Meisterkurs für Hörer

Meisterkurs für Hörer

Irvine Arditti zum 70. Geburtstag
Irvone Arditti | © Wikimedia commons

Man glaubt nicht, wie viel der uns vertrauten klassischen Musik vor ihrer Premiere als unspielbar galt. Für Irvine Arditti, den Gründer des bekanntesten Streichquartetts für zeitgenössische Musik, gibt es nichts Unspielbares. Das Notierte in erfahrbare Kunst zu verwandeln, ist seine Lebensaufgabe. Achim Heidenreich hat dem nun Siebzigjährigen einen Geburtstagsartikel geschrieben.

Musik hat den schönen Nebeneffekt, dass sie klingt. Meistens jedenfalls, wenn Ton vorhanden. Gelesen werden kann sie auch, wenn aufgeschrieben. Der Komponist und Theologe Dieter Schnebel (1930-2018) hat uns für unsere stilleren Stunden mit „Mo-No“ (1969) so eine Musik zum Lesen geschenkt. Klang wird hier anhand von musikalischen Graphiken mit Punkten, Kringeln, Hälsen und Pausenzeichen, mitunter auch richtigen Zitaten aus der Musikgeschichte, frei assoziierbar. Wer das liest, ist also nicht gleich doof, wenn es nicht auf Anhieb verstanden wird. Es reicht, wenn die bisher gemachte Erfahrung mit mehr oder weniger symbol- oder aktionsschriftlich fixierten Klängen von Leonin und Perotin aus dem 12. Und 13. Jahrhundert bis eben Schnebel himself und natürlich John Cage im Leser musikalische Erinnerungen wachruft oder zumindest Ahnungen evoziert, wie so etwas vor dem inneren Ohr klingt. Das setzt allerdings ein sehr gehörig‘ Maß an schon gemachter Musizierpraxis voraus, was wiederum echt bildungsbürgerlich wäre, denn der Anti-Reflex der 68er Generation war dialektisch gesehen auch nichts anderes als ein sich Auskennen in der musikalische Weltliteratur.

Bei Schnebel wird also nicht gleich jeder, jedoch der so oft geschmähte Bildungsbürger sofort zum Künstlerbürger und damit irgendwie auch zum Garant für Demokratie dank kultureller Teilhabe. Diese Prolegomena zur Würdigung des unvergleichlich künstlerisch fleißigen und auch der Jugendförderung verpflichteten Geigers Irvine Arditti könnten nun auf John Cages tacet-Klavier-Komposition „4:33“ ausgedehnt werden, um die nur äußerlich schweigende, innerlich durchaus tobende Musik auf den Konzertsaal zu übertragen. Gerade dieses Werk der Verneinung von Instrumentalklang zielt auf ein wirklich fokussiertes Hören auf die Nebengeräusche im Raum, dem Knistern des Bonbonpapiers in einer vorderen Sitzreihe, kurz: Auf alles, was Odem hat. „4:33“ ist damit ein Hochgesang auf das empirische Leben. Der Musikphilosph Heinz-Klaus Metzger irrte durchaus, als er etwa für die Musik von Anton von Webern einen schalltoten Raum forderte. Wolfgang Rihm mutmaßte dazu einmal in einem Interview mit dem Autor dieser Zeilen, dass Publikum müsste dann aber auch schon tot sein, sonst würde es keinen Sinn machen.

Merke also: Wenn Musik ganz leise ist, wird der Interpret noch lange kein Pantomime – schon gar nicht Irvine Arditti, Primarius des 1974 von ihm in London gegründeten Arditti Quartetts und vor siebzig Jahren ebenda geboren. Im Gegenteil: Wenn Arditti zeitgenössische, meist auch dem Quartett gewidmete Kompositionen (ur)aufführt – die Repertoireliste umfasst gut 1200 Werke –, kann ein klangliches Ausbalancieren noch so zartester Flautandopassagen bis zu wahrlich frappanten Sturm- und Drangklangkaskaden den Gehörsinn umschlingen: Fast unhörbare Musik, diese aber mit aller denkbaren Pianissimointensität intoniert, daran zu feilen ist Ardittis und seiner Mannen gewissermaßen Tagwerk.

Wolfgang Rihms haptisch-eruptive dreizehn Streichquartette, Mister Universum Karlheinz Stockhausens „Helikopter-Streichquartett“ oder Rebecca Saunders’ experimentelle Klangauffächerungen bewegen sich hingegen auf der dynamischeren Seite in Ardittis Musikkosmos, in dem auch Brian Ferneyhoughs New Complexity nicht fehlen darf. Staunend zu erleben aber war die beschriebene Leiseorgie bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik im Jahr 2000 während der Uraufführung des zweiten Streichquartetts von Jakob Ullmann. Die fabelhaften Vier spielten sichtbar wie die Berserker. Was das Ohr jedoch nicht mehr erreichen sollte, ergänzte ihm das Auge: Klangmimesis.

Ein Jahr zuvor, 1999, in dem Irvine Arditti mit seinem Streichquartett als erstem Ensemble überhaupt den renommierten Ernst von Siemens-Musikpreis zuerkannt bekam, wurde es bei Salvatore Sciarrinos „6 Quartetti brevi per archi“, entstanden von 1967 bis 1992, nicht minder sehr vernehmlich still im Konzertsaal. Beim betörenden Veratmen der tönend bewegten Luft modellierte Arditti Sciarrinos Pianissimi hochdramatisch verklingend als flüchtige Klangplastik in den Sendesaal des Hessischen Rundfunks hinein. Das sinnliche Erfahren von zeitgenössischer Musik wird hier wahrlich zu einem Meisterkurs für Hörer.

Was also mit einer Geige überhaupt möglich ist, das entscheidet sich an dem, was Irvine Arditti selbst auf ihr anbietet. „Komponieren Sie etwas, das wir nicht spielen können“, forderte er kürzlich bei der Vergabe eines Auftragswerks vom Komponisten. Damit reiht er sich in die mitkomponierenden Interpreten ihrer Zeit ein: Was der Klarinettist Richard Mühlfeld für Brahms, der Pianist Eduard Steuermann für die Zweite Wiener Schule, der Cellist Siegfried Palm für Bernd Alois Zimmermann waren – eine inspirierende Klangbibliothek –, das bedeutet die noch lange nicht ausgeschöpfte produktive (nicht nur reproduktive) Dimension des Geigers Irvine Arditti für alle, die das Instrument Violine ernst nehmen. Ernste Musik heißt eben nicht ohne Grund so, womit wir mit einem Bein in der Musikphilosophie stehen.

Irvine Arditti verkörpert auch die Philosophie der Neuen Musik und widerlegt mit seiner Kunst das Diktum des Komponisten Johannes Kreidlers, wer für Geige schreiben würde, schriebe nur ab. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag also, Meister Streichquartett!

Letzte Änderung: 20.02.2023  |  Erstellt am: 20.02.2023

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