HESSISCHER VERLAGSPREIS 2022

HESSISCHER VERLAGSPREIS 2022

Laudationen auf Henrich Editionen und Edition Faust
Hessischer Verlagspreis | © Collage Paul Müller/Börsenverein

Zum 5. Mal wurde Ende Juli der Hessische Verlagspreis vergeben. Gewürdigt werden hierbei die Arbeit, das Programm und die Produktion unabhängiger Verlage, deren Jahresumsatz unter 2 Mio. € liegt. Der Hauptpreis ging in diesem Jahr an die Henrich Editionen. Den Sonderpreis erhielt die Edition Faust für ihr Engagement im Bereich Graphic Novel. Nachfolgend die Laudationen des Frankfurter Literaturhausleiters Hauke Hückstädt und des Schriftstellers und Journalisten Harry Oberländer.

Verlagspreis 2022 | © Foto: © Paul Müller/Börsenverein

Hauke Hückstädts Laudatio auf die Henrich Editionen

Hessischer Verlagspreis 2022

„Wer Bücher liebt, weiß, dass alles an ihnen interessant ist:
der materielle Prozess ihrer Entstehung,
ihre Vermittlung,
ihre Verbreitung,
ihr Preis,
die Kreise von Menschen, die sich um ihretwillen allein bilden,
ihre Aufnahme,
das Auf und Ab ihrer Geltung,
ihre Verdrängung,
ihr Verschwinden,
aber auch das Rätsel ihres Bestandes.“

Der Schriftsteller Elias Canetti bringt auf den Punkt, fasst in ein Bild, auf was es noch heute ankommt.

Lassen Sie uns ein paar Bilder hinzufügen.
Beschränkt auf zwölf, für jedes Verlagsjahr der Henrich Editionen ein Blickwinkel.
Bilder, die Gründe und Hintergründe zeigen, warum die Henrich Editionen so preiswürdig und hervorhebenswert sind.

Bild-1
Sie sind so verdammt jung. 2010 gründete Cristina Henrich-Kalveram die Henrich Editionen. Der erste Titel, das erste Buch zeigte schon die ganze Ambition. Es sind die Lebenserinnerungen Lilo Günzlers. Die Frau kommt 1933 zur Welt. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt Schwanheim also nahe dem Verlagssitz. Als Tochter einer Jüdin und eines nicht-jüdischen Vaters entging sie nur knapp der Deportation. Am Ende ihres Lebens ist sie bereit, alles aufzuschreiben. Das Buch erscheint bei Henrich. Lilo Günzler erhielt das Bundesverdienstkreuz. Ein Jahr nach Erscheinen des Buches die Bürgermedaille der Stadt Frankfurt. In Schwanheim wird weitere zehn Jahre später die Hans-Pfitzner-Straße umbenannt in Lilo-Günzler-Straße. Synergieeffekte.

Bild-2
Schon in ihrem ersten oder zweiten Jahr bittet die Greenhorn-Verlegerin mich, den Greenhorn-Frankfurter, um ein Kennenlerngespräch. Die junge Verlegerin berichtete mir, dass sie mit Julia Linke eine erfahrene Verlagsfrau für ihre Sache gewinnen konnte. Linke kam von Dumont und Nikolai. Sie wird zu einer Erfolgsstütze. Neben dem Günzler-Buch kamen schnell auch Buchprojekte mit Museen, Corporate Books. Da man aber kein reiner Druckkostenzuschussverlag werden wollte, suchte Cristina Henrich-Kalveram nach Herzensthemen. Das soll den Verlag verortbar machen. Mit dem Apfelweinführer des Schwagers der Verlegerin war ein Kassenschlager auf dem Markt. Er wurde in großen Mengen an den Kassen etwa bei Hugendubel verkauft. Die Entscheidung, ernsthaft weiterzumachen als Verlag, schien nun unumstößlich. Es folgten ein Frankfurter Sagenbuch mit Zeichnungen des deutschen Karikaturistenduos Greser & Lenz sowie ein Fotobildband über das Frankfurter Bahnhofsviertel von Ulrich Mattner. Ein Tusch im Terzett: alle drei Bücher Erfolge.

Bild-3
Bild-3 liegt im Fundus. Es ist nur eine Randnotiz. Und wir ziehen es hier nur kurz hervor. Irgendwie gelingt es der Geschäftsfrau, die auch in der Verlegerin steckt, dass fortan plötzlich alle Programme des Literaturhauses im Druckhaus Henrich und nicht mehr beim angestammten Druckpartner hergestellt werden.

Bild-4
Global denken, lokal handeln.
Das war als Küchenpoesie schon immer richtig.
Man könnte aber auch einmal den ersten Schritt vor dem zweiten ausprobieren:
Vor Ort denken, lokal handeln.
Denn das beschriebe nicht nur das Verlagsanliegen der Henrich Editionen.
Es ist auch das Signet einer Verpflichtung.
Das Signet einer Ernsthaftigkeit vor Ort und, wenn Sie so wollen, auch ein ökologisch und patriotisch nachvollziehbares Gütesigel.

Bild-5
Vor-Ort-denken:
Das würde weltweit bestimmte Problemlagen gar nicht erst exportieren.
Für die Verlegerin Cristina Henrich-Kalveram ist das ein Selbstverständnis, die DNA des Verlags und seiner Wirtschaftlichkeit.

Bild-6
Der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón, wie Henrich-Kalveram in Barcelona geboren, sagte einmal:
Die Zukunft des Buches hängt von den Frauen ab.
Das war mehrheitlich schmeichelhaft für sein Publikum.
Die Pessimisten (es sind nie welche im Saal, wenn man von ihnen spricht), die Pessimisten warten eher ab.
Sie sagen: Die Zukunft des Buches hängt von der Zukunft ab.
Wir wissen es besser.
Die Zukunft des Buches hängt von den Büchern ab!
Bei Henrich Editionen weiß man das.

Bild-7
Frankfurt, Ende der 70er Jahre.
Ein elfjähriges spanisches Mädchen aus Barcelona kommt nach Frankfurt am Main.
Ihre Mutter muss das Druckhaus übernehmen.
Familienpflichten. Andruck, Anschnitt und Beschnitt, Heißfoliendruck, Holzfreie Papiere, CMYK, Majuskel und Minuskel.
Alles muss die Mutter sich nun aneignen,
und das Kind erst einmal auch die deutsche Sprache.
Fürs Erste bei den Ursulinen in Königstein. Internat.
Das ist kein Tapetenwechsel, das ist ein Abriss.
Jedenfalls für ein elfjähriges Herz von der Costa Brava.
Dann Schiller-Schule Frankfurt-Sachsenhausen.
Aus dem von hiesigen Wetterlagen, dem sabbrigen Dialekt und lokalen Gerichten irritierten Mädchen wird später eine Werbekauffrau.
Renault als Hauptkunde.
Der Twingo, dieser knubblige Enten-Ersatz mit dem Augenaufschlag, wird von Cristina Henrich-Kalveram in die Zulassungsstatistiken katapultiert.
Wer so wenig Knautschzone im sicherheitsfanatischen Deutschland zu Erfolg zu bringen vermag, müsste es später auch mit Büchern schaffen.

Bild-8
Die Genese des Verlages jedenfalls ist ein wenig auch Cristina Henrich-Kalverams Suchen und Finden und schließlich Angekommen-Sein in Frankfurt.

Bild-9
Bücher und Nonbooks, die es bei Henrich Editionen noch nicht gibt.
Ein Wimmelbuch von Sabine Kranz, in dessen Gewimmel auch Native-Frankfurter sich verlieren.
Ein Hörbuch des Frankfurter Theaterdirektors Michael Quast, für das der Stimmenimitator Michael Quast Michael Quast imitiert.
Ein Bastelbogen Frankfurter Küche mit Beilage einer Packung Tavor.
Ein Bastelbogen B-Ebene, alles muss unter dem Tisch gefaltet und verklebt werden.
Ein Stadtführer für Leonore Poth, mit Handfarben gemalt von Kindern aus der Niederräder Krabbelstube Wirrwarr.
Außerdem: „Sagenhaftes Frankfurt II. Von Heuschrecken, Haien und anderen faulen Fischen“.
Und nicht zuletzt: „Frankfurt für Zugezogene“, Auflagenhöhe immer 1:1 auf Niveau der Einwohnerzahl.

Bild-10
Bild 10 weist in die Zukunft des Wirkungsbereichs. Der Regionalia-Verlag Henrich Editionen entscheidet sich nach erfolgreicher verlegerischer Eingemeindung von Hanau und Offenbach, nun auch Landeshauptstadt Wiesbaden und schließlich auch Mainz einzugemeinden. Das Saarland ist im Gespräch.

Bild-11
Bild-11 ist wieder ganz ernst.
Über 50 Bücher sind es schon nach vier Verlagsjahren. Allein mit dem Literaturhaus entstehen über die Jahre drei Publikationen. Es sind Kooperationen mit dem MMK Frankfurt und dem Museum für Kommunikation. Eines dieser Bücher bringt es weit bei der Jury der „schönsten Bücher“ der Stiftung Buchkunst. Auf diese Weise treten zahlreiche namhafte Gegenwartsautor:innen in den Vorhof des Herzens dieses Verlags. Darunter Helene Hegemann, Saša Stanišić, Katharina Adler, Lars Brandt, Jochen Schmidt und Nino Haratischwili.

Bild-12
Unser für heute letztes Bild zeigt die Verlegerin.
Einmal kommt sie schnittig auf dem E-Scooter.
Einmal ist Buchmesse, man sieht sie in Auerbachskeller mit dem Tübinger Kollegen von Mohr Siebeck sitzen.
Einmal Hotelbar, ein anderes Mal Pop-up-Empfang.
Manchmal spitzer Bleistift.
Dann wieder weites Herz – für Autoren- und Herausgeberlaunen.
Dann sehen wir sie in halbleeren Druckhallen.
Die Stimmen und Rotationsgeräusche noch irrend zwischen den nackten Wänden.
Der Niedergang von Print und Presse geht an so vielen Druckereien nicht spurlos vorüber. Cristina Henrich-Kalveram handelt, wird es gar nicht erst, wie bei so vielen anderen, zur Insolvenz kommen lassen. Sie entscheidet sich zu liquidieren und muss.
Die Verlegerin muss entlassen, zahlt Gehälter weiter, der Maschinenpark wird veräußert.
Sie macht das mit allem, was es braucht dafür: das Herz für andere und Härte gegen sich selbst.
Oder wir sehen sie an ihrem Messestand.
Ästhetisch klar, ein aufgeräumter klarer Stand.
Eine Stimmung wie auf Kleewiesen.
Es fühlt sich sofort nicht nach „regional“ an.
Man setzt sich gerne dazu.
Oder wir sehen diese zarte Person in ihrem Auto, www. Henrich.de steht drauf, ein Urgefährt, gemacht für Highlands, für ganz tiefe Täler und für höchste Höhen.
So fährt sie fort.
Wir sehen sie über Plänen.
Ein Bildband über das alte Polizeipräsidium.
Eine Chronik des Senckenbergmuseums.
Ein Ausstellungskatalog über die Paulskirche.
Und womöglich auch ein Buch mit Bildern des Frankfurter Landschafts- und Architekturmalers Carl Theodor Reiffenstein.
Bücher, die es geben muss.

_

Es ist gelegentlich vorgeschlagen worden, den Staat durch eine Bibliothek zu ersetzen.
Wir können das, Stand heute, als Lösung ausschließen. Aber Lob der Ministerin, der Staatssekräterin, dem Bundesland, dem Landesverband des Börsenvereins, der Jury, die ihre Verlage zu schätzen wissen.

Es ist doch so: Die Zukunft des Buches hängt von Verlegerinnen wie Cristina Henrich-Kalveram ab. Jedenfalls in Hessen. Ihr und ihren Leuten, ihrer Familie, ihren Wegbereitern und Wegbegleitern, allen, die daran mittaten und mittun, ihnen gilt unser Applaus.

Hauke Hückstädt, Leiter Literaturhaus Frankfurt

Harry Oberländers Laudatio auf die Edition Faust

Einen Gedankenstrich lang lässt Heinrich von Kleist uns nachdenken, was da geschehen sein könnte: Ist die Marquise von O., die in seiner Novelle zu Beginn annonciert, sie sei auf rätselhafte Art und Weise schwanger geworden und den Vater des noch ungeborenen Kindes bittet, sich bei ihr zu melden, Opfer einer Vergewaltigung oder Opfer einer rätselhaften Amnesie? Hat sie tatsächlich das Gedächtnis verloren oder spielt sie es nur vor, um ihre Ehre zu retten? Dieser Gedankenstrich markiert die Ohnmacht der titelgebenden adeligen Dame – eine Ohnmacht, aus der sie als Schwangere erwachte.

In der Adaption von Dacia Palmerino und mit Aquarellen von Andrea Grosso Ciponte ins Bild gesetzt, wird aus diesem Stück deutscher Literatur ein eigenständiges Kunstwerk. Kleist, jenen großen Meister der Sprache und der sprachlichen Präzision, zeichnet es aus, dass er in seiner Prosa kein Wort zu viel schreibt. Bei der Transformation in die Graphic Novel hat Dacia Palmerino den Text weiter minimiert. Ihre Textfassung ist ein Kabinettstück anspielungsreicher Verknappung. Es ist faszinierend, zu sehen, wie sie der komplexen Erzählung Kleists einen Handlungsfaden abgewinnt, der die Folge der großartigen Traumbilder Cipontes trägt.

Die im Jahr 2014 von Werner Ost und Michele Sciurba gegründete Edition Faust hat von Beginn an außer den Graphic Novels, für die sie heute hier ausgezeichnet wird, sich auch Fotobänden, politischen Sachbüchern, Lyrik- und Erzählbänden verschrieben, wobei es einige Glücksfälle der Kombination dieser verschiedenen Sparten gibt. Als Beispiele nenne ich hier nur den Band La Frontera des Fotografen Stefan Falke, ein Porträt der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Es ist eine Grenze zwischen der reichen und der armen Welt, die in eindrucksvollen Bildern und Texten beschrieben wird. Ein „Paukenschlag, mit dem ein noch junger Verlag die Bühne betritt“, lautete der Kommentar eines Kritikers. 2016 erschien die Erzählung Traumdiebstähle von Silke Scheuermann mit Fotos von Alexander Paul Englert und im vergangenen Jahr das Buch Amerika oder Reisen ins Herz des Herzens des Landes, für das der Dichter Matthias Göritz und der Fotograf Michael Eastman auf kongeniale Weise zusammengekommen sind. Bildlich und sprachlich ein Buch der gewaltigen Horizonte.

Aber kehren wir zu der Reihe der Traum- oder Albtraumnovellen der Graphic Novels zurück, deren Herausgeber Michele Sciurba ist. Denn Träume, Albträume sind das Merkmal der Malerei Grosso Cipontes und der Adaptionen Palmerinos. In einer Autorenvignette zeigen beide sich selbst als Wächter des Schattenreichs. Mit Schillers Roman Der Geisterseher führen sie uns dabei ebenso wie mit der Marquise von O. in einen Bereich, in dem die Dinge nicht das sind, was sie scheinen. Schiller begann die Arbeit am Geisterseher 1788 in Leipzig, zur Zeit seiner Freundschaft mit Ludwig Ferdinand Huber und Christian Gottfried Körner, einer enthusiastischen Freundschaft, der wir den Text der Hymne ,An die Freude’ verdanken. Zwei Jahre verbrachte er in Leipzig, Gohlis, Dresden und Loschwitz, bevor er schließlich nach Weimar ging.

Enttäuscht vom Theater und der damit verbundenen Abhängigkeit von Intendanten und deren Feudalherren, wollte er ein Band der Freundschaft auch mit dem Publikum knüpfen. So veröffentlichte er seinen Don Karlos in Fortsetzungen in der Rheinischen Thalia, deren Herausgeber er von 1784 bis 1791 war. Zugleich begann er, dort auch den Geisterseher erscheinen zu lassen und damit in Deutschland das neue Genre des Fortsetzungsromans einzuführen. Den großen Erfolg beim Publikum, den er damit hatte, verdankte er auch der Tatsache, dass er vor Kolportage nicht zurückschreckte. Wenn nichts mehr richtig gehen will, gehen gut und gerne Verschwörungstheorien. Im Falle des Geistersehers die Verschwörung eines jesuitischen oder rosenkreuzerischen Geheimbundes. Der veranlasst einen evangelischen Erbfolger zur Konversion zum Katholizismus. In Palmerinos und Grosso Cipontes Adaption des Stoffes sehen wir, wie aus dem Nebel geboren, im Frühlicht das Meer und die Skyline von Venedig. Ein Prinz von Kurland erzählt uns, während sich unser Blick aus dem Wasser der Lagune zum Turm von San Marco erhebt, um auf die astrologische Uhr und die Abbildung des Kosmos zu fallen, von einem geheimnisvollen Armenier, der ihm die Todesstunde seines Cousins nennt. Ein Tod, der ihn selbst zum Erbfolger macht und damit zum potentiellen Opfer einer Verschwörung.

Der Geisterseher, der geheimnisvolle Armenier, hat, nur um es kurz zu erwähnen, ein historisches Vorbild, das in der Vorgeschichte der Französischen Revolution eine Rolle gespielt hat. Es ist ein armer Sizilianer aus Palermo, der unter dem Namen Alessandro Graf von Cagliostro als Wunderheiler und Alchemist an allen Höfen Europas unterwegs und in die Halsbandaffäre verwickelt war, die zum traurigen Schicksal der französischen Königin Marie Antoinette in der Revolution von 1789 beigetragen hat. Grosso Cipontes ineinandergreifende Zahnräder vor dem Hintergrund kosmischer Planetenkonstellationen wirken auf mich wie eine Illustration dessen, was Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung zu Cagliostro angemerkt hat – der habe die Goldmacher- und Geisterseher- Mären selbst geglaubt, die ihm ein gieriger, korrupter und gelangweilter Adel so gerne abnahm. Unter lauter bloßen Dekorateuren sei dieser Großkophta Cagliostro geradezu wie ein Ernstfall aufgetreten.

Wir können damit festhalten, dass der Fortsetzungsroman Schillers, aus Geldnot geboren, kein vernachlässigbarer Teil seines Werkes ist und schon gar kein Groschenroman und dass auch die graphische Inszenierung dieses Stoffes als venezianischer Karneval und Maskenspiel durch Palmerino/Grosso Ciponte keineswegs in das Genre der Räuberpistole oder des effektheischenden Actionfilms fällt , sondern eher das alte „Prädikat wertvoll“ verdient.

Weitere Titel in dieser Serie sind Horace Walpoles Schloss Otranto, in der angelsächsischen Literaturgeschichte ein Gründungstext der Phantastik, E. T. A. Hoffmanns Sandmann und Theodor Storms Schimmelreiter. Sie alle darf man einer schwarzen Romantik zurechnen. Das, obwohl Schiller noch nicht und Storm nicht mehr zu den Romantikern gehörten und Kleist die Eigenständigkeit eines Grenzgängers für sich beanspruchen kann. Die behandelten Motive sind bei allen schwarzromantisch. Auch der realistische Romancier Theodor Storm setzt sich im Schimmelreiter mit dem Einbruch des Irrationalen in eine bereits von technischer Rationalität geprägten Welt auseinander.
Auf weitere Werke in dieser Serie dürfen wir uns freuen. Geplant sind die graphische Umsetzung von Victor Hugos Der Glöckner von Notre Dame und Edgar Allan Poes Der Untergang des Hauses Usher.

Aus dem skizzierten ästhetischen Rahmen fällt Martin Luther. Bevor ich hier noch einmal im Einzelnen auf dieses einmalige Werk eingehe, möchte ich noch ein paar Sätze zum Hintergrund dieses Projektes sagen. Werner Ost und Michele Sciurba hatten 2014 nach der Gründung der Faust Kultur GmbH, innerhalb derer die Edition Faust als Verlag etabliert wurde, gemeinsam mit Ulla Bayerl und den beiden Stiftern Ute Knie und Konrad Elsässer die Faust Kultur Stiftung ins Leben gerufen. Die Hauptaufgabe der Faust Kultur Stiftung ist es, das Faust Kultur Portal als selbstloses Feuilleton zur Bereicherung der deutschen Literaturlandschaft zu fördern. Im Rahmen dieser Förderung hatte die Stiftungsleiterin Ulla Bayerl im Vorfeld zum Reformationsjubiläum und Lutherjahr 2017 gemeinsam mit Vertretern der Evangelischen Kirche (EKD) überlegt, wie man jungen Menschen einen so wichtigen Eckpfeiler unseres kulturellen Lebens wie die Reformation in all ihren positiven und kritischen Facetten näherbringen kann. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die von Ciponte gezeichnete und von Dacia Palmerino getextete Biographie Luthers als Graphic Novel wurde mittlerweile in Deutschland tausendfach verkauft und unter dem Titel Renegade beim renommierten New Yorker Verlag Plough veröffentlicht, wo sie 2018 in den USA die Goldmedaille des Independent Publisher Book Awards gewonnen hat.

Die Biographie des Reformators erschien im Jubiläumsjahr 2017, auch sie ist eine Abfolge nicht gezeichneter, sondern gemalter Bilder, allerdings überwiegend in einem kleineren Format. Ausnahmen davon machen der Titel und die Kapitelanfänge. Während der Covertitel Martin Luther als bärtigen Mönch zeigt, der umgeben ist von bedruckten Blättern und griechischen Schrifttypen, die auf seine Bibelübersetzung verweisen, erscheint auf dem Titel zum ersten Kapitel „In dunklen Zeiten“ ein Detail aus dem Garten der Lüste von Hieronymus Bosch. Daran lässt sich erkennen, dass diese Graphic Biography keine erbauliche Hagiographie sein wird, sondern eine kritische Darstellung auf der Höhe der Geschichtswissenschaft. Obwohl sich das Buch, das mit Förderung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau entstand, für den Geschichtsunterricht und die Jugendarbeit eignet, ist es voller Witz und mit seinen vielen ironischen Anspielungen auch allen zu empfehlen, die die Reformationsgeschichte zur Genüge zu kennen glauben. Was in einem großen Historienfilm der Abspann ist, sind hier zwei Seiten mit Porträts der handelnden Figuren. Luther und seine Frau Katharina von Bora, Philipp Melanchthon, Kaiser Karl V., Papst Leo X. und die Rebellen Thomas Müntzer, Florian Geyer und Götz von Berlichingen. Und auch Andrea Grosso Ciponte und Dacia Palmerino leisten sich den wohlverdienten Luxus, am Ende des Bandes in Renaissanceporträts zu erscheinen. Dacia Palmerino mit erhobenem Schwert.

Mit dem Erscheinen der Gaphic Novel Faust im Jahr 2021, adaptiert von Jan Krauß und gezeichnet von Alexander Pavlenko, hat die Edition Faust nun auch ein Buch im Programm, das hinter ihren Verlagsnamen ein Ausrufezeichen setzt. Das Vorspiel auf dem Theater lassen Krauß und Pavlenko auf dem Frankfurter Römerberg stattfinden. Dabei verlangt ein etwas melancholischer Goethe seine Jugend zurück, die Zeit, als er nichts hatte und doch genug. Aber als er dann doch zu unser aller Glück den Faust schrieb, hatte er mit seiner Jugend und dem frommen Geist des Pietismus, in dem er erzogen worden war, dramatisch gebrochen. Durch den Tod seiner Schwester Cornelia in tiefe Verzweiflung gestürzt, hatte Goethe am 29. November 1777 Weimar verlassen und war zum Brocken im Harz geritten. Er bestieg ihn in einem lebensgefährlichen Fußmarsch über vereistem Schnee, einen verzagten Förster an seiner Seite, am 10. Dezember. Und schrieb anschließend in sein Tagebuch „Heiterer herrlicher Augenblick. Die ganze Welt in Wolken und Nebel und oben alles heiter. Was ist der Mensch, dass Du sein gedenkst.“ Und gleich darauf in einem Brief an Charlotte von Stein: „Ich war oben und habe auf des Teufels Altar meinem Gott den liebsten Dank geopfert.“ Ohne Mephisto ist der Faust nicht zu haben.

Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Hinweis. Zu den europäischen Zentren der Graphic Novel oder Bande dessinée, wie in Frankreich nicht nur der Comicstrip sondern auch die Graphic Novel genannt wird, gehört die Stadt Angoulême in der Region Nouvelle Aquitaine. Angoulême ist ein weltweit beachtetes Zentrum dieser Kunstsparte. Es gibt ein Museum, das die Geschichte dieser Kunst von den Anfängen in den USA bis zu ihrem Siegeszug um den Globus dokumentiert. Einmal jährlich wird in Angoulême auch eine Buchmesse ausschließlich mit Bande-dessinée-Titeln veranstaltet. Es gibt dort Ateliers für Maler, Zeichner und Textgestalter. Es gibt Stipendien für die Arbeit in diesen Ateliers. Die Nouvelle Aquitaine ist die französische Partnerregion Hessens und der Hessische Literaturrat die Partnerorganisation der Kulturorganisation ALCA. Diese Partnerschaft funktioniert gut, wo wüsste man das besser als in diesem gastfreundlichen Haus, der Villa Clementine. Die Partnerschaft ist erfolgreich auf dem Gebiet der Literatur. Sie ist noch entwicklungsfähig. Ermöglichen Sie es den hessischen Verlagen, sich in Angoulême zu präsentieren. Und lassen Sie uns der Literatur-Partnerschaft mit Bordeaux eine Bande-dessinée-Partnerschaft mit Angoulême hinzufügen.

Harry Oberländer, Schriftsteller und Journalist

 
 
Siehe auch die Websites der Verlage:
Henrich Editionen
Edition Faust

Letzte Änderung: 25.07.2022  |  Erstellt am: 23.07.2022

divider

Hat dir der Beitrag gefallen? Teile ihn mit deinen Freunden:

Kommentare

Horst Samson schreibt
Es ist großartig, dass das Land Hessen hessische Verlage auszeichnet, doch dabei sollte man nicht mit der Gießkanne herumirren, und Verlag prämiieren, die noch nicht an der Reihe waren, sondern Verlage, die es auch verdienen, die regelmäßig dem Lesepublikum etwas zu bieten haben, wie "Faustkultur"/Edition Faust, mit ihrer exzellenten Online-Seite und den guten, gebundenen Büchern (z.B. Werner Söllners Gedichtbände "Knochenmusik" oder "Schartige Lieder"), die man hier verlegt oder durch Rezensionen oder Interviews mit Autoren würdigt, was seit langem überregionale Beachtung findet. Von den "Henrich Editionen" höre ich hier zwar zum ersten Mal, betrachtet man jedoch das Verlagsprogramm, dann rechtfertigt sich der Preis aus der regionalen Sicht allemal auch. Also Gratulation den zurecht Geehrten!

Kommentar eintragen