Der kleinste, also größte gemeinsame Nenner

Der kleinste, also größte gemeinsame Nenner

Kontrapunkt

Ein bekannter Spruch lautet: Demokratie ist das Ende der Kunst. – Kann sich die Entscheidung für eine emphatisch aufgefasste Kunst, die mit spezifischer Qualität zu tun hat, aus einem kollektiven Votum ergeben? Und, gibt es unabhängige Jurys? Thomas Rothschild hat der Vorstellung von einem vernünftigen Auswahlverfahren einen Kontrapunkt gesetzt.

In einem Interview mit nachtkritik.de sagt der neue Intendant des Berliner Theatertreffens Matthias Pees unter anderem: „In einem Juryverfahren mit verantwortungsvollen und sachkundigen Juror:innen verhandeln diese argumentativ über die einzuladenden Stücke und stimmen schließlich über sie ab – und kommen damit auf einem demokratischen Wege natürlich zu einem weniger subjektiven Gesamtergebnis als bei einzelkuratorischen Entscheidungen. Es ist dadurch aber nicht automatisch ein besseres Ergebnis, denn als potenziell auch nur kleinster gemeinsamer Nenner ist es stark mittelmäßigkeitsgefährdet, und radikale, besonders aus der Reihe fallende oder stark spaltende oder zuspitzende Produktionen haben es mitunter schwerer, sich durchzusetzen.” Es bleibt die Frage, ob der Fetisch demokratischer Verfahren in den Künsten zu besseren Ergebnissen führt, und wenn nicht, ob man, was ja durchaus möglich ist, was man aber deklarieren sollte, Demokratie jenseits der Politik um jeden, also auch um den Preis von Qualitätsverlust forcieren will. Eins sollte man jedoch bedenken: Wer Entscheidungen einem Künstler oder einer Künstlerin, einem Arzt oder einer Ärztin, einem Dachdecker oder eine Dachdeckerin überlassen möchte, ohne auf ein kollektiven Korrektiv zu bestehen, ist deshalb noch nicht antidemokratisch oder gar ein Befürworter des Antiparlamentarismus.

Dass Matthias Pees mit seiner Bemerkung recht hat, ist nicht bloß eine aus der Luft gegriffene Vermutung. Der Verdacht beruht auf eigener Erfahrung. Ich gehöre seit ihrer Gründung im Jahr 2003 der Jury des nach dem Modell der SWR Bestenliste vom Österreichischen Rundfunk eingerichteten Bestenliste für Literatur an. Jeden Monat veröffentlicht der ORF das arithmetische Ergebnis aus den Voten der „verantwortungsvollen und sachkundigen Juror:innen“. Es bildet die Liste der jeweiligen „besten 10“ Neuerscheinungen. Dass diese von österreichischen Autor*innen stammen oder in österreichischen Verlagen erschienen sein sollten, steht nicht in den Statuten.

Klickt man auf der Homepage des ORF auf den entsprechenden Link, kann man nachprüfen, welche vier Vorschläge die einzelnen Juror*innen eingesandt haben. Ein Vergleich mit der endgültigen Liste beweist: Was Matthias Pees für die Jury des Theatertreffens in Betracht zieht, gilt auch für andere mit mehreren Juror*innen besetzte Gremien. Das Verfahren ist zwar formal demokratisch, aber es führt stets zum größten (also zu kleinsten) gemeinsamen Nenner. Was vielleicht besonders bemerkenswert wäre, was eine Einzelne, ein Einzelner entdecken mag, was aber (noch) nicht konsensfähig ist, fällt dabei unter den Tisch. Das Neue, Radikale, Förderungsbedürftige und -würdige befindet sich oft am Rand, nicht im Zentrum.

Zu den Titeln, die in der nahen Vergangenheit von einzelnen Juror*innen der ORF Bestenliste genannt wurden, gehören unter anderem: Deesha Philyaw: „Church Ladies“, Lina Kostenko: „Ich bin all das, was lieb und wert mir ist“, Michail Prischwin: „Tagebücher Band II“, Wole Soyinka: „Die glücklichsten Menschen der Welt“, Aleš Šteger: „Neverend“, Leonid Zypkin: „Die Winde des Ararat“, Mariana Enriquez: „Unser Teil der Nacht“, Regina Lampert: „Die Schwabengängerin“. Sie haben keine Chance, auf die Liste der angeblich besten Neuerscheinungen zu gelangen. Man darf mutmaßen, dass eine Mehrheit der Juror*innen sie gar nicht erst zur Kenntnis genommen haben.

Auf der Bestenliste häufen sich die Bücher aus großen Verlagen, von längst bekannten und mit Auszeichnungen versehenen Autor*innen und bevorzugt von Österreicher*innen, die dem internationalen Maßstab für literarische Qualität oft nur die Gunst des Patriotismus entgegen halten können.

So gelangt mit schöner Regelmäßigkeit jedes neue Buch von Karl-Markus Gauß auf die Liste, um dort bis auf den ersten Platz zu klettern. Demnach wäre Gauß besser als Gustave Flaubert und Richard Ford, besser als Ali Smith und Ivo Andrić, von denen zur gleichen Zeit Titel in den Buchhandel kamen. Gauß ist ohne Zweifel ein lesenswerter Autor, anerkannt auch in Deutschland, aber der Beste oder auch nur einer der zehn Besten im Vergleich mit den Neuerscheinungen aus aller Welt?

Dazu sollte man allerdings wissen: Karl-Markus Gauß ist seit vielen Jahren Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“. Er entscheidet, wer in dieser Zeitschrift publizieren darf, er hat die Macht, zu bestrafen und zu belohnen, und er macht Gebrauch davon. Von den Juror*innen der Bestenliste, die Karl-Markus Gauß gewohnheitsmäßig nominieren, sind mehrere regelmäßige Mitarbeiter von „Literatur und Kritik“, ein weiterer leitet eine befreundete Literaturgesellschaft.

Solch eine Nominierung hat das Gschmäckle von Provinzialismus und Nepotismus. Dass Korrumpierbarkeit zum österreichischen Nationalcharakter gehört, weiß man nicht erst, seit ein H.C. Strache nach Ibiza reist und ein Sebastian Kurz wegen Korruptionsverdachts vom Amt des Bundeskanzlers zurücktreten musste. Das Schlimmste ist, dass die Beteiligten noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben. Sie halten vielmehr jene, die Hemmungen haben, für Trottel. Schamlosigkeit ist in Österreich so alltäglich wie der Veltliner und das Wiener Schnitzel. Und so empfiehlt die ORF-Bestenliste nicht die besten Bücher, sondern die ziemlich besten Freunde. Der kleinste oder größte gemeinsame Nenner ist in Österreich, wie überall, eine Folge der von Matthias Pees in Frage gestellten Jury-Struktur, verschärft durch die Bereitschaft zu faulen Kompromissen, Freunderlwirtschaft und Konfliktvermeidung, die auch die angebliche Modernisierung Österreichs durch Bruno Kreisky unbeschadet überlebt haben. Matthias Pees spricht in dem erwähnten Interview von jenen Kritiker*innen, die sich „individuell sehr unterschiedlich (…) sich aus dem Hinterbühnen- und Kantinenbereich der Theater heraushalten oder nicht“. Im kleinen Österreich bedarf es nicht einmal einer Kantine. Man kennt sich und läuft sich auch so über den Weg.

Letzte Änderung: 28.07.2022  |  Erstellt am: 28.07.2022

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Nicht nur in Österreich, als vielmehr in Deutschland müssen sich insbesondere gegenwärtig manche vorsehen, dass ihnen nicht zum wiederholten Mal ein "perfekter Mord" unterläuft, wie schon das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" am 25. Januar 1982 in seiner damaligen Ausgabe auf der dortigen Seite 47 im Zusammenhang mit dem Schicksal der früheren AEG-Telefunken AG berichtet hat. Zwar gab es laut dem Physiker Hans-Joachim Queisser eine Initiative, die zur Aufklärung beitragen wollte. Aber der ehedem regierende Wirtschaftsminister rief "zur Ordnung". Bis heute bleibt denn auch im Dunkeln, weshalb nicht nur die technischen, sondern vor allem die sozialen Errungenschaften des einstigen Konzerns hochoffiziell unter den Tisch zu fallen hatten, ohne die sich der je individuelle Genius niemals ungehindert entfalten kann.
Dr Freud schreibt
Nimm deine Medikamente, Ralf!

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