Klimapolitik auf Abwegen?

Klimapolitik auf Abwegen?

Soziale Kippelemente
Kipppunkt | © Bernd Leukert

Man mag es manchmal nicht glauben, aber es gibt doch gesellschaftliche Veränderungen. Sie vollziehen sich schleichend oder in erstaunlichem Tempo und lassen sich oft auf ein Phänomen zurückführen, das man „Kipppunkt“ nennt. In den Proceedings of the National Academy of Sciences werden Vorschläge gemacht, ihn zu nutzen. Und Matthias Schulze-Böing hat sie kritisch gesichtet.

Die viel beschworene Transformation zur Klimaneutralität ist nicht nur eine technische und wirtschaftliche, sondern auch und nicht zuletzt eine gesellschaftspolitische und soziale Herausforderung. So zwingend der Konsens „der Wissenschaft“ auch sein mag, man sollte die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass die ehrgeizigen Klimaziele, wie sie im UN-Klimaabkommen von Paris im Jahr 2015 formuliert wurden, in Teilen der Gesellschaft immer noch auf Skepsis, teilweise sogar auf Ablehnung stoßen.

Die Transformation erscheint vielen als elitäres Projekt, in dem eine informierte Minderheit der Mehrheit erklären will, wie sie künftig zu leben hat. Freistehendes Einfamilienhaus? Problematisch! Fleischkonsum? Bitte nicht! Autofahren? No go! Viele empfinden das als anmaßend, manchmal gar nicht so sehr wegen des Inhalts als wegen der moralisierenden Diktion, mit der Lebensstile und Lebensziele ins Unrecht gesetzt werden.

Das Misstrauen wird nicht kleiner, wenn erkennbar wird, dass die klimabewusste Elite selbst gerne in großen Wohnungen lebt, die naturgemäß mehr Energie verbrauchen, und mit Vorliebe reist, gerne auch weit in die Ferne. Die Unterstützung für eine entschiedene Klimapolitik sinkt deutlich, wenn auf dem Acker nebenan ein Windrad gebaut werden soll, der Ausbau der S-Bahn am eigenen Schrebergarten vorbeiführt, Energie teurer wird oder gar Arbeitsplätze gefährdet sind. Die Situation in der durch den Ukrainekrieg ausgelösten Energiekrise zeigt, wie schnell sich Prioritäten verschieben und Klimaziele in den Hintergrund rücken können, wenn massive Wohlstandsverluste drohen.

Klimapolitik kann nicht nur an der Begrenztheit technischer Möglichkeiten oder der Knappheit von Zeit und Ressourcen scheitern. Auch soziale Blockaden können ein ernsthaftes Risiko darstellen.

Ilona Otto vom Potsdam-Institut für Klimaforschung hat sich der Frage der Verankerung der Klimaziele und des Willens zu ihrer Umsetzung mit einem neuen Ansatz genähert. Gemeinsam mit einer Reihe von Mit-Autoren beschreibt sie „soziale Kippelemente“. Darunter versteht sie Entwicklungen in der Gesellschaft, die den Bewusstseinswandel sehr stark beschleunigen, aus Minderheitenmeinungen Mehrheitsmeinungen werden lassen und Blockaden im Bewusstsein auflösen können.

Den Begriff des „Kipppunkts“ („tipping point“) kennt man aus der Systemforschung, nicht zuletzt auch aus der Anwendung auf die Dynamik des Erdklimas. Ein Kipppunkt liegt dort, wo ein System durch einen kleinen Anstoß aus einem alten in ein neues Gleichgewicht übergeht und eine Änderung damit irreversibel wird. Kleinste Änderungen können dann große Folgen haben. Wie die Chaosforschung gezeigt hat, kann im Prinzip der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen, wenn er eine sich aufschaukelnde Kettenreaktion von Luftbewegungen auslöst. Es wird vielfach darauf verwiesen, dass ein solcher Punkt in der globalen Klimaentwicklung schon in naher Zukunft erreicht sein kann, wenn die Anreicherung der Erdatmosphäre mit CO~2~ und anderen Klimagasen im jetzigen Tempo weitergeht. Das Klima verändert sich dann nicht mehr allmählich und parallel zum Ausstoß von Klimagasen, sondern „kippt“ und schafft ein neues Klimagleichgewicht, das auch mit großen Anstrengungen kaum noch zurückgedreht werden kann.

Die Theorie „sozialer Kipppunkte“ („social tipping points“) überträgt diese Theorie auf die Dynamik sozialer Systeme. Auch hier gibt es disruptive Entwicklungen, die das Verhalten sozialer Systeme umschlagen lassen. So habe, sagt Ilona Otto, der „Schulstreik“ des 14 Jahre alten schwedischen Mädchens Greta Thunberg die weltweite Bewegung der „Fridays for Future“ ausgelöst und der Klimasache ein Gehör verschafft, die sie zuvor nicht im Entferntesten hatte, sie in Familien hineingetragen und auch hartgesottene Unternehmensvorstände nachdenklich gemacht. Kleine Impulse können in Kippsituationen große Änderungen auslösen, aus der Mikroaktion wird der Makrowandel. Wenn technologische Entwicklungen und auf großen Stückzahlen beruhende Skaleneffekte die Erzeugung von erneuerbaren Energien, von Wind- und Solarstrom, um Größenordnungen verbilligen, kann ebenfalls ein Kipppunkt erreicht werden, wo die konventionellen Technologien sehr schnell ins Hintertreffen geraten – und zwar nicht, weil sie von Staats wegen verboten werden, sondern einfach, weil man günstiger fährt, wenn man die Erneuerbaren nutzt.

Will man die Transformation vorantreiben, müsste man also möglichst viele Kippelemente („social tipping elements“) schaffen, die nicht nur Technologie und wirtschaftliche Kalküle, sondern Meinungen, Haltungen und Normen umschlagen lassen. Die Potsdamer Forscher verweisen auf Experimente, die zeigen, dass eine herrschende Meinung kippen kann, wenn etwa ein Viertel einer Population den neuen und nicht mehr den alten Gedanken vertritt. Überzeugte Minderheiten können Mehrheitsmeinungen drehen. So funktionieren auch Moden, aber auch Massenhysterien.
Die Potsdamer Forscher gehen davon aus, dass man sich solche Phänomene für sozial erwünschte Ziele auch nutzbar kann. Der Wandel zur klimagerechten Gesellschaft könnte damit beschleunigt und nachhaltiger gestaltet werden.

In diesem Sinne können in vielen gesellschaftlichen Handlungsbereichen „Kippdynamiken“ entstehen, z. B. im Finanzsektor, wenn Kapital in Investitionen nach ökologischen Kriterien umgeschichtet wird, in der Energieproduktion, im Lebensstil der Menschen, nicht zuletzt auch in den Bereichen des Bauens und Wohnens, die als größte Einzelposten in der weltweiten Klimabilanz zu Buche schlagen, wenn es gelingt, Sprünge bei der Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden zu erreichen und den extrem klimaschädlichen Baustoff Beton entweder durch andere Baustoffe zu ersetzen oder ihn weniger klimabelastend herzustellen.

Politisch käme es darauf an, durch kluge „Kippinterventionen“ („social tipping interventions“) solche Prozesse anzustoßen und nachhaltig zu gestalten. Solche politischen Interventionen müssten sich nach dem Vorschlag aus dem Potsdamer Klimainstitut zum einen daran orientieren, ob die von ihnen angestoßenen Prozesse geeignet sind, schnell genug genügend große Änderungen zu bewirken, um den anspruchsvollen Zeitrahmen des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, die Beendigung des weltweiten Ausstoßes von Klimagasen bis 2050, um die Erwärmung des Klimas auf 1,5 Grad zu begrenzen. Zugleich aber geht es darum zu verhindern, dass schnelle Änderungen soziale Konflikte auslösen und die Gesellschaft destabilisieren – ein anspruchsvoller Ansatz der Gesellschaftssteuerung.

Aus einer Vielzahl von potentiellen Handlungsfeldern filtern die Forscher um Ilona Otto sieben „soziale Kippelemente“ heraus, die ein genügend großes transformatives Potential haben und die durch politische Intervention mobilisiert werden können. Dazu gehören, wenig überraschend, die Energieproduktion und Energiespeicherung, die Decarbonisierung der Städte und des Städtebaus und die Umlenkung von Finanzströmen in ökologische Projekte und klimafreundliche Produkte und Verfahren. Anspruchsvoller und sicher auch diskussionswürdiger sind die vorgeschlagenen Interventionen in Norm- und Wertsysteme, in das Erziehungssystem und die Systeme zur Information der Öffentlichkeit zu den Klimafolgen des menschlichen Handelns, des Mobilitätsverhaltens, des Konsums und der gesamten Lebensführung. Für all diese Bereiche sehen die Klimaforscher Chancen für genügend schnelle Effekte und soziale Machbarkeit, benennen dazu Schlüsselakteure, die zu mobilisieren sind, Regierungen, Verwaltungen, Investoren, Jugendorganisationen, Lehrer, Geschäftsleute und beschreiben Kontrollgrößen, an denen man den Erfolg der Intervention ablesen kann.

Die Idee, Klimapolitik über solche „Kippinterventionen“ umzusetzen und zu steuern, scheint inzwischen Resonanz in der Politik, aber auch in der medialen Kommunikation, der Politik- und Unternehmensberatung und in zivilgesellschaftlichen Organisationen gefunden zu haben, wie etwa das Frankfurter „Zukunftsinstitut“ aus seiner Trendforschung und Beratungspraxis berichtet.

Das Konzept hat zweifellos seinen Reiz, es entstehen aber auch Fragen. Wenn man das Konzept ernst nimmt, liegt eine „Kippdynamik“ nicht schon dann vor, wenn es allmähliche Verhaltensänderungen gibt, sondern erst dann, wenn ein System kollektiven Verhaltens mit einer gewissen Irreversibilität in einen neuen, stabilen Gleichgewichtszustand übergeht, hier also klare Entscheidungen gegen fossile und für erneuerbare Energien, für andere Formen des Bauens, bis hin zur moralischen Ächtung der Nutzung fossiler Energien.

Die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit Ukrainekrieg und der dadurch ausgelösten Energiekrise zeigen, wie labil solche Entwicklungen sein können. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung wurde ausgesetzt, der Verkehrsminister denkt wohl schon darüber nach, Kohlegüterzügen im Winter Vorfahrt vor Reisezügen zu geben. Die Prioritäten haben sich hier quasi über Nacht verschoben. Niemand weiß, ob dies nur eine kurzfristige Richtungsänderung ist, oder ob sich damit eine Revision der „Klimawende“ ankündigt. Kritisch hinterfragen könnte man zudem, ob sich Investitionsströme auch dann dauerhaft in die ökologisch gewollte Richtung umlenken lassen, wenn sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gravierend verschlechtern. Schließlich können die Vorschläge Bedenken auslösen, das Erziehungswesen als Hebel für die Ausbildung eines „richtigen“ Klimabewusstseins zu nutzen und sogar so etwas wie ein „moral engineering“ zu versuchen, indem man durch geschicktes „framing“ in den Medien, eine Politik des Anstupsens („nudging“) und öffentliche Moraldiskurse eine „Umwertung von Werten“ für die „Klimawende“ durchsetzt, die sich nicht nur auf die praktischen Erfolgsaussichten eines solchen Projektes beziehen, sondern auch auf seine moralische Legitimität und seine politische Klugheit. Man könnte sich damit einer Politik der Umerziehung doch gefährlich nähern, die man in totalitären Staaten zu Recht brandmarkt. Unter dem Vorzeichen der absoluten Dringlichkeit der „Klimawende“ und ihrer (behaupteten) Alternativlosigkeit könnten tragende Elemente einer demokratischen und liberalen Gesellschaft brüchig werden, ob gewollt oder nicht.

Das Konzept der „sozialen Kipppunkte“ atmet ein wenig den Geist der Gesellschaftsplanung, wie er unter ganz anderen Vorzeichen in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Wissenschaft und Politik viele Anhänger hatte. Dieses technokratische Narrativ zerbrach, wie wir heute wissen, an der Realität von Ölkrise, den unkalkulierbaren Turbulenzen der kapitalistischen Wirtschaft, aber auch am Widerstand von neuen sozialen Bewegungen. Die Umweltbewegung hatte ja selbst einen Ausgangspunkt in der Kritik von Technokratie und naiver Wissenschaftsgläubigkeit. Deshalb könnte es auch heute ein durchaus gesunder Reflex sein, gegen den Strich einer großen klimapolitischen „Parallelaktion“ zu denken und bei aller Zustimmung zu den Zielen der „Transformation“ problematische Implikationen ihrer politischen Umsetzung nicht zu übersehen.

So alarmierend die Erkenntnisse zum menschengemachten Klimawandel auch sind, die Aufgabe liberaler Prinzipien wäre ein zu hoher Preis für einen schnellen Fortschritt, ganz abgesehen davon, dass es völlig offen ist, ob sich die Gesellschaft tatsächlich in diesem Sinne manipulieren lässt. „Kippinterventionen“ können Gegenkräfte mobilisieren und tun das auch jetzt schon. Man denke an die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien, die man zumindest in Teilen auch als Reflex auf den moralisch aufgeladenen Transformationsdiskurs lesen kann. In jedem Fall interveniert jeder Versuch einer Gesellschaftssteuerung in hochkomplexe soziale Systeme, deren Verhalten sich nicht vorhersagen lässt. Klimapolitik sollte auf Vernunft und Freiheit setzen, nicht auf Manipulation und Umerziehungsphantasien. Sonst könnte die Gesellschaft auf die gutgemeinten Impulse ganz anders reagieren, als es allen recht sein kann, die nach wirklichen Auswegen aus der Klimakrise suchen.
 
 
 
 

Ilona M. Otto, Jonathan F. Dongesa, Roger Cremadesc, Avit Bhowmik, Richard J. Hewitte,
Wolfgang Luchta, Johan Rockströma, Franziska Allerbergera, Mark McCaffreyj, Sylvanus S. P. Doek, Alex Lenfernal, Nerea Moránm, Detlef P. van Vuureno, and Hans Joachim Schellnhuber: Social tipping dynamics for stabilizing Earth´s climate by 2050, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 117, No. 5, February 2020, pp. 2354-2365

https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1900577117#fig01

Letzte Änderung: 06.11.2022  |  Erstellt am: 06.11.2022

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Kommentare

Christoph Rehmann-Sutter (Uni Lübeck) schreibt
Nach der Lektüre dieses interessanten Artikels habe den Aufsatz von Ilona Otto et al. (PNAS 2020) zur "social tipping dynamics" gelesen. Es findet sich für die hier vorgebrachten Vorwürfe überhaupt kein Anlass. Bei der vorgeschlagenen Maßnahme zur Intervention in das Normen- und Wertesystem handelt es sich nicht, wie Matthias Schulze-Böing befürchtet, um "moral engineering" oder um "Manipulation", sondern um das Aufzeigen der moralischen Implikationen des fortgesetzten Verbrennens von fossilen Treibstoffen. Es geht also darum, das Unrecht aufzuzeigen, das die Klimaschäden darstellen, in dem sie die natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen zerstören. Im Effekt verändern sich hoffentlich, so Otto et al, die gesellschaftlichen Werte. Bei der Maßnahme zur Intervention in das Erziehungssystem handelt es sich nicht, wie Schulze-Böing befürchtet, um "Umerziehungsphantasien", sondern darum, dem Thema Klimawandel in Schulen und Universitäten größeren Raum zu geben. Die Klimakrise soll in die Lehrpläne aufgenommen werden, gerade weil, wie es Otto et al. formulieren, "sustainability cannot be imposed, it has to be learned, so that it is endogenously realized and enacted deliberately by the actors" (S. 2361). Bei der Intervention in die Informationssysteme schließlich geht es nicht um "geschicktes Framing in den Medien" oder um eine "Umwertung von Werten", sondern darum, die Auswirkungen von Konsum- und Lebensstilentscheidungen auf das Klimasystem offenzulegen, indem Transparenz geschaffen wird über die damit je zusammenhängenden CO2-Emissionen. Es ist gerade umgekehrt. Nicht, wie es Schulze-Böing darstellt, bedroht die von Otto et al. skizzierte gesellschaftliche Veränderung liberale Prinzipien, sondern das Ausbleiben einer gesellschaftlichen Transformation und das Geschehenlassen der Klimaerhitzung bedroht die Freiheit und die Rechte der Menschen.
Helmut Lehmann schreibt
Ich habe es auch nicht so verstanden, dass hier Vorwürfe gemacht werden, sondern dass auf mögliche unbeabsichtigte Folgen einer gutgemeinten Politik hingewiesen wird.

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