Was wollte Brahms?

Was wollte Brahms?

„Ein Deutsches Requiem“ in Salzburg

Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms an einem Karfreitag im Großen Festspielhaus in Salzburg zu hören, ist allein schon besonders. Dargeboten mit dem Gewandhausorchester, das das Werk 1869 erstmals vollständig aufführte, unter der Leitung seines heutigen Kapellmeisters Andris Nelsons und mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks, machte den Abend für Andrea Richter zu etwas Unvergesslichem.

Beim Aufschreiben des Erlebten wandert der Blick aus dem Fenster. An der gegenüberliegenden Häuserfront, wo sich das Friedensbüro Salzburg befindet, ist ein großes Transparent gespannt: „Nein zum Krieg“ steht in grünen Lettern darauf geschrieben, kleiner darunter: „Für Frieden und globale Gerechtigkeit“. Da steht nicht: „Nein zu Putins Krieg“ und es stellt sich die Frage, an wen dieses Nein gerichtet ist, ob es mit dem Krieg in der Ukraine etwas zu tun hat oder sich allgemein gegen Kriege in aller Welt richtet in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? So oder so passt ein Requiem zu jeder Art von Krieg, egal welcher Wahnsinnige ihn angezettelt hat. Am Karfreitag einmal mehr. Obwohl es die Salzburger mit diesem eher besinnlich traurigen Feiertag nicht so ernst zu nehmen scheinen, denn auf dem Universitätsplatz herrschte tagsüber Budenrummel mit Süßem nach Wahl. Von wegen Fasten und Fisch.

Am Abend stand mit Andris Nelsons ein Lette am Pult, Bürger einer Nation, die weiß, wie es ist unter fremde Macht zu gelangen, die die Angst kennt, es könnte noch einmal geschehen. Das Mitfühlen der Balten für die Ukrainer war vom ersten Tag des Krieges an sehr groß. Für die Toten und für ihre Angehörigen erst recht.

Geriet deshalb sein Dirigat so eindringlich? Der Eindruck drängte sich geradezu auf. Er agierte meist mit Minimal-Gestik, manchmal bewegte sich an ihm nichts anderes als der präzise schlagende Taktstock. Oft hielt er sich mit der ungebrauchten Linken am rückwärtigen Pult-Geländer fest. Oder er stand wie angewachsen da, ballte zunächst nur die linke Faust neben seinem Körper, hob sie in Zeitlupe in die Höhe, während die rechte Hand mit dem Taktstock – ohne jede Takt gebende Bewegung – nachzog, bis er mit beiden Armen seitlich über dem Kopf wie eine Statue erstarrt stand. Er bewegungslos, vor ihm Orchester und Chor nach stetigem Crescendo in einen brahmsschen Fortissimo-Orkan explodierend. Beide Hände benutzte er vorwiegend dann, wenn es um den Chor ging. Und was er alles aus diesem Klangkörper der Stimmen herausholte, war wunderbar von sphärischen, engelsgleichen, romantischen Pianogesang bis hin zum wuchtigen „Preis und Ehre und Kraft“. Vor allem beeindruckte die große Präzision, mit der musiziert wurde und ohne die dieses Requiem nicht wirklich gelingen kann. Denn es lebt von musikalischen Gegensätzen, Themen, die oft innerhalb von Sekunden gewechselt werden müssen. Verwischt Etwas, ist nicht das Eine vom Anderen deutlich abgesetzt, kann das von Brahms Gewolllte, der Kontrast, nicht die volle Wirkung entfalten. Beide Hände auch, wenn er den Solist*innen Julia Kleiter (Sopran) und Christian Gerhaher (Bariton) in drei von sieben Sätzen ihre Einsätze gab. Nach ausgeprägtem emotionalem Auf und Ab, nach dem letzten Wort, das auch das erste gewesen war: „Selig“, stand Nelsons mit verschränkten Händen auf der Brust, seinen Taktstock umarmend, den Kopf gesenkt, sekundenlang still mit dem Rücken zum Publikum, länger als nach einem Requiem üblich. Sein „Nein zum Krieg“?

 | © Foto: Andrea Richter

Was wollte Brahms? Auf jeden Fall hatte er keine herkömmliche Totenmesse im Sinn. Das beginnt damit, dass eine solche mit lateinischem Liturgie-Text hätte verfasst werden müssen. Nach Robert Schumanns Tod stieß Brahms 1856 in dessen Unterlagen auf ein geplantes Projekt: „Ein Deutsches Requiem“, was Brahms als Idee gefiel. Und zwar als Trostspende–Projekt für die Hinterbliebenen und weniger um die traditionelle Bitte um Erlösung des Verstorbenen. Er suchte sich aus dem alten und neuen Testament der von Luther ins Deutsche übersetzten Bibel-Stellen heraus, um die nach eigener Vorstellung für eine Vertonung zusammenzustellen. Es ist ein Werk der Verheißung und der Verwandlung des Zeitlichen ins Ewige, eines in dem er musikalisch auch den bereits verstorbenen Vorbildern Bach, Schubert oder Schumann gedenkt. In sieben Sätzen lässt er Tod und Leben aufeinanderprallen respektive sich ergänzen, demonstriert, wie sehr seine eigene kompositorische Arbeit von der ihren beeinflusst wurde.

Das Werk entstand in drei Etappen: Die Sätze I-IV zwischen 1861 und 1865 (Uraufführung 1867 in Wien), die Sätze VI und VII 1866 (Uraufführung der sechs Sätze in Bremen 1868). Erst nach diesen Präsentationen komponierte Brahms einen weiteren Satz und schob ihn als die Nummer V dazwischen. Dieser Mittelsatz ist der Einzige, der auf starke Kontraste verzichtet. Genauso wie auf Posaunen oder Pauke. Nur Streicher, Holzbläser und ein romantisch schmelzender Chorgesang finden in größter Harmonie zusammen. Die Uraufführung des Gesamtwerkes fand dann wie gesagt 1869 im Gewandhaus in Leipzig statt.

Dieses Orchester mit seinem Dirigenten Nelsons war in diesem Jahr bei den Osterfestspielen in Salzburg zuständig für mehrere symphonische Werke und für die Oper Tannhäuser. Die Auswahl des Requiems von Brahms für das Programm war angesichts dieser Termin-Musiker-Konstellation von zwingender Logik. Von bezwingender Schönheit das Ergebnis, insbesondere wegen des Hauptdarstellers, dem fantastischen Chor des Bayerischen Rundfunks, der der Zuschauerin alle Facetten von Leid, Tod, Vergänglichkeit, aber auch von Trost, Leben und Ewigkeit direkt ins Herz sang.
 
 

Das vollständige Werk erlebte am 18. Februar 1869 seine Uraufführung im Leipziger Gewandhaus durch den Gewandhauschor.

Letzte Änderung: 09.04.2023  |  Erstellt am: 09.04.2023

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Kommentare

Matthias Buth schreibt
Schumann hatte also die Idee für "ein deutsches Requiem". Das macht mich glücklich. Schumanns Requiem ist leider viel zu selten gespielt. Schöner Artikel.
Ralf Rath schreibt
Gegen den laut Immanuel Kant von der Natur aus gegebenen Schmerz als dem "Stachel der Tätigkeit, um immer zum Bessern fortzuschreiten", wäre nichts einzuwenden, wenn es nicht oft den kaum mehr sagbaren Schmerz des Einzelnen gäbe, der ihn nur deshalb seelisch und körperlich bis weit ins Unerträgliche hinein quält, weil Dritte der sadistischen Versuchung nicht widerstehen. In völliger Verkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt dadurch erzwungenermaßen der Tod ein. Laut den Schätzungen eines Ärztlichen Direktors des Ulmer Universitätsklinikums verstarben infolge dessen hierzulande allein im Jahr 2020 rund 40.000 Personen zusätzlich und insofern von vornherein vermeidbar. Die Brahms'sche Musik des deutschen Requiems tröstet somit vor allem die Hinterbliebenen von auf diese Weise ums Leben gebrachten Menschen. Zwar kritisierte Jutta Limbach als damalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1999 das in Rede stehende Handeln längst als "blind". Aber noch immer liegen die wirklichen Umstände des mitunter jähen Ablebens nicht offen vor Augen.
Martin Weimer schreibt
Welche Pietà-Darstellung ist das? Großartig, die Darstellung der patriarchalen Angst im Geschlechterverhältnis!

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