Zwei sind keiner zuviel
Ein ernster Komponist der Gegenwart steht vor dem Problem, etwas auch für ihn selbst Neues schaffen zu müssen und zu wollen – und dennoch wissen zu müssen, was er will. Er kann also nur wollen, was er nicht schon weiß. Der Weg zum Ziel ist der Umweg. Der in Südkorea geborene, deutsche Komponist Kunsu Shim, der nun 65 Jahre alt geworden ist, hat eine eigene Methode entwickelt, der eigenen fremden Musik habhaft zu werden. Achim Heidenreich lässt ahnen, worum es geht.
Jedem bewussten menschlichen Handeln steckt eine Intention, eine Absicht inne. Bei Intendanten ist diese Absicht, etwas abzusehen, zu handeln unmittelbar in die Berufsbezeichnung geflossen. In kunstwissenschaftlichen Proseminaren wird nach dieser Künstlerintention gefragt, um wenigstens damit eines Beurteilungskriteriums habhaft zu werden, an dem ein Kunstwerk wie auch immer gemessen werden kann. Frage: Hat die Künstlerin, hat der Künstler es geschafft, ihre und seine Intention als Form-Inhalt-Kongruenz Gestalt werden zu lassen? Was wenn nicht? Ein berühmtes Beispiel: In der neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven werden Menschen als zu werdende Brüder besungen und sich darüber ziemlich lang gefreut. Ob nun allerdings das „Eu“ dazu taugt, als Freu-eu-heude derart rhythmisiert und letztlich auf einem h-gesungen, also keinem Vokal, in die Länge gezogen zu werden, ist zwar eine kompositorische Entscheidung Ludwig van Beethovens auf einen der weniger gelungenen Texte von Schiller, letztlich aber eine Geschmacksfrage, über die sich nur schlecht streiten lässt. Vielleicht schlägt hier noch ein feudaler barocker Gestus durch, der für koloristische Affektausdeutung eine Art Hecheltechnik erforderlich macht. Oder anders gesagt, Freude ist einfach auch nur eine andere Art von Arbeit und fordert ihre Fertigkeit.
Sucht man in den Kompositionen von Kunsu Shim nach der Intention, stößt man schnell an Grenzen. Es sind nicht die Grenzen des Begreifens, sondern die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung und des sozialen Miteinanders, die er beharrlich überschreitet. Das geschieht nicht aus dem allseits abgefrühstückten Anti-Begriff der Avantgarde der 1960er Jahre heraus und auch nicht aus einem belehrend-wegpädagogisierten emphatischen Werksbegriff.
Die Komponistenintention, also das, was bewirkt werden soll, steht bei Kunsu Shim fast schon in klassischer Strenge im Fokus seines Schaffens, allerdings in ihrer dialektischen Aufhebung – da seien hier stellvertretend genannt: „Steinschlag.Zeit“ für ein geteiltes Orchester (UA Duisburg 2008), „WolkenBlindenschrift“ für Sopran, Vokalensemble und Orchester (UA Würzburg 2016) sowie „Schwelle. Was ists für zwei Liebende“ für Streichorchester (UA Karlsruhe 2014).
In den drei exemplarisch genannten Orchesterwerken von Kunsu Shim wird das dann tatsächlich im Hier und Jetzt der Aufführungssituation zu realisierende Klanggeschehen nicht allein, bzw. größtenteils gar nicht durch die zentralen Parameter des Tons, Tonhöhe und Tondauer, fixiert und dadurch konservierbar. Was erklingt, hängt von den Entscheidungen der Interpreten innerhalb eines vorgegebenen Aktionsrahmens ab. Wir würden den Gesamtklang zwar Cage-erprobt aber vorschnell als Zufallsklang bezeichnen, da der Komponist Kunsu Shim sehr große Freiräume schafft. Wenn wir nun die englische Vokabel für Zufall bemühen, nämlich accident, kommen wir der intentionslosen Intention Shims allerdings erheblich näher. Rückübertragen, also über einen Umweg, ist die Akzidenz in unserem abendländischen Denken, zum Beispiel bei Leibniz, das Beiläufige in Abgrenzung zum Substanzbegriff. Substanz bedeutet bei Leibniz nichts anderes als ein konkret Seiendes als Darstellung einer ausgedehnten Vielheit in einer nicht ausgedehnten Einheit. Das nennt er Perzeption als eine innere aktive Handlung. Diese nicht ausgedehnte Einheit bildet bei Kunsu Shim freilich die chronologisch verstreichende Zeit, bzw. die mit sehr viel Zeit ausgestatteten einzelnen Zusammenklänge innerhalb der jeweiligen Klangfolgen. Die Klangfolgen bilden aus dieser Sicht die ausgedehnte Vielheit. Und schließlich sind es die aufführenden Musiker, die in dieser ausgedehnten Vielheit die Perzeption durch ihre aktive Handlung erreichen und weitergeben. Nicht zu vergessen sind die Zuhörer, die innerhalb des Aufführungsraums ihre Zeit- und Klangwahrnehmung mit Aktionen der Ausführenden entweder synchronisieren, also zeitgleich weiterhören oder rückbeziehend die Klänge kontextualisieren und auf beide Weisen das musikalische Kunstwerk in seiner jeweils dann individuell unterschiedenen Fassungen erst herstellen. Diese Freiheit, im Hören selbst eine Welt erschaffen zu können, schenkt uns Kunsu Shim dank seiner scheinbaren Intentionslosigkeit. In „Was ists für zwei Liebende“ wird diese Perzeption durch zwei Spieler – an nur einem Streichinstrument – erreicht. Eine Person führt den Bogen, die andere hält die Geige und greift die Tonhöhe. Es entstehen also Duos auf einem Instrument: „Jedes Duo enthält fünf Klangaktionen, und alle vier Duos werden quasi tutti zusammen ausgeführt. Die vorgegebenen Töne werden mehr oder weniger sehr leise gespielt und in zwei verschiedenen Dauern gehalten. Eine Aktion ist – wie ein einziges Ereignis – von anderen Aktionen durch eine Zäsur getrennt. Diese Musik gleicht einem Zwischenraum, der zwischen Zwei- und Einsamkeit halb beleuchtet ist.“ (Kunsu Shim)
Durch diese Gestaltung der Intonation – ich vermeide jetzt einmal ganz bewusst den Begriff Performance – erhebt Shim das Herbeiführen einer Intonation zu einem gleichwertigen klanglichen Geschehen neben dem intonierten Ton. Die Akzidenz wird somit zu einem zentralen Moment erhoben und ist daher alles andere als das, was wir mit dem Wort Zufall umgangssprachlich und leider auch fachterminologisch viel zu flapsig zu beschreiben versuchen. Man kann die Argumentation noch weitertreiben, wenn wir auf Eduard Hanslicks Definition der Musik in seiner Schrift „Vom Musikalisch-Schönen“ (1854) verweisen. Hanslick definiert darin Musik als „Arbeit des Geistes im geistfähigen Material“. Mit Heinz Klaus Metzger könnte ergänzt werden, Musik, die den schönen Nebeneffekt hat, dass sie klingt.
Wir werden jetzt sehen, dass wir, um die Musik von Kunsu Shim weiter zu verstehen, nicht asiatische Philosophie oder ein asiatisches Menschenbild – was ist das eigentlich? – bemühen müssen, oder gar in in der Neuen Musik sehr eingeübtem Exotismus verfallen, um Shims Musik eine Adornitische „Form-Inhalt-Kongruenz“, bzw. eine stimmige intendierte Intentionslosigkeit bescheinigen zu können. Das geht auch mit unserem deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Der nannten den Weg, den der Geist zu nehmen habe, einen Umweg, weil er nur über die Vermittlung führen könnte. Das unterscheide ihn von der Natur, die einfach so sei, wie sie sei, nämlich einfach wachsend und wuchernd, wenn man sie in Ruhe lässt: „Es ist ein trivialer Satz: Die Natur kommt auf dem kürzesten Weg zu ihrem Ziel. Dies ist richtig; aber der Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg“ (1805/1806). Diese Vermittlung durch die Arbeit des Geistes (Komponieren) im geistfähigen Material (Musik) trägt die Musik von Kunsu Shim substantiell in sich. Nebenbei bemerkt an dieser Stelle: Für den Komponisten Dieter Schnebel war dieses geistfähige Material, die Musik, ein Synonym für Gott, denn es heißt in der Bibel nach der Schöpfung: Der Geist Gottes wehte über dem Wasser.
Genau aber dieses Geistige meint hier Intentionslosigkeit, die nicht gleichzusetzen ist mit Leere, sondern mit „Möglichkeit des Daseins“ (Reinhold Jakob Michal Lenz), das alles Leben – und Lieben – zugewandt umfasst. Daher gibt es im Werk von Kunsu Shim gerade keine Zufälle oder eine pseudoreligiöse Ästhetik des Wunderbaren. Wer in die Schule von Nicolaus A. Huber ging, der wird morgens sicher nicht gebetet haben, oder? Das empirische Leben kennt keine Unterscheidung von Substanz und Akzidenz – das ist immer wieder klar darzustellen, und das klanglich deutlich zu machen durch kompositorische Aktualisierung in seinem Werk, ist die kompositionsgeschichtliche Leistung von Kunsu Shim. Das ist sehr viel!
Letzte Änderung: 21.09.2023 | Erstellt am: 19.09.2023
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