler Akteure wie der Türkei ignoriert hatten.

Russland nahm die gescheiterte Mission der Vereinigten Staaten, dem Irak, Libyen und Syrien Frieden zu bringen, zum Anlass, sich als Regionalmacht im Nahen Osten, insbesondere in Syrien und im Iran, zu behaupten. Russland hat in den letzten Jahrzehnten aufgerüstet, verfügt heute über das zweitgrößte Atomwaffenarsenal und ist nach den USA die zweitstärkste Militärmacht.

Dieser Aufstieg Russlands und Chinas als militärische und geopolitische Akteure fiel mit der zunehmenden wirtschaftlichen Macht des BRICS-Handelsblocks zusammen, der heute im globalen Handel ein einflussreiches wirtschaftliches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten und Europa bildet.

Der neue wirtschaftliche und finanzielle Status der BRICS-Länder ist einer der Hauptgründe für die Unwirksamkeit der europäischen Sanktionen, die 2014 nach der Annexion der Krim gegen Russland verhängt wurden.

Die Krim-Annexion, die Vergiftung des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny im August 2020, der Wahlsieg Viktor Lukaschenkos in Weißrussland im selben Monat und seine von Russland unterstützte nationalistische Flüchtlingspolitik trugen zur weiteren Destabilisierung der EU-Russland-Beziehungen bei. Auch die Weigerung Polens, als EU-Mitglied Flüchtlinge aufzunehmen, spielte Weißrussland in die Hände und kam de facto Putin zugute.

Am 24. Februar 2022 befahl Putin seinen Truppen den Einmarsch in die Ukraine und brach damit die Charta der Vereinten Nationen und das Völkerrecht. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur ein trauriger Höhepunkt der Eskalation zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch zwischen Russland und den westlichen NATO-Mächten.

Die harten Wirtschaftssanktionen wie die Suspendierung von der Teilnahme am SWIFT-Zahlungssystem und die umfangreiche Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte haben Putin nicht zum Einlenken bewegt. Im Gegenteil drohte er auf dem G7-Gipfel erneut mit der Stationierung von Atomraketen in Belarus.

Putins klare Botschaft und wiederholte Warnung an den Westen lautete, dass Moskau Ziele angreifen werde, die bisher verschont geblieben sind, wenn der Westen die Ukraine mit Langstreckenwaffen belieferte, die Russland erreichen können. Was das genau heißt, kann man nur vermuten, aber es könnte eine weitere Eskalation des Krieges in den europäischen Nachbarländern bedeuten.

Putin hat vor kurzem erklärt, dass Russland, falls die Ukraine Langstreckenraketen erhalte, daraus die Konsequenzen ziehen und Vernichtungsmittel einsetzen werde, von denen Russland viele habe.

Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Welt wirtschaftlich gesehen auf eine neue bipolare Ära zubewegt, in der China, Russland und ihre Verbündeten den einen Pol und die Vereinigten Staaten, Europa und ihre Verbündeten den anderen Pol darstellen.

Der BRICS-Handelsblock und die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), der inzwischen die meisten asiatischen Länder als regionale Mitglieder sowie 17 NATO-Mitgliedstaaten angehören, zeigen, dass China, Russland und andere Länder eine funktionierende Alternative zu den USA und der EU geworden sind.

Diese Entwicklungen veranlassten die Trump-Regierung zu dem Schluss, dass der Versuch, China zu einer Annäherung an die Vereinigten Staaten zu bewegen, der 1972 mit Nixons Besuch in China begann, gescheitert war.

Diese außenpolitische Kehrtwendung der USA bedeutete wie viele weitere zuvor einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit, der Verbote chinesischer Technologie und Handelssanktionen umfasste, die die Existenz der WTO gefährdeten.

In der Rede „Kommunistisches China und die Zukunft der freien Welt“ des damaligen Außenministers Michael Pompeo am 23. Juli 2020 in der Richard-Nixon-Bibliothek in Kalifornien sagte Pompeo, dass Amerika die grundlegenden politisch-ideologischen Unterschiede zwischen beiden Ländern nicht länger ignorieren könne, so wie die Kommunistische Partei Chinas sie nie ignoriert habe.

Dies war die offizielle Erklärung eines neuen Kalten Krieges zwischen China und den USA. Obwohl die Biden-Regierung die Rhetorik des Kalten Krieges vorsichtiger gebraucht, ist Bidens Wirtschafts- und Handelspolitik genauso aggressiv wie die seines Vorgängers.

Sicherheitspolitisch betrachtet befinden wir uns bereits jetzt in einer multipolaren Welt, in der es Russland gelungen ist, durch seine militärische Bedeutung eine zentrale Rolle einzunehmen. BRICS, BRI und das chinesische Cross-Border Inter-Bank Payments System (CIPS), das parallel zum US-gesteuerten Swift-System läuft, machen deutlich, warum die aktuellen Sanktionen gegen Russland nicht den vom Westen gewünschten Erfolg gebracht haben.

Was kommt als nächstes? Während der Westen die Führung verliert, ist China auf dem Vormarsch

Der Zerfall der Nachkriegsordnung ist in vollem Gange. Für viele markiert der Zusammenbruch der Sowjetunion das Scheitern der sozialistischen Planwirtschaft und den Triumph des Marktkapitalismus.

Jüngste Marktversagen wie die globale Finanzkrise von 2008 und die zunehmende Ungleichheit der wirtschaftlichen Entwicklung haben jedoch gezeigt, dass der neoliberale Marktkapitalismus zu wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entmündigung ganzer Staaten und ihren Bevölkerungen geführt hat, was die globale Führungsrolle der westlichen Demokratien nachhaltig in Frage stellt.

China und Russland schwächen das Modell des demokratischen Kapitalismus unter westlicher Führung durch ihre geopolitische, militärische und wirtschaftliche Macht zunehmend.

Die Ohnmacht der westlichen Welt zeigt sich besonders deutlich in ihrem Umgang mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Die Abhängigkeit Europas von russischem Gas und die wichtige Rolle der Ukraine für die weltweite Getreideversorgung machen eine rasche Beendigung des Krieges immer dringlicher, während China, die größte Diktatur der Welt, sich durch den schwindenden Einfluss des Westens ermutigt sieht, wie die derzeitigen Militärmanöver Chinas rund um Taiwan zeigen.

China könnte tatsächlich trotz seiner zentralen Planwirtschaft und der Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten zur führenden Hegemonialmacht der Welt werden. Bereits jetzt schwächeln die Aussagen westlicher Politiker, China wirtschaftlich sanktionieren zu können, vor dem Hintergrund tatsächlicher Machtverhältnisse und ökonomischer Abhängigkeiten.

Die Partnerschaft zwischen Russland und China, insbesondere durch mächtige Handelsabkommen wie BRICS und BRI über das CIPS-Zahlungssystem, hat eine neue Weltordnung eingeläutet.

Es bleibt abzuwarten, ob es neben dem wirtschaftlichen und ideologischen Wettbewerb zwischen den USA und China auch zu einer militärischen Konfrontation im Südchinesischen Meer kommt, ob China, Russland und der Westen die Konfrontation im Kampf um Ressourcen suchen oder ob gar eine neue globale Kooperation unter chinesischer Führung im Kampf gegen den Klimawandel denkbar ist.

Schließlich haben militärische Konflikte und die internationale Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte dazu geführt, dass die vom Klimawandel am stärksten betroffenen Länder sich am wenigsten vor seinen Folgen schützen können. Die Entwicklungsländer leiden immens unter den Folgen einer Umweltzerstörung, für die China und die USA die größte Verantwortung tragen.

In einer Zeit, in der Zusammenarbeit dringend erforderlich ist, zersplittert unsere Welt zunehmend und zerfällt in besorgniserregende regionale Bündnisse, die oft nationalistisch und anachronistisch geprägt sind. Zusätzlich wird der globale Krisenmodus weiter durch den russisch-ukrainischen Krieg verschärft, bei dem keine Seite, auch der Westen nicht, eine Strategie der Deeskalation zu verfolgen scheint.

Die Strategie des Westens, den wiedererstarkten Machtanspruch Russlands durch Wirtschaftssanktionen einzudämmen, ist wenig tragfähig. Russlands Sicherheitsinteressen müssen genauso wie der Wunsch der Ukraine nach territorialer Integrität ernst genommen werden. Trotzdem wird es ohne Kompromisse, mögliche territoriale Verluste und einen neuen, intensiven Dialog zwischen Russland und den westlichen Staaten keinen Frieden geben. Hier könnte die EU eine Schlüsselrolle übernehmen, wenn sie sich auf ihre eigene Stärke und Eigenständigkeit als supranationale Organisation besinnen würde.

Russland bietet in Verbindung mit China Alternativen zu einem von den USA dominierten Wirtschaftssystem und weitet so seinen geopolitischen Einfluss aus. Gleichzeitig nutzt China die bestehende Weltordnung und die globale Governance-Struktur zu seinen Gunsten. Durch überdurchschnittlich hohe personelle Präsenz und immer stärker werdendes grenzüberschreitendes finanzielles Engagement gewinnt China innerhalb internationaler Organisationen wie der UN-Gruppe, Weltbank-Gruppe und WTO so zunehmend Einfluss.

Der Missbrauch von Artikel 51 UN-Charta: „Selbstverteidigung“

Die neue Weltordnung begünstigt keine pazifistischen Konfliktlösungsstrategien, auch wenn der „Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ durch die Schaffung der Vereinten Nationen obsolet geworden ist und von der Weltgemeinschaft überwunden worden zu sein schien.

Stattdessen ist dieser Anachronismus wieder zu einer möglichen Handlungsweise geworden. Spätestens seit der Bombardierung Serbiens rechtfertigen die westliche und die russische Seite ihre Kriege auf der Grundlage des „gerechten Krieges“, obwohl der letzte eindeutige „gerechte Krieg“ der gegen Nazideutschland war.

Das Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta bezieht sich grundsätzlich auf das Völkergewohnheitsrecht und sollte nur bei einem bewaffneten Angriff ausgeübt werden. In den vergangenen Jahrzehnten haben die USA und Russland dieses Recht wiederholt unter dem Vorwand der „präventiven Selbstverteidigung“ missbraucht.

Das neu entfachte Wettrüsten und der Mangel an friedenserhaltender Diplomatie lassen derzeit in einer multipolaren Welt wenig Raum für eine positive Prognose.

Umso wichtiger ist es, alle verfügbaren diplomatischen Mittel für Verhandlungen mit Russland und der Ukraine zur Beendigung dieses Krieges auszuschöpfen und an einer Sicherheitsarchitektur zu arbeiten, die vor allem auf Friedenssicherung und weniger auf Abschreckung durch Aufrüstung setzt.
 
 

1) F. Fukuyama, ‚The End of History?‘ (1989) The National Interest 16, 3–18, 4: “Was wir möglicherweise erleben, ist nicht nur das Ende des Kalten Krieges oder das Ende einer bestimmten Periode der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als solcher: das heißt, der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Form der menschlichen Regierung.“ (eigene Übersetzung).

2) J Derrida, Marx’ Gespenster: Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (Suhrkamp 2019) 121.

3) R Horner et al., ‚Globalisation, uneven development and the North-South ‘big switch’‘ (2018) Cambridge Journal of Regions, Economy and Society 11, 18.

4) S Radelet, JD Sachs, RN Cooper, BP Bosworth, ‚The East Asian Financial Crisis: Diagnosis, Remedies, Prospects‘ (1998) Brookings Papers on Economic Activity 1, 2 f.

5) B O’Connor, D Cooper, ‚Ideology and the Foreign Policy of Barack Obama: A Liberal‐Realist Approach to International Affairs‘ (2021) Presidential Studies Quarterly 51(3) 645 ff.

6 ) M Dunford, W Liu, ‚Chinese perspectives on the Belt and Road Initiative‘ (2019) Cambridge Journal of Regions, Economy and Society 12(1) 150.

7) Global Firepower (GFP), ‚2022 Military Strength Ranking‘ aufgerufen am 5. Juli 2022.

8) TD Gill, ‚Legal Basis of the Right of Self-Defence under the UN Charter and under Customary Law‘ in TD Gill, D Fleck (Hrsg.), The Handbook of the International Law of Military Operations (2. Aufl., OUP 2015) 214 f.

 
 

Siehe auch:
Englische Fassung: New World order – Chinas Win

Letzte Änderung: 18.08.2022  |  Erstellt am: 15.08.2022

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Kommentare

Gerd Schüler schreibt
Wertigkeit Beurteilung des aktuellen Zustands! Gratuliere!
Matthias Schulze-Böing schreibt
Die Sachinformationen dieses Artikels sind für aufmerksame Zeitungsleser der letzten Jahre nicht neu. Das ist alles richtig wiedergegeben. Bei der Interpretation der Entwicklungen allerdings regt sich Widerspruch. Das wäre ausführlicher zu diskutieren. Dafür ist hier nicht der Platz. Deshalb nur wenige Stichworte: 1. Wieder einmal wird der Neoliberalismus für fast alle Weltübel und letzten Endes auch für die aktuelle Kriegssituation verantwortlich gemacht. Das ist sehr kurz gesprungen. Die Entfesselung der Märkte und die Globalisierung haben vielmehr beispiellose Fortschritte bei der Entwicklung eines weltweiten materiellen Wohlstands und der Bekämpfung der Armut gebracht, allerdings um den Preis der Zunahme ökologischer Risiken durch Ressourcenverbrauch und Klimagase. Die Ungleichheit sowohl zwischen den Regionen und Staaten der Welt als auch innerhalb einiger Länder (keineswegs allen!) haben sich reduziert und sind entgegen der Auffassung des Autors nicht weiter angewachsen. Ein Blick in die Daten der Weltbank oder der UN zeigt das ebenso wie die Ergebnisse von Ungleichheitsforschern. In so einer wichtigen Frage einen wirtschaftlichen Laien wie Derrida zu zitieren, ist schon etwas abwegig. Derrida hielt sich, typisch französischer Intellektueller, für allzuständig, was aber nicht heißt, dass man seine Einlassungen außerhalb der Philosophie allzu ernst nehmen müsste. Als Beleg für eine steile These eignen sie sich auf jeden Fall nicht. 2. Es wird von einer Allianz der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) gesprochen, die den Westen erfolgreich herausfordern könnte. Das Kürzel BRIC ist eine Erfindung der Finanzmärkte, die in den neunziger Jahren auf die besonderen Wachstumspotentiale dieser Länder gesetzt hatten. Politisch gibt es da wenig bis nichts. Man schaue sich nur mal Verhältnis zwischen Indien und China an. Da gibt es latente Kriegsgefahr durch Grenzstreitigkeiten und Gerangel um regionale Vormacht. Wirtschaftlich stützten sich Russland und (eingeschränkt) Brasilien ausschließlich auf ihre Rohstoffe. Von einer eigenständigen Wachstumsstory sind beide Länder weit entfernt. Und nur die Rohstoffe machen sie für China interessant. 3. Das geopolitische Gewicht Chinas stützt sich auf seine Wirtschaftskraft und seine Bereitschaft, auch mit den übelsten Autokratien zusammenzuarbeiten, wenn es denn Vorteile bringt. Eine wirkliche, den USA vergleichbare, Führungsrolle ist nirgends zu erkennen. Die Länder Asiens verbünden sich eher gegen China und seine imperialen Bestrebungen. Was von chinesischer Hilfe langfristig zu halten ist, erfahren die Ceylonesen gerade in schmerzhafter Weise. Sie werden mit ihren Problemen alleingelassen. Von irgendeiner BRIC-Aktion zur wirtschaftlichen Rettung ist weit und breit nichts zu sehen. Russland ist in Afrika und Asien ohnehin nur militärisch und destruktiv unterwegs, mit Waffenlieferungen, Söldnertruppen, gezielter Destabilisierung und dem Befeuern von Bürgerkriegen. Siehe Syrien, siehe Libyen. Der Vorteil des Westens und der USA ist nach wie vor, dass sie nicht nur "hard power" in Form von Waffen, sondern auch "soft power" in Form von Werten, halbwegs funktionierenden Institutionen und Solidarität jenseits von unmittelbaren Eigeninteressen aufzubieten haben. 4. Es wäre grandios, wenn Europa sich zu einer Macht entwickelt hätte, die neben die USA treten und damit zum Beispiel ein gegenüber dem US-amerikanischen Kapitalismus etwas solidarischeres Wiretschafts- und Gesellschaftsmodell stark machen könnte. Allein, die EU hat es bisher versäumt, ihre zweifellos vorhandene "soft power" durch "hard power" zu untersetzen. Militärisch geht ohne die USA nichts. Das sieht man je gerade wieder und wird in der Welt sehr aufmerksam wahrgenommen. Solange sich daran nichts ändert, sind die USA wie in der gesamten Nachkriegszeit die einzigen Garanten von Freiheit und Wohlstand. Wenn sich daran etwas ändern sollte, brauchte es gesamteuropäische "Zeitenwenden" von enormen Ausmaß. Danach sieht es nicht aus. Besitzstände und soziale Transfers scheinen wichtiger zu sein. 4. Was die vielzitierten "Sicherheitsinteressen" Russlands angeht - worin sollen die denn bestehen? In der ungestörten Entwicklung einer imperialen Autokratie? In der Gewährung von "Einflusszonen", was ja letzten Endes nur heißt, dass man akzeptiert, dass bestimmten Völkern, die das Unglück der geografischen Nähe zu Russland haben, elementare Grundrechte wie die Bestimmung der Regierungsform (z. B. Demokratie) oder die Wahl von Bündnispartnern und Allianzen (z. B. Nato und EU) vorenthalten werden? Die Nato hat sich ja nicht einfach "ausgedehnt". Es waren die vitalen Sicherheitsinteressen der Ländern Osteuropas, die sie dazu gebracht haben, aus völlig freien Stücken einen Mitgliedsantrag zu stellen. 5. Natürlich wäre es sehr schön, wenn der Krieg in der Ukraine durch Verhandlungen beendet werden könnte. Doch es geht um den Preis. Wenn der Autor fabuliert, dazu gehörten selbstverständliche territoriale Zugeständnisse, spielt er die Karte Putins. Der will sich einfach große Teile der Ukraine, am besten die ganze Ukraine einverleiben. Selbst wenn die Ukraine sich auf Zugeständnisse einlassen würde - wer verhindert, dass Russland nach kurzer Erholungspause zu erneuten Eroberungen ansetzt? Wirksam ginge das nur, wenn die Ukraine im Gegenzug zu Zugeständnissen in die Nato und die EU eintreten würde. Das scheint die einzig tragfähige Option. Aber auch dann muss man sich natürlich fragen, ob man für einen Frieden nicht grundlegende Werte des Westens verraten hätte. Die Friedensbewegten in Deutschland waren dazu immer gerne bereit. Wie nachhaltig eine solche Strategie ist, konnte man beim russischen Einmarsch in die Ukraine sehen.
Dr. Michele Sciurba schreibt
Wenn ein Philosoph wie Derrida die Verkündung Fukuyamas vom dem Ende der Geschichte, bei dem sich die westliche liberale Demokratie final als ideale Regierungsform durchgesetzt habe, kritisiert, und zu Recht auf die von neoliberaler Politik ausgehende Gewalt, Ungleichheit und Ausgrenzung hinweist, ist das nicht nur angemessen, sondern die Aufgabe der modernen Philosophie. BRICS als Handelsblock und Vereinigung von Staaten zu negieren, ist angesichts der jährlich stattfindenden Gipfeltreffen und gemeinsamen Erklärungen und Vereinbarungen über wirtschaftliche, politische und militärische Ziele offensichtlich nicht haltbar. Nachfolgend beispielhaft die letzte Erklärung der BRICS-Staaten. XIV BRICS Summit Beijing Declaration: http://brics2022.mfa.gov.cn/eng/dtxw/202206/t20220624_10709295.html Jedes Jahr rückt der Stichtag (Erdüberlastungstag), ab dem die Weltbevölkerung ihre ökologischen Ressourcen für 365 Tage aufgebraucht hat, früher an den Jahresanfang. 2022 war dies der 28. Juli. Welche genauen UN-Datenbanken und Weltbank-Datenbanken belegen sollen, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten 25 Jahre zu einer erheblichen Armutsreduktion und zum Abbau globaler Ungleichheit geführt hat, bleibt unklar. Eindeutig ist jedoch, dass wir die Erde durch den Glauben an ein unbegrenztes Wachstum zielsicher in den ökologischen Kollaps führen. Die derzeit 47 am wenigsten entwickelten Staaten der Welt mit insgesamt 1,08 Mrd. Einwohnern sind die vom Klimawandel und der Globalisierung am negativsten und stärksten betroffenen Länder.
Harry Oberländer schreibt
Der Garant für Wohlstand und Demokratie, die USA, sind der der Größte Exporteur von Waffen. Wie bei "Statista" nachzulesen, gehen 37% der weltweiten Waffenexporte im Zeitraum 2016 bis 2020 von den Vereinigten Staaten aus. Auf Rang zwei steht Russland mit 20%, gefolgt von Frankreich mit 8,2 und Deutschland mit 5,2 in 2020. Mehr als die Hälfte aller Waffenexporte aus US Rüstungsfabriken ist in den vergangenen fünf Jahren in den Nahen Osten gegangen. Die Destabilisierung des Nahen Osten durch den zweiten Irakkrieg ohne UN-Mandat mit 43 Verbündeten haben die USA zu verantworten, wie auch den Abzug aus Afghanistan, das jetzt wieder von den Taliban beherrscht wird. Insofern ist auch an dieser Stelle die Kritik von Matthias Schulze-Böing nicht schlüssig.
Michael Detjen schreibt
Gleichwohl ist Kritik willkommen. Wenn sich Kritik, aber in dem Lobgesang auf eine gescheiterte neoliberale Ideologie beschränkt, driftet die Kritik ab. Wenn noch dazu Fakten behauptet werden, ohne diese zu belegen, wird die Kritik gänzlich zur Farce. Wo der "Beispiellose Fortschritt, des materiellen Wohlstands und der Bekämpfung der Armut abgeleitet werden kann, bleibt so im Dunkeln und Geheimnis des Kritikers. Die beispielose materielle Entwickelung in der VR China, kann ja wohl nicht gemeint sein, denn sie basiert auf eine dem Neoliberalismus entgegengesetzten "Kapitalismus"-Umsetzung, die nicht auf die unsichtbare Hand des Marktes setz, sondern auf dessen gezielte Steuerung. Auch fehlen zu den Behauptungen, des Kommentators Herrn Matthias Schulze-Böing jegliche Quellenangaben, weil genau diese, wohl eher das Gegenteil aussagen. Da bin ich mal gespannt welche konkrete Quelle Herr M.S.-B. für seine Vermutungen benennt. Die semantischen Einlassungen sind sowieso nicht der Rede wert. Auch bleibt es Geheimnis des Kritikers dieses Kommentars wenn er resümiert. "Wenn sich daran etwas ändern sollte, brauchte es gesamteuropäische "Zeitenwenden" von enormen Ausmaß. Danach sieht es nicht aus. Besitzstände und soziale Transfers scheinen wichtiger zu sein." Wo und wie solche "Sozialtransfers stattfinden sollen, Europa überlässt, zu meinem Bedauern gerade die Soziale-Verantwortung, damit auch Sozialtransfers im Sinne der Subsidiarität, den Mitgliedsstaaten. Nicht einmal eine Arbeitslosenrückversicherung, oder eine EU Weite Sozialversicherungsnummer, ist dank der neoliberalen Intervention aus Deutschland bisher gescheitert. Zur NATO kann man zwar, wie dies anscheinend, einige Staaten glauben, meinen, sie sei eine Absicherung, des eigenen Interesses, für osteuropäische Länder, wann sie jedoch greift, ob sie dann, wenn sie gebraucht werden würde, tatsächlich Beistand leistet und leisten kann, wird auch von Präsidenten, und deren Format abhängen. Ob ein Donald Trump, da nicht seinen "besten Freunden Kim Jon und und Wladimir Putin" (von ihm selbst so bezeichnet, eher zu Hilfe eilen würde, als den europäischen Staaten, deren Spitzen er sogar den Handschlag verweigerte (denken wir an Frau Merkel), den er den beiden Vorgenannten gab, muss auch dahingestellt sein bleiben. Nach meinem Dafürhalten wäre jegliche Regierung innerhalb der EU gut beraten, die Rede von Emmanuel Macron an der Sorbonne, aus dem Jahre 2017 ernst zu nehmen, und dabei auch inkludiert das Angebot von Emmanuel Macron gemeinsam, ein souveränes Europa zu schaffen. Wer wiederum das nun als intellektuelles Geschwätz und Unverständnis in der französischen Politik abtun möchte, muss sich nach der Ernsthaftigkeit seiner Kritik fragen lassen. Nur ein souveränes Europa, mit einer eigenen starken europäischen Armee, und gemeint ist eine Armee, die über europäische Waffensysteme verfügt, nicht über 150 wie es die NATO tut, sondern über 30, die schlagfähig und einsatzfähig sind, die damit europäischen Interessen so wahrnehmen kann, macht Sinn. Dies im übrigen sinnvollerweise als eine Parlamentsarmee wie wir sie in Deutschland kennen. Dass sie dabei sehr wohl auch einem Präsidenten unterstellt er sein kann, schließt sich nicht aus. Allerdings ist dann, der jährliche Beitrag, inklusive Sondervermögen im deutschen Haushalt, von im Moment etwa 150 Milliarden €, bei Weitem nicht ausreichend, das muss klar dazu gesagt werden. Bisher geben allein die USA ca. 700 Milliarden $ jährlich für Rüstung aus, was mehr ist als 40 % der gesamten Rüstungsausgaben weltweit sind. Wenn wir also unsere Interessen selber verteidigen wollen, wird uns über kurz oder lang nichts anderes übrig bleiben, als einen ähnlich hohen Betrag in unsere Verteidigung zu stecken. Bewusst will ich an dieser Stelle nicht Rüstung sagen, denn Rüstung hat nach wie vor einen imperialen Charakter, und wo bitte außer in den USA wird eine dermaßen exorbitante Summe für Rüstung ausgegeben? Dies alles natürlich nur zu unserer aller Sicherheit.
Matthias Schulze-Böing schreibt
Es wurde nach einem Beleg gefragt. Zum Beispiel diese, in der Fachwelt als außerordentlich seriös und zitabel angesehene Studie: "We estimate trends in global earnings dispersion across occupational groups by constructing a new database that covers 68 developed and developing countries between 1970 and 2018. Our main finding is that global earnings inequality has fallen, primarily during the 2000s and 2010s, when the global Gini coefficient dropped by 15 points and the earnings share of the world's poorest half doubled. Decomposition analyses show earnings convergence between countries and within occupations, while within-country earnings inequality has increased. Moreover, the falling global inequality trend was driven mainly by real wage growth, rather than changes in hours worked, taxes or occupational employment." Olle Hammar & Daniel Waldenström, 2020. "Global Earnings Inequality, 1970–2018," Economic Journal, Royal Economic Society, vol. 130(632), pages 2526-2545. Download von https://ideas.repec.org/a/oup/econjl/v130y2020i632p2526-2545..html Auf der Ebene der Länder gab es eine Angleichung der Einkommen, innerhalb der Länder hat sich die Ungleichheit dagegen erhöht. Allerdings nicht durchgehend. In Deutschland etwa stieg die Einkommensungleichheit bis 2005 und stagnierte dann, ging sogar zuweilen leicht zurück. Ironischerweise endete die Zunahme der Ungleichheit mit der Umsetzung der Hartz-Reformen, die in unseren linken Kreisen gerne (meist auch ohne Beleg) als Treiber der Spaltung der Gesellschaft angesehen werden. Was Besitzstände und Transfers in Europa angeht - unter ersterem würde ich vor allem die Agrarsubventionen subsumieren, die Sozialtransfers sind in der Tat in der Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten. Grundsätzlich ist gegen sie nichts zu sagen; aber sie binden halt in dem großen Umfang, den sie inzwischen angenommen haben Haushaltskapazitäten und engen vor allem in der Zukunft politische Spielräume ein. Und wie der chinesische Kapitalismus letzten Endes einzuordnen ist, wäre eine eigene Diskussion wert. Die Liberalisierung der Märkte ist auf jeden auch dort ein zentrales Element.
Dr.Michele Sciurba schreibt
Die von Herrn Matthias Schulze-Böing genannte Quelle belegt nicht, die These abnehmender globaler Armut, es wurden insgesamt 68 Industrieländer und Entwicklungsländer miteinander verglichen Im Bezug auf Einkommensunterschiede. Die Autoren halten zudem fest, das trotz der insgesamt durchschnittlich gestiegenen Einkommen in dem Betrachtungszeitraum innerhalb der Entwicklungsländer die Einkommensungleichheit erheblich zugenommen hat. Bereits aus dem Abstrakt wie das nachfolgende Zitat zeigt, ergibt sich dass die Quelle ungeeignet ist für den Beleg der These von Herrn Schulze-Böing. “We estimate trends in global earnings dispersion across occupational groups by constructing a new database that covers 68 developed and developing countries between 1970 and 2018. Our main finding is that global earnings inequality has fallen, primarily during the 2000s and 2010s, when the global Gini coefficient dropped by 15 points and the earnings share of the world's poorest half doubled. Decomposition analyses show earnings convergence between countries and within occupations, while within-country earnings inequality has increased.” Man sollte auch tatsächlich, in einer sachlichen Debatte die Quellen zur Verfügung stellen können, auf die man angeblich Bezug genommen hat d.h. in diesem Fall UN und Weltbank Daten.
Matthias Schulze-Böing schreibt
Ganz aktuell liegt der Weltbank-Ungleichheitsreport vor: https://wir2022.wid.world/ Daran hat auch Thomas Piketty mitgearbeitet, dem Lieblingszeugen der Linken gegen die Übel des weltweiten Kapitalismus. Ich habe den neuesten Report noch nicht durchgearbeitet. Der Befund von Hammer und Waldenström wird jedoch schon im Executive Summary bestätigt. Seit etwa 1980 geht die weltweite Ungleichheit der Einkommen, auf Länderebene betrachtet, zurück. War 1980 das Einkommen der reichsten 10 Prozent der Länder 53 mal höher als das der unteren Hälfte der Länder, ist es 2020 nur noch 38 mal höher. Das ist immer noch sehr viel, zeigt aber, dass die Globalisierung und die Öffnung der Märkte zu einer Reduzierung der Ungleichheit beigetragen haben. Und darum ging es in dem Argument. Im Augenblick erleben wir ja eine Tendenz zur De-Globalisierung, zur Rückholung der Produktion aus anderen Ländern und zur Abschottung von Märkten. Hintergrund sind natürlich vor dem Hintergrund der Erfahrungen während der Corona-Krise und des aktuellen Ukraine-Kriegs Sicherheitsüberlegungen, aber auch schlichter Protektionismus à la Trump und vielen seiner offenen und stillen Fans. Das wird nur wenigen nutzen. Für die Mehrheit der Menschen wird es gravierende Nachteile bringen. Ich halte das beliebte Neo-Liberalismus-Basking für verfehlt. Der Kapitalismus kann mehr als viele denken. Es kommt natürlich darauf an, ihn zu moderieren und zu steuern, wo es um Sozial- und Umweltstandards geht. Bei Industriepolitik, die ja heute wieder hoch gehalten wird (mit Mariana Mazzucato als sich bestens verkaufende Star-Ökonomin vornedran), bin ich eher skeptisch. Da gibt es ein paar Erfolge (z. B. Airbus), aber auch viele teure Flops. Wenn Mazzucato argumentiert, dass alle technischen Innovationen, die zum I-Phone geführt haben, durch staatliche oder staatlich geförderte Forschung zu Stande gekommen sind (in "Das Kapital des Staates") mag das stimmen. Aber es hat eben einen Steve Jobs und sein Unternehmertalent gebraucht, aus den technischen Innovationen ein I-Phone zu machen. Deshalb - Vorsicht bei der neuen Liebe zum starken Staat in der Wirtschaft. Ein solcher Diskussions-Chat ist aber nur bedingt geeignet, all diese Fragen seriös zu diskutieren. Deshalb sollte man es erst Mal bei diesem munteren kleinen Schlagabtausch belassen.

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