Faust ohne Gott

Faust ohne Gott

Theatergespräch
FAUST Erster Teil. Regie: Stefan Pucher. Dramaturgie: Michael Eberth

Wer ist der Faust von heute? Lassen sich aus Goethes berühmten Dramen bereits Hinweise auf die gegenwärtige Krise Europas ableiten? Die Neuinszenierungen der beiden Faust-Teile am Schauspiel Frankfurt haben im Schatten der Bankentürme diese Fragen ins Zentrum ihrer Interpretation gestellt. Regisseur Stefan Pucher löst zusammen mit dem Dramaturgen Michael Eberth im ersten Teil Faust radikal aus gewohnten Ordnungsmustern. Mit Videoclips, Rocksongs und intuitiv gesteuerter Montage wird strenge Szenen-Logik außer Kraft gesetzt, um für neue Figurationen Platz zu schaffen. Wie die Inszenierung auf die Jetztzeit verweist und Faust als Sinnbild eines „zum Selbst geschrumpften Helden” „am Kreuzweg zwischen Liebe und Lebensgier eine fatale Entscheidung trifft”, beschreibt Michael Eberth in einem Gespräch mit dem Verleger Karlheinz Braun.

Karlheinz BRAUN: Das Schauspiel Frankfurt hat die beiden Faust-Teile 1 und 2 als „heutigen Faust“ angekündigt. Wer ist der Faust von heute?

Michael EBERTH: Faust verkörpert die geistigen Höhenflüge, denen wir die abendländische Kultur und Zivilisation verdanken, und er verkörpert die Hybris des Menschen, der ohne Gott leben wollte, weil er glaubte, dessen Rolle selbst spielen zu können. Die Verbrechen und Katastrophen, die im letzten Jahrhundert im Herzen Europas passiert sind, haben den Hochmut des faustischen Helden in eine abgrundtiefe Ernüchterung umschlagen lassen, die immer noch nachwirkt. Heute sprechen wir von einem erschöpften Selbst, das nur noch den eigenen Vorteil im Sinn hat und seine brüchige Identität absichern will. Das führt zu der Frage ob dieser faustische Held, der seine Seele als Pfand eingesetzt hat, um sich im Bund mit dem Teufel ins Grandiose erheben zu können, nach dem Absturz vergessen hat, das Pfand einzulösen.

Der Faust, der glaubt, ohne Gott leben zu können, bildet sich ein, auch gegenüber den Verführungen des Satans immun zu sein. Mephisto macht sich einen Spaß draus, den überheblichen Kerl aus dem Schutz seiner Intellektualität rauszuschütteln und bis in die Abgründe seines Selbst zu erschüttern.

Faust ist also die personifizierte Krise?

Das Stück fängt damit an, dass einer sich umbringen will, weil er sich durch das gesamte Gebäude der geistigen Welt durchgefressen hat und erkennen musste, dass ihm nichts und niemand offenbaren kann, was er vermisst. Goethe hat am Ende seines erleuchteten Lebens selbst mit der Frage gerungen, ob er die Dinge richtig gewichtet hat. Seine letzten Worte waren: „Mehr Licht“. Der Satz weist in erhabener Ironie auf den Fluch des prometheischen Helden hin: Was immer er denkt oder liest oder ausbrütet – es ist ihm nie hell genug.

In Städten wie Frankfurt mag man noch eine Weile der Illusion nachhängen, dass sich das Theater von gestern dadurch bewahren lässt, dass man die neuen Erzählweisen ignoriert oder niederschreibt. In Berlin kann man das nicht mehr. Berlin ist bereits in die andre Zeit übergegangen. Das Frankfurt, das ich vor zweiunddreißig Jahren als Ort des politischen Aufbegehrens verlassen habe, kuschelt sich heute in die Gewohnheiten der Welt von gestern ein, als seien die Banken nicht grade dabei, diese Welt zu verzocken.

Das Stück fängt bei Goethe nicht mit der Krise, sondern mit einem Prolog im Himmel an. Den Himmel habt ihr abgeschafft?

Der alte Mann, den Goethe in den Himmel setzt, hat den Überblick über seine Schöpfung so gründlich verloren, dass er sich auf eine Wette einlässt, die er nach Lage der Dinge gar nicht gewinnen kann. In der Religionsszene löst sich dieser vor Zeiten Allmächtige in ein Bukett von erhaben formulierten Begriffen auf. Zu Goethes Zeit war es noch möglich, Gott auf die Bühne zu bringen. Heute kann das Theater nur noch ein Gerücht ironisieren.

Wenn der Himmel abgeschafft und Faust ohne Gott da steht, wo bleibt dann die Wette, die dem Faust-Drama zugrunde liegt?

Goethes Gott lebt im Himmel der Illusionen, Spekulationen und politischen Utopien von einstmals wie ein Rentner im Ruhestand, der von den Träumereien seiner Jugend nicht loskommt. Der Satan hat die Fakten des Lebens im Blick, die Schwanz, Schoß und Gold heißen, und profitiert vom Vorteil der Nüchternheit. Um Fausts Seele zu retten, muss Goethe aus Mephisto einen Schwulen machen, der einem Lustknaben in den Arsch schaut, statt sich die Seele des sterbenden Faust zu sichern, wodurch diese Seele unbemerkt in den Himmel entschweben kann. Goethe konzediert dem Selbstverständnis der abendländischen Kultur, dass alles Irdische gerichtet werden muss, bevor es gerettet wird. Heute leben wir in einer Welt, in der wir ungerichtet und mit verpfändeter Seele leben. Wir haben die Satansmesse am Ende der Walpurgisnacht, die Goethe aus dem Stück rausgenommen hatte, in unsere Aufführung reingesetzt, um zu zeigen, dass der Teufel den am metaphysischen Überbau seiner Existenz verzweifelnden Faust dadurch kuriert, dass er ihn zu den Fakten des Lebens bekehrt.

Mephisto verkörpert den Geist, der das Böse will und das Gute schafft, indem er die ewig erstarrenden Figurationen des Selbst zerstört, um neue Figurationen entstehen zu lassen.

Was kann den Zerrissenen retten?

Die Liebe. Sie ist nur in dem leeren Raum verschwunden, der sich zwischen Metaphysik und Schwanz, Schoß und Gold auftut, drum gibt es für Faust keine Erlösung. Das Gretchen, das am Golde hängt und zum Golde drängt, kann ihn nicht so tief berühren, dass er sich von den Trümmern seines Selbst abwenden könnte. Er erliegt dem Glanz von Schwanz, Schoß und Gold und wendet sich von dem Mädchen ab. Sein Verrat beleuchtet die Krise unserer Zeit. Wir verbergen in wechselnden Maskeraden, dass wir nicht mehr die Liebe suchen, sondern hinter dem Geld und dem Sex her sind.

Welches Interesse treibt Mephisto an, wenn es die Wette mit Gott nicht gibt?

Der Faust, der glaubt, ohne Gott leben zu können, bildet sich ein, auch gegenüber den Verführungen des Satans immun zu sein. Mephisto macht sich einen Spaß draus, den überheblichen Kerl aus dem Schutz seiner Intellektualität rauszuschütteln und bis in die Abgründe seines Selbst zu erschüttern.

Wenn man Fausts Ego an die Stelle Gottes setzt, findet dann überhaupt noch ein Kampf zwischen Gott und Teufel statt?

Der Kampf spielt sich zwischen dem Teufel und Fausts verblendetem Ego ab. Die großen Geister des 18. Jahrhunderts waren berauscht von dem Glauben, dass sie alles, was sie sich unter Gott vorstellten, in sich selber verkörpert finden. Sie sind „zum Selbst geschrumpft“, wie der Philosoph Eric Voegelin es beschreibt. Sie haben den Blick auf die Welt so verengt, dass sie sich einbilden konnten, es existiere nichts, was sie nicht beherrschen können. Nietzsche hat den zum Selbst geschrumpften Helden zum Übermenschen verklärt. In Goethes Stück schauen wir ihm dabei zu, wie er am Kreuzweg zwischen Liebe und Lebensgier eine fatale Entscheidung trifft.

Was du beschreibst, ist der Prozess der Aufklärung.

Einer Aufklärung, die an ihrer Anmaßung gescheitert ist. Die Krisen des 20. Jahrhunderts haben den Aufbruch des Helden in Zerstörung umschlagen lassen. Auschwitz und Sibirien sind vergangen und haben das menschliche Bewusstsein kaum berührt, schreibt Kertész im „Galeerentagebuch“. Im Verborgenen leben diese Erfahrungen aber weiter, sagt er, drum fällt uns trotz aller scheinbaren Lebensfülle überall das Dahinvegetieren ins Auge, das kraftlose Umhertreiben unter der Last der Verurteilung, die unser geistiges Leben, das seinem Wesen nach nichts anderes sein kann als die Interpretation des Daseins von Gott, so hinfällig macht. Die Faust’sche Lebensgier ist zur Geldgier geschrumpft und bedroht das Projekt Europa und damit die Zukunft des Kontinents. Die Länder Europas, die alle das gleiche Interesse haben, krallen sich in ihrer Angst vorm Identitätsverlust an der eigenen Art fest. Es fehlt die Vision, dass die Vielfalt Europas in einer Einheit aufgehen könnte, die unsre kleinkarierten nationalen Identitäten neu auflädt.

Nicht nur Faust, auch Gretchen kann nicht mehr gerettet werden, ein außerordentlich negatives Finale.

Mephisto verkörpert den Geist, der das Böse will und das Gute schafft, indem er die ewig erstarrenden Figurationen des Selbst zerstört, um neue Figurationen entstehen zu lassen. Puchers Aufführung löst die Ordnung des Erzählens auf, an die meine Generation noch gebunden ist, und weist damit auf den Prozess der Verwandlung hin, der in den Kulturszenen um sich greift. Die Auflösung vertrauter Ordnungen trägt zur Zerstörung der erstarrten Identitäten bei, die in den erschöpften Kulturen den Wandel erschweren.
Ich konnte in den vergangenen Jahren etliche Arbeiten von Pucher sehen, habe aber nie mit ihm gearbeitet. Die Radikalität, mit der er die hergebrachten Erzählweisen negiert, hat mir anfangs gewaltig zu schaffen gemacht. Das Bewusstsein dieser Generation ist in einen Ausmaß von Filmen und Videos geprägt, das ich nur bestaunen konnte. Während der Leseproben erwähnte er eine Filmszene nach der andren, und die Schauspieler wussten sofort, was gemeint war. Ich kannte kaum einen der Filme, und wenn ich mal einen gesehen hatte, hatte ich mir die Szenen nicht eingeprägt, die alle andren im Kopf hatten. Ich fing an, mir die Titel aufzuschreiben, um mir ein paar von den Filmen anzuschauen. Nach drei Tagen war die Liste so lang, dass ich es aufgab. Filme und amerikanische TV-Serien spielen in meinem Leben nicht die Rolle, die sie für Puchers Generation spielen. Ich nehme, das gilt nicht nur fürs Theater, lieber den Menschen selbst ins Visier. Einen Regisseur, der zu mir sagte, das Logische interessiere ihn nicht, wenn ich ihn auf Ungereimtheiten bei Montieren von Szenen hinwies, hatte ich noch nicht erlebt.
Das Prinzip des Films ist die Montage. Sie erlaubt Sprünge, die der leibhaftig agierende Schauspieler auf der Bühne nicht herstellen kann. Pucher nähert sich der sprunghaften, von reiner Intuition gesteuerten Montagetechnik des Videoclips an, indem er nur gelten lässt, was er als Bild grade vor sich hat, und drauf verzichtet, Brücken zum Vorher und Nachher zu bauen. Ihn dabei zu beobachten, wie er seine Bilder montiert, verhalf mir zu einem Blick in die Zukunft, der mich über meinen bisherigen Horizont weit hinausgeführt hat. Die Zuschauer seiner Aufführung sind aufgefordert, die Brüche und Sprünge zu ignorieren, mit denen Puchers Inszenierungen die im Zuschauer vorgeprägte Ordnung der Dinge außer Kraft setzen, und sich auf das zu konzentrieren, was sie vor Augen haben. Sie müssen die Welt, die ihnen in Bildfetzen vorgesetzt wird, in ihrem Kopf anders zusammensetzen als sie’s gewohnt sind. In der anarchischen Art des Erzählens, die Pucher seinem Publikum zumutet, kündigt sich ein Umbruch an, der den Zuschauer dazu zwingt, sich von einem Theater zu verabschieden, in dem ihm das Abbild der Ganzheit des Menschen eben noch Orientierung und Halt bot.

Dazu dient natürlich auch ein gigantisches, sich drehendes Bühnenbild mit geradezu piranesischen Ausmaßen, schrägen Luken, Leitern, vielen Wänden und unverhofften Aussichten. Es gibt Platz für viele Videofilme, Räume, in denen die Menschen herumkrabbeln, verschwinden, man sich auf den Augenblick konzentrieren muss, wo sie gerade sind. Warum sie aber gerade dort sind und warum sie sich so verloren in diesem dekonstruierten Weltgebäude bewegen, sieht man nicht ein, es ist einfach so.

Pucher geht mit den Leuten, mit denen er arbeitet, Bündnisse ein, die ihnen viel Freiraum geben. Er spricht mit ihnen vage ab, wie Bühnenbild, Kostüme, Musik und Videos aussehen könnten, und überlässt es dann ihrer Phantasie, die Aufgaben umzusetzen. Bei diesen Vorgesprächen spielten auch Filme wie der expressionistische Faust-Stummfilm von Murnau eine Rolle. Barbara Ehnes baute ein Modell für das Bühnenbild, an dem sie prüfte, ob es für alle Szenen brauchbare Spielorte liefern kann, und Pucher akzeptierte den Vorschlag. Da Barbara Ehnes weiß, dass Pucher einen Teil der Erzählung an Videos delegiert, baute sie in ihr Bühnenbild eine bewegbare Leinwand ein und achtete bei der Bemalung der Wände darauf, dass die Videos gut drauf zu sehen sind. Puchers Arbeit bestand neben der Arbeit mit den Schauspielern vor allem darin, die Elemente, die der frei assoziierenden Phantasie seiner Mitarbeiter entsprangen, zu einer Erzählung zusammenzufügen. In diese Komposition aus Räumen, Bewegung, Licht, Musik und Projektion bettet er die Schauspieler ein. Hier trennen sich die Welten des Theater von gestern und morgen. Gefühle wie Schmerz, Freude, Glück oder Verzweiflung entstehen bei Pucher nicht in den leeren Räumen, die sich zwischen den Spielern auftun, wie es im konventionellen Theater der Fall ist. Sie werden zu einem erheblichen Teil von der Musik und den Projektionen erzeugt. Puchers Generation erlebt das verdichtete Dasein weniger am Menschen als in den Filmen, Videos und Musiken, die sie sich wie ein nach Berührung Süchtiger reinzieht. Am Ende der Szene, in der sich Gretchen und Faust in Marthes Garten begegnen, treten sie vor die Mikrophone und singen „I saw you“. Der Zuschauer wird mit solchen Formen der Steigerung konfrontiert, weil Pucher den Schauspielern nicht zutraut, dass sie den nach Berührung Süchtigen mit ihrer Kunst bieten können, wonach die sich sehnen.
Ich selbst war bisher darauf eingestellt, mir alles, was ich im Theater erleben will, von den Schauspielern zu holen, drum fiel es mir anfangs schwer, mit Puchers Art klarzukommen, und ich verstehe jeden, der gegen seine Art des Erzählens aufbegehrt. In seinen Arbeiten ist ein Kulturbruch zu erleben, den man in Frankfurt vielleicht noch als Provokation erlebt, der aber anderswo längst durchgesetzt ist.

Du hältst Puchers Art des Erzählens für einen Kulturbruch?

Ich halte es jedenfalls für naiv, zu glauben, dass diese Entwicklung sich umkehren lässt und man sich in eine Arche Noah verkriechen kann, bis die Sintflut vorüber ist. In Städten wie Frankfurt mag man noch eine Weile der Illusion nachhängen, dass sich das Theater von gestern dadurch bewahren lässt, dass man die neuen Erzählweisen ignoriert oder niederschreibt. In Berlin kann man das nicht mehr. Berlin ist bereits in die andre Zeit übergegangen. Das Frankfurt, das ich vor zweiunddreißig Jahren als Ort des politischen Aufbegehrens verlassen habe, kuschelt sich heute in die Gewohnheiten der Welt von gestern ein, als seien die Banken nicht grade dabei, diese Welt zu verzocken. Es gibt in dieser Stadt einen Kritiker, der das Hergebrachte verteidigt wie ein Salonlöwe, weil er Puchers Theater für eine Erfindung des Satans hält, und der sich wie Goethes Faust einbildet, dass es auf dieser Erde nichts geben kann, was er nicht vermessen, durchschaut und als nichtig bewertet hat.

Ist Puchers Theater ein Theater für ein jugendliches Publikum?

In seinem Faust ist gespiegelt, wie die jüngeren Generationen unsere Welt wahrnehmen.

Auch Goethe hat Verse, Strophen und Lieder eingesetzt, entsprechen sie der heutigen Rockmusik und dem Einsatz von Songs?

Goethes Stück ist auf seine Art genauso eine Patchwork-Erzählung wie Puchers Aufführung.

Die Videos sind zum Teil sehr konstruktiv. Beim Osterspaziergang erzählen die Frankfurt-Bilder zum Beispiel das Gegenteil von dem, was beim Osterspaziergang gesagt wird. Der Kontrast ist erhellend. Auch in der Walpurgisnacht, dem Höhepunkt der Aufführung. In anderen Sequenzen scheinen sie hingegen nur illustrativ oder gar dekorativ zu sein und verdecken den Text. Immer muss irgendetwas passieren. Wenn keine Aktion auf der Bühne ist, flimmern zumindest die Bilder.

Wenn man den unglaublichen Chris Kondek zwei Monate lang dabei beobachten kann, wie er seine Videos in immer neuen Versuchen anreichert und auskämmt, fällt einem auf, dass sich das, was seine Projektionen in die Aufführung einfügen, in seinem Reichtum gar nicht erfassen lässt. Die Wirkungen, die sich aus dem Licht und den Räumen und Bewegungen des Bühnenbilds ergeben, kann man bis ins Detail beschreiben, die Kostüme sowieso, und von der Musik kann man jeden Ton hören. Die Videos, die Kondek aufs Bühnenbild projiziert, sind dagegen so komplex, dass man gar nicht erfassen kann, wie sie das Geschehen auf der Bühne unaufhörlich mit Assoziationen aufladen. Kondek, der an den Proben von Anfang teilnimmt, setzt seine Bilder in einer Weise zum Gespielten in Beziehung, die ich nur magisch nennen kann. Wer seine Projektionen ein Flimmern nennt, demonstriert damit, dass er für die Sprache dieses Mediums noch blind ist.

Diese Fülle an Reizen wird im zweiten Teil der Inszenierung deutlich reduziert.

Im ersten Teil wird uns in endlosen Monologen der Kollaps des geistigen Systems von Faust vorgeführt. Im zweiten Teil kommt das Gretchen-Drama dazu und wir werden von Station zu Station durch dessen Verlauf geführt. Die beiden treffen sich hier, die beiden treffen sich da, es wird die Frage nach der Religion gestellt, Gretchens Bruder wird umgebracht, Gretchen flüchtet in den Dom, Mephisto lockt Faust in die Walpurgisnacht. Im zweiten Teil muss das Theater den Plot bedienen.

Die interessanteste Entwicklung der Figuren findet beim Gretchen statt. Faust ist traditionell, auch der Mephisto ist, wie er im Buch steht, Gretchen ist jedoch verblüffend. Sie tritt am Anfang fast wie eine ComicFigur auf, Gretchen, die vielleicht eine der undankbarsten Rollen der Dramenliteratur ist, wird erst einmal wie eine mechanische Figur vorgeführt, sowohl im Kostüm und in der Frisur ist sie wie eine Puppe. Erst allmählich, im Laufe der Geschichte, vermenschlicht sie sich. Gerade im letzten Drittel, wo wirklich die Gretchen-Tragödie stattfindet, lässt das Video-Geflimmer nach, auch die Musik lässt nach, es tritt eine große Ruhe ein, das ganze Finale wird statisch, fast wie ein Gedichtvortrag dargebracht, ohne weitere Zutaten. Das gehört alles Gretchen. Es ist bemerkenswert, dass im ganzen Stück eher eine Deklamation der Texte stattfindet, weniger wie früher ein Spiel, dass eine Figur von innen her entwickelt, es wird mehr deklamiert, sie entäußern sich, zusammen mit der Pop-Musik entsteht fast ein szenisches Konzert.

Man sieht einen Faust, der zu dem Püppchen, als das er das Gretchen erlebt, keine innere Beziehung hinkriegt. Was er als Liebe empfindet, spielt sich nur in ihm selbst ab. Er hat ein Bild gesehen und spielt im Schnelldurchgang alle Stadien des Begehrens und Verzehrens durch, bis er gesättigt ist. Gretchen opfert sich seiner Gier und steht am Ende ohne Perücke und Putz in nacktem Schmerz da. Weil Henrieke Jörissen das berührend spielen kann, musste Pucher ihren letzten Monolog nicht in ein Bild einbetten. Am Ende einer Aufführung, mit der er demonstriert, wie tief sein Misstrauen gegen die hergebrachten Mittel des deutschen Stadttheaters ist, lässt eine Schauspielerin so viel Emotion durch den Körper fließen, dass sie weder von Musik noch von Projektion unterstützt werden muss.

Man hört aber mehr auf den Text, als dass man mit der Figur mitleidet. Der Text wird aufgesagt.

Das Stück ist nur phasenweise ein Drama. Meistens monologisieren die Figuren oder erzählen sich gegenseitig, was in ihren Seelen abläuft. Faust ist über weite Strecken ein Aufsagestück.

Von Anfang an ist die Distanz zwischen Text und Emotion erkennbar, diese Haltung verbindet sich dann mit der Musik, so dass das Ganze Showcharakter erhält.

Pucher traut den Schauspielern des deutschen Staatstheaters nicht zu, dass sie auf den nackten Brettern der Bühne Wirkungen auslösen können, die ihn berühren, drum setzt er auf stärkere Mittel. Er verhält sich wie jemand, der Drogen nimmt. Wenn sich der Körper an die Droge gewöhnt hat, muss man die Dosis erhöhen. Dabei muss man bedenken, dass jeder Sucht eine Verzweiflung zugrunde liegt. Gegen diese Verzweiflung ist nur der Spießer immun, der sich in der hergebrachten Ordnung der Dinge so wohlig geborgen fühlt, dass er jeden verteufelt, der ihn herausschrecken will. Es dringt aber nur der Verworrene zur himmlischen Durchsichtigkeit vor, wie es bei Novalis heißt, und der früh Geordnete erstarrt zum Philister.

Letzte Änderung: 27.08.2021  |  Erstellt am: 25.08.2021

Alexander Scheer (Mephisto) - FAUST. ERSTER TEIL | © Foto: Birgit Hupfeld
Marc Oliver Schulze (Faust) - FAUST. ERSTER TEIL  | © Foto: Birgit Hupfeld
Henrike Johanna Jörissen (Margarete) - FAUST. ERSTER TEIL  | © Foto: Birgit Hupfeld
Alexander Scheer (Mephisto) - FAUST. ERSTER TEIL  | © Foto: Birgit Hupfeld
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Kommentare

Walter H. schreibt
In Ergänzung zu dem eingestelten Interview - bezieht sich auf eine Inszenierung aus dem Jahre 2012 - hier ein Beitrag von Ruth Fühner zu dem angedachten Doppelabend Faust 1 + 2 - der erste Teil inszeniert von Stefan Pcher, der 2. Teil dann von Günter Krämer Zwischen Expressionismus und Musical Im Frankfurter Goethe Haus läuft eine Sonderausstellung über Goethe und das Geld, den Dichter und die moderne Wirtschaft. Zeitgleich ist im Schauspiel Frankfurt Goethes Faust eins und zwei zu sehen. Doch während der erste Teil, inszeniert von Stefan Pucher, zwischen Expressionismus und Musical schwankt, wird Günter Krämers zweiter Teil von Kälte und Verletzlichkeit bestimmt. Von Ruth Fühner | 16.09.2012 Der Vorverkauf hatte ein halbes Jahr zuvor begonnen, das Schauspielhaus wurde für fünf Wochen en-suite-Betrieb freigeräumt, und während man den Protestierern vom Occupy-Camp direkt gegenüber die schauspieleigenen Duschen anbot, wurde der Ausgewogenheit halber auf der Chefetage die Deutsche Bank zum Sponsoring animiert. Das hörte sich nach einem Kraftakt an, mindestens so visionär wie Peter Steins Komplett-Fassung des Faust. Doch die Erwartung, dass hier ein ähnlich ehrgeiziger Wurf geplant sei, war schnell gedämpft, der Tragödie Erster und Zweiter Teil vorsichtshalber auf vier Schultern verteilt; die von Stefan Pucher und von Günter Krämer, der schon Mitte der 80er ganz allein seinen legendären Doppel-Faust in Bremen gestemmt hatte. Der Berg kreißte also, und heraus kam, am ersten Abend, ein Fäustlein auf halbem Weg zwischen Expressionismus und Musical. Der Spielraum ein rotierender Polyeder mit schiefen Ebenen und halsbrecherischen Treppen, der Erdgeist eine hohläugige Stummfilmreminiszenz. Später flimmern mystische Schlangen und magische Zeichen über die Wände, durchaus auch Frankfurter Hochhäuser und Euromünzen schwenkende Nummerngirls – aber unter der entscheidenden Frage, was Goethes Faust mit der Gegenwart zu tun haben könnte, taucht die Inszenierung lieber weg. Dafür gibt es eine dreiköpfige Band, die in Mönchskapuzen auftritt und neben Goethe auch, natürlich, die Stones mit „Sympathy for the devil“ intoniert. Der, der Teufel, erinnert in der androgynen Gestalt von Alexander Scheer an David Bowie, theatralisch, ironisch, verspielt, ein biegsames, flackerndes Irrlicht. Ihm gönnt Pucher die eine von zwei Szenen des Abends, an denen es hätte interessant werden können. Im Zusammentreffen mit Fausts Schüler verkehrt Mephisto die Devisen der Aufklärung in eine sadistische Versuchsanordnung. Doch was ein Schock hätte sein können, verpufft samt schnarrendem Hitler-Ton in unwitziger Alberei. Marc Oliver Schulze ist ein Faust von trauriger Gestalt, mit Bauchansatz, Anzugweste und strähnig grauen Zotteln, nach der Verjüngungskur sind wenigstens Haar und Hose besser geschnitten, jetzt ähnelt er eher einem verklemmten, unrasierten Handlungsreisenden, dem es immerhin gelingt, manchen von allzu viel Gebrauch abgewetzten Goethe-Vers neu zum Glänzen zu bringen. Auch Henrike Johanna Jörissen darf als miniberocktes High-Heel-Gretchen wenig von dem zeigen, was sie kann, aber immerhin legt Pucher die Szene mit der berühmten Frage „Wie hältst dus mit der Religion“ so überzeugend als Ehedrama an, dass man Fausts Fluchtreflex zu verstehen beginnt. Ansonsten ist dieser verzappelte Abend eher arm an erhellenden Momenten. Anders der Tragödie Zweiter Teil, auch wenn sich zu Beginn Günter Krämer bloß eleganter aus der Affäre zu ziehen scheint. Die Saaltüren sind noch nicht geschlossen, da schlüpft eine gepflegte Dame herein, die als Premierenbesucherin aus dem Taunus durchgehen könnte, zöge sie nicht ein giftgrünes Occupy-Zelt hinter sich her. Ihr hat Krämer all jene Jammerworte über die drohende Verarmung in den Mund gelegt, die in Mephistos betrügerische Geldvermehrung und damit bekanntlich zum Staatsbankrott münden. Die anscheinend etwas verwirrte Dame – die wunderbare Schauspielerin Lore Stefanek – wird von Sicherheitspersonal hinauskomplimentiert; später, wenn Mephisto das alte Paar vertreibt, das Faust in seinen Plänen stört, sind es wieder Occupy-Zelte, die vom Bühnenhintergrund abgeräumt werden – ganz wie in der Wirklichkeit, draußen vor der Tür. So hakt man ein brisantes Thema stilvoll ab, wirklich weh tut das keiner Bankiersgattin. Nach so viel Gegenwart geht es ziemlich umweglos – Kaiserpfalz, Mummenschanz, klassische Walpurgisnacht sind gestrichen – zur antiken Tragödie des III Akts. Und jetzt wird es wirklich aufregend. Nackt und bloß treten Helena und ihr Chor gefangener Trojanerinnen auf. Valery Tscheplanowas Helena trägt eine Binde um eine blutige Kopfwunde – ihre Schönheit ist nichts als eine Kopfgeburt, ebenso wie die Sorge, als die sie später auftreten wird. Um so bezwingender der Kontrast zu der alles beherrschenden, herrscherlichen Präsenz, die Valery Tscheplanowa ihrer Figur aus der puren Kreatürlichkeit heraus erspielt. In der Begegnung mit ihr offenbaren sich auch erstmals die zwei Seelen, ach, in der Brust von Wolfgang Michaels Faust. Ein arroganter, erbärmlicher Widerling ist das in seiner affigen Weltverachtung – doch an Helenas Aura bröckelt die taffe Fassade, hierher womöglich holt er sich die Offenheit der verwundeten Seele, mit der er später so sehnsuchtsvoll wie hoffnungslos nach dem Weltganzen ausgreift. Dem Pathos gesellt sich mit Constanze Beckers Mephisto die ideale Parodie zur Seite. Als Marlene-Dietrich-Reminiszenz in Frack und Zylinder gibt sie den diabolischen Conferencier, komödiantisch und melancholisch, überkandidelte Phorkyas-Zicke und mitleidige Trösterin. Ihr, nicht dem Erlösungschor bleibt am Schluss das letzte Wort – die Klage des armen Teufels, dem eine versprochene Seele durch die Lappen gegangen ist. Krämer setzt auf große, klare, fast durchweg schwarz-weiß gehaltene und sensibel ausgeleuchtete Bilder im riesigen, fast leeren Bühnen-Weltraum, der im Lauf des Abends zunehmend vereist; immer wieder frappiert die unaufdringliche Genauigkeit, mit der diese Bilder aus dem Text abgeleitet sind. Und eines ist dabei, das macht diesen Theaterabend zu einem wirklich herausragenden: die schockierende, Eros und Gewalt paarende Szene, in der Faust der nackten Helena eine Pistole in die Hand drückt, damit sie den unaufmerksamen Türmer richtet. Kälte und Verletzlichkeit – das ist der heikle Akkord, auf den diese Inszenierung gestimmt ist. Mit ihr ist auch der Frankfurter Doppel-Faust am Ende wenn nicht gerichtet, so doch gerettet.

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