Hat man denn schon den „Mann ohne Eigenschaften“ auf der Bühne gesehen? Oder die „Verlorenen Illusionen"? Die „Kritik der praktischen Vernunft"? Nichts ist unmöglich, aber nur wenig ist sinnvoll, geschweige denn vernünftig. An Originaltexten fürs Theater besteht kein Mangel. Stattdessen bekommen wir aber Bearbeitungen aus Prosa, Film und Fernsehen angeboten. – Die Kritik an der Schwind-Sucht anspruchsvoller Dramen in der Theaterpraxis währt so lange wie die Ignoranz, auf die sie stößt. Kein Grund aufzugeben. Thomas Rothschild schreibt noch einmal, worum es geht.
Vor zwei Jahrzehnten setzte die Unsitte ein, ganze Spielpläne mit Bühnenbearbeitungen von Romanen, Erzählungen und auch von Filmen zu füllen. Sie verbreitete sich wie eine Seuche, schneller als ein paar Jahre später das Corona-Virus. Zu Beginn wiesen die Theaterkritiker, die ihre eigentliche Aufgabe, eben der Kritik, noch nicht gegen die willfährige Gefälligkeitsberichterstattung, die sich von der PR der Agenten für Öffentlichkeitsarbeit in nichts unterscheidet, eingetauscht hatten, darauf hin, dass es Gründe dafür gibt, wenn das Theater in seiner Jahrtausende alten Geschichte das Drama als adäquate Gattung und das Drama das Theater als optimales Medium erkannt und geformt haben. Die Einwände gegen die vorherrschende Entwicklung blieben ungehört. Inzwischen sind Bühnenadaptionen so selbstverständlich, dass viele junge Theaterbesucher gar kein Bewusstsein mehr haben von einer literarischen Gattung, die ihre eigenen, den Erfordernissen der Darstellung durch lebende Menschen entsprechenden Regeln und Gesetzmäßigkeiten hat. Die Vorbehalte sind verstummt, die Verächter der Entwicklung haben resigniert, müde geworden von der wirkungslosen Wiederholung ihrer Einsichten und zermürbt vom Opportunismus ihrer Vorgesetzten. Vielen bleibt nur die Wahl zwischen Anpassung und Kündigung. Meist folgen sie dem Beispiel jener Universitätslehrer, die die Demolierung der Hochschullehre durch den Bologna-Prozess widerstandslos mitgemacht haben. Einen Ausweg bietet allenfalls die Sekundärrationalisierung: Man findet für sich und für andere Begründungen für die Kollaboration an einer Zerstörungswut, deren Schaden man durchaus einmal begriffen und vor der man gewarnt hatte. Das Hemd ist einem näher als der Rock, und die Mittel für den Ausgleich der kognitiven Dissonanz liegen spätestens beim Blick ins Gehaltskonto auf dem Tisch.
Zu den Scheinargumenten, mit denen die Theaterleiter und ihre Komplizen in den Medien die Epidemie der Dramatisierungen epischer Vorlagen verteidigen, zählt die Behauptung, dass man damit der abnehmenden Lesebereitschaft oder gar -lust bei der nachwachsenden Generation begegne. Wenn sie anders keine Anna Karenina und keinen Raskolnikov, keine Madame Bovary und keinen Ebenezer Scrooge, keinen Michael Kohlhaas und keinen Josef K. kennenlernen würden, müsse das Theater aushelfen.
Jan Grossman, der geniale Regisseur und Leiter des Prager Theaters am Geländer, schrieb 1965: „Grundsätzlich jedoch besteht kein Unterschied zwischen Drama und Dramatisierung.“ Er ergänzt allerdings: „Alles auf jedem Gebiet ist dramatisierbar, die Notwendigkeit der Dramatisierung aber besteht nur dort, wo sie nicht als eine von vielen Möglichkeiten erscheint, sondern als einzige.“ Das ist es. Besser lässt es sich nicht sagen.
Nun aber bleiben, wie überall geklagt wird, den Theatern die Zuschauer aus. Und damit verliert auch die genannte schüttere Begründung ihre Basis. Mit der Lektüre und dem Theaterbesuch verschwinden Anna Karenina und Raskolnikov, Madame Bovary und Ebenezer Scrooge, Michael Kohlhaas und Josef K. im Hades der Vergessenheit. Dieser Tage konnte man lesen, dass „Faust“ nicht mehr zum Schulstoff gehören soll. Nun kann man durchaus begründen, warum man Goethe im Lehrplan durch Grabbe oder Kleist ersetzen sollte. Was aber zur Disposition steht, ist die Literatur. Sie soll ersatzlos gestrichen werden. Wenn Winnetou mit nicht sonderlich differenzierten Begründungen aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht werden soll, folgt er bloß den Figuren, die für unsere Vorfahren, seit sie lesen durften und konnten, als Orientierungshilfe und Modell oder Abschreckung dienten. Niemand wird mehr wissen, was gemeint ist, wenn jemand jemanden einen Don Juan oder ein Aschenbrödel nennt. Aber das wird dann auch niemand mehr tun.
In der künstlerisch mittelmäßigen, aber mediengeschichtlich wirkungsmächtigen Fernsehserie „Roots“ mahnten Generationen von Vätern ihre Töchter und Söhne, nie zu vergessen, woher sie und ihre Vorfahren kamen, nämlich aus Afrika. Die Erinnerung lebte weiter in den Namen, die sie getragen hatten, ehe sie als Sklaven umbenannt wurden, also der Repräsentation von Identität, und in zwei Wörtern, „bolongo“ für Fluss und „kora“ für ein afrikanisches Saiteninstrument, die der Stammvater als Kind gelernt hatte, in Sprache also. In Europa liegen die Wurzeln in einer Kultur, die zu einem bedeutenden Teil aus der Literatur entstanden und in ihr aufbewahrt ist. „Don Quixote“ und „Der Fremde“ sind unser „bolongo“, unsere „kora“. Wenn die Erinnerung daran verschwindet, bleibt eine geschichtslose Masse von Geldverdienern ohne Identität. Es sei denn, man hielte Dagobert Duck für ein wünschenswertes Modell.
Letzte Änderung: 13.09.2022 | Erstellt am: 13.09.2022