Wissen und handeln

Wissen und handeln

Kontrapunkt

Wider besseres Wissen zu handeln ist kein Ausrutscher der menschlichen Natur, sondern ein etabliertes Laster. Und weil die Vernunft keine gute Presse hat, tut sich unsere Gesellschaft so schwer mit dem Fortschritt zu ihrem Vorteil. Thomas Rothschild kommentiert diese Trägheit des Geistes und des Herzens.

Die Menschen tun zu wenig gegen den Klimawandel, gegen den Ausstoß von CO₂ im eigenen Land und weltweit, gegen die Bevorzugung der Interessen der Autoindustrie gegenüber dem Umweltschutz. Die Gefahren des Rauchens, für den Raucher selbst und für seine Umwelt, werden nach wie vor bagatellisiert. Der Antisemitismus nimmt zu und junge Menschen können sich unter Stichwörtern wie Shoah oder Holocaust nichts vorstellen.

Soweit die Diagnose. Für die Therapie gibt es eine stereotype Antwort: Man muss Wissen verbreiten, dann werden diese Missstände verschwinden. Also veranstaltet man Kundgebungen und Vorträge, veröffentlicht lange Artikel und Bücher, die über Ursachen und Folgen des Klimawandels belehren. Also schreibt man der Zigarettenindustrie vor, dass sie auf jeder Packung vor der Gefährdung der Gesundheit durch Rauchen oder vor der tödlichen Wirkung des Rauchens warnen muss. Also reist man mit Schülern nach Auschwitz, um einen sinnlichen Eindruck des Holocaust zu vermitteln.

All dies jedoch zeigt wenig Wirkung. Es mangelt nicht an Wissen. Was die Politiker und ihre Berater ignorieren, ist die Tatsache, dass kein direkter Weg vom Wissen zum richtigen Handeln führt. Warum das so ist, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, ist seit mindestens 64 Jahren, seit dem Erscheinen von Leon Festingers „A theory of cognitive dissonance“ bekannt. Könnte es jedenfalls sein. Offenbar reicht das Wissen derer, die sich (und anderen) ständig das Heil von mehr Wissen versprechen, dafür nicht aus.
Die Theorie der kognitiven Dissonanz besagt, dass nicht vereinbare Erkenntnisse ein Unbehagen, eine Dissonanz erzeugen, die nach Auflösung drängt. Um diese Dissonanz zu beseitigen, werden, in der Regel unbewusst, verschiedene Mechanismen eingesetzt: Sekundärrationalisierung, Verdrängung, Vergessen etc.

Wer weiß, dass Autoabgase für das Klima schädlich sind, aber dennoch gerne Auto fährt, wird sich einreden, dass es auf ihn nicht ankomme, dass sein Auto ohnedies vergleichsweise „sauber“ sei, dass der Schaden geringes Gewicht habe im Vergleich zum Nutzen des eigenen Autos, dass es für die berufliche und private Mobilität unverzichtbar sei. Wer weiß, dass Rauchen seine Gesundheit gefährdet, aber auf den Genuss des Rauchens nicht verzichten möchte oder, als Süchtiger, kann, wird sich einreden, dass die Menge seines Zigarettenkonsums keine Gefahr bedeute, dass er, wenn er wollte, jederzeit mit dem Rauchen aufhören könne, dass man auch ohne Rauchen Krebs bekommen könne. Wer über den Massenmord an den Juden Bescheid weiss, sich aber nicht eingestehen möchte, dass seine Eltern oder Großeltern in der einen oder anderen Weise daran beteiligt waren oder ihn zumindest toleriert haben, wird sich einreden, dass man als Zeitgenosse nichts davon wissen musste, dass es lebensgefährlich war, sich dazu zu äußern oder gar Widerstand zu leisten, dass es nachvollziehbare Gründe für die Judenfeindschaft gegeben habe, dass der Holocaust, im Maßstab der Weltgeschichte, mit den Worten Alexander Gaulands ein „Vogelschiss“ war.

In all diesen und vielen weiteren Fällen fehlt es nicht an Wissen. Weil aber die psychischen Mechanismen zum Selbstschutz davor bewahren, aus dem Wissen die richtigen und notwendigen Schlüsse zu ziehen, nützt es auch nichts, wenn man das Wissen erweitert. Es bewirkt nicht das richtige und notwendige Handeln. Und so werden die Menschen weiterhin Autos fahren, die das Klima zerstören, Zigaretten rauchen, die ihre und anderer Gesundheit schädigen, und den Judenhass als eine von vielen unschönen Emotionen, ohne Vorgeschichte, verharmlosen.

Das klingt wenig optimistisch. Aber es entspricht den Erfahrungen. Man muss sie nicht zur Kenntnis nehmen. Man kann sich einreden, dass die Meldungen lügen, dass Erfahrungen Täuschungen sein können, dass am Ende alles gut wird. Das wäre eine Folge des Ausgleichs von kognitiver Dissonanz. Und so weiter, und so fort.

Letzte Änderung: 29.09.2021  |  Erstellt am: 27.09.2021

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