Lauter schöne Stellen
Beethoven hatte der 1939 geborene Komponist und Pianist Franz Hummel schon lange im Blick. In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde er mit seinem im Altmühltal situierten Musikfestival „Sinfonischer Sommer Riedenburg“ bekannt. Nun hat er, wie Achim Heidenreich beschreibt, den Klassiker auf die schönen Stellen hin für Violine und Orchester bearbeitet und mit der Solistin Elena Denisova auf CD veröffentlicht.
Die Geigerin Elena Denisova spielt Franz Hummels verdichteten Beethoven
Potpourris waren im 19. Jahrhundert musikverlegerisch der Renner. Meist wandten sie sich an musikalische Laien, die ihre Lieblingsmelodien aus Konzert und Oper daheim nachspielen und damit auch nachempfinden wollten. Schier unüberschaubar beispielsweise sind die Wagner-Potpourris, denen sich der Musikwissenschaftler und ehemalige SWR2-Musikredakteur Burkhard Egdorf in seiner 2012 erschienen dreibändige Dissertation „Richard Wagner und das Potpourri“ gewidmet hat. Richtig führt er aus, dass das Potpourri gewissermaßen „Musik aus zweiter Hand sei“ und, wie im Fall der Wagner-Potpourris, eben vermeintlich populäre, bekannte Passagen der besagten Werke für ganz unterschiedliche Gelegenheiten und Instrumente präsentieren würde.
Tatsächlich könnte auch von einer auskomponierten Music-Box gesprochen werden, noch bevor es später das darin dann abgespielte Song-Format gab. Theodor W. Adorno hatte sich mit solchen betörenden Passagen bereits 1965 in seinem Rundfunkessay „Schöne Stellen“ befasst. Popularität spielte dabei keine Rolle. Vielmehr meinte Adorno mit besagten Stellen einzelne Momente in der Musik, in die man sich ganz unmittelbar verlieren könnte. Allerdings sei dafür das formale Ganze notwendig, aus dem heraus diese „Schönen Stellen“ sich entwickeln und dann unmittelbar zu uns sprechen könnten. Noch moderner könnte man mit Luigi Nono von einer Tragödie des Hörens sprechen, nach der sich nicht mehr so einfach wie davor weiterleben ließe, wenn man dieser Stellen gewahr werden würde.
Beides, ein Potpourri und eine Präsentation „Schöner Stellen“ hat uns bereits im letzten Jahr der 1939 im Altmühltaler Altmannstein geborene Komponist Franz Hummel geschenkt – und für deren Einspielung bei Sony classical das Russische Nationalorchester, die Geigenvirtuosin Elena Denisova, nebst ihrem Mann, den Dirigenten Alexei Kornienko, gewinnen können, beide schon sehr lange österreichische Staatsbürger und alle drei, Denisova, Kornienko und Hummel durch eine jahrzehntelange künstlerische Seelenverwandtschaft miteinander verbunden: Es ist nämlich, frei nach Goethe, allen dreien erlaubt, was ihnen gefällt. Bei Hummels gleichermaßen publikumserfolgreichem wie tiefsinnigem Musikfestival „Sinfonischer Sommer Riedenburg“ gefiel ihnen in den 1990er Jahren besonders die Kombination von Beethovens Sinfonik mit zeitgenössischer Orchestermusik über eine ganze, musikalisch überaus dichte Woche hinweg. Jeden Morgen offene Proben mit Kornienko am Pult auf dem Riedenburger Markplatz, Uraufführungen plus Beethoven dann ab 20 Uhr ebenda. Berg, Schönberg und Hummel waren mit ihren Violinkonzerten vertreten. Das hatte Niveau und wurde großartig angenommen. Schlief dann leider ein, als Hummel mit der Operette „Ludwig II.“ im Festspielhaus im dafür extra aufgeschütteten Forgensee vis à vis von Schloss Neuschwanstein zum Großverdiener wurde – bis 9/11 dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Zu Hummels 80. Geburtstag erlebte „Ludwig II.“ im Regensburger Theater vor drei Jahren eine schöne Renaissance als Uraufführung einer überarbeiteten Fassung.
Sei’s drum: Das Beethovensche Œuvre hat Hummel gewissermaßen ständig und immer im Fokus, wenn er komponiert. Das war noch nie anders. Sicher freute sich der unorthodox-musikantische Neutöner Hummel gewissermaßen diebisch, als er sich vor schon gut 15 Jahren die 32 Diabelli-Variationen von Beethoven als Schablonen unter 32 neuen eigenen Diabelli-Variationen legte und dabei ein grandioses Vexierspiel schön versteckter Stellen dabei herauskam. Bei seinem erneuten Zugriff auf Beethoven hielt er sich jetzt allerdings ganz genau an den – ist man geneigt zu sagen – Ausdrucksgehalt und Motivvorrat der Vorlagen Er hat nicht nur Beethovens Konzert für Klavier und Orchester op. 19 einfach als ein Konzert für Violine und Orchester umkomponiert – das Wort arrangiert wäre zu schwach dafür – sondern auch drei Arien aus Beethovens einziger Oper „Fidelio.“ „Gott! Welch‘ Dunkel hier! (Florestan)“, „O wär‘ ich schon mit dir vereint (Marzellina)“ und „Abscheulicher! Wo eilst du hin?… Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern (Leonore).“ Die Denisova, Widmungsträgerin und Uraufführungsinterpretin vieler Hummel-Werke, vermag mit hintergründiger, eben nie in billig auftrumpfender Siegerinnenmanier abkadenzierender Virtuosität die Anmut, Furcht und das schließliche Liebesglück von Leonore und Florestan in ihre frappant intonationssicheren Läufe und Akzentsetzungen hineinzuweben, als wär’s ein Stück nur für sie. Das wollte Hummel bestimmt auch so! Gleiches gilt für Beethovens Klavierkonzert. Wäre es als solches nicht bekannt, würde es einem beim Zuhören dieser Version für Geige und Orchester an nichts fehlen. Unsichere Naturen mögen gar zweifeln, ob sie sich nicht aus Versehen Beethovens Tripelkonzert aufgelegt haben könnten ob dieser in unter die Haut gehenden Doppelgriffen schwelgenden Violingirlanden und diesen ausgeprägt responsorialen Frage-Antwort-Passagen von Soloinstrument und Orchester. Zu letzterem nur so viel: Wer von den Eheleuten Denisova/Kornienko hier interpretatorisch und dynamisch wem sprichwörtlich aus der Hand frisst, so harmonisch-ergänzend geben sie sich die Impulse weiter, bleibt offen, wie es in jeder guten Ehe sein sollte. Marzellina und Florestan lassen grüßen und Ernst Kurth, der uns um 1920 erstmals eine Art psychologisch-musikalischen Energieerhaltungssatz lehrte, hätte sein Freude daran gehabt.
Wir haben sie jetzt und stellen lauter – schön!
Letzte Änderung: 28.04.2022 | Erstellt am: 26.04.2022
Ludwig van Beethoven Fiedelio Bearbeitungen für Violine und Orchester
Bearbeitungen für Violine und Orchester
von Franz Hummel
Elena Denisova, Violine
Russisches Nationalorchester,
Ltg.: Alexei Kornienko
Label : Sony Music (Sony Music)
ASIN : B095T8BTJV
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