Hans-Klaus Jungheinrich war unter den Kulturjournalisten eine herausragende, eigenwillige Persönlichkeit, feinfühlig und erfahren, gebildet und klug zugleich, wenn er sich, wie meist, mit Musik befasste; auch kompositorisch denkend, wenn es um sprachliche Gestaltung ging. Ernst August Klötzke, der dessen Buch „Eine kurze Geschichte der Oper in 35 Bildern“ in der erweiterten Neuauflage las, weiß solche Qualitäten zu schätzen.
Üblicherweise befasst sich die feuilletonistische Opernkritik mit Lesarten der immer gleichen oder zumindest ähnlichen Stoffe, „die die Welt bedeuten“.
Umso mehr ist es bemerkenswert, dass der 2018 verstorbene Hans-Klaus Jungheinrich, über Jahrzehnte eine der wenigen gewichtigen Stimmen des Feuilletons, in seinem 2021 in einer erweiterten Neuauflage erschienenen Buch „Eine kurze Geschichte der Oper in 35 Bildern“ die Seiten wechselt und die Werke selbst ins Visier nimmt.
Natürlich stellt sich die Frage, ob es denn wirklich eines weiteren Opernführers bedarf. Um es gleich vorwegzunehmen: ja, in dieser Art unbedingt.
Jungheinrich nähert sich der inzwischen 400jährigen Geschichte dieser sehr speziellen Gattung aus unterschiedlichen Perspektiven und folgt dabei der Chronologie der Entstehungszeiten. Durch ein Wechselspiel von Biografischem der Komponisten, knappen und pointierten Darstellungen von Handlungen, Detailbetrachtungen einzelner Szenen und musikalischer Momente, virtuos hergestellten Querverbindungen und immer wieder dem Einbezug interpretierender Lesarten von Aufführungen gelingt es ihm, die pedantische Reihung der Kriterien „wer, wie, was, wann wo, warum“ zu umgehen. Nicht nur dadurch hebt sich seine „Kurze Geschichte der Oper“ von anderen Publikationen ähnlichen Inhalts deutlich ab.
Dabei zeigt sich der versierte Kenner und Kritiker der Materie auch von einer immer wieder durchschimmernden humorvollen Seite, der sich auch nicht scheut, etwa der Handlung von Peter Cornelius‘ „Der Barbier von Bagdad“ zu bescheinigen, dass sie „fast ein Nichts. Ein zierliches Beutelchen mit Komik…“ sei, um an anderer Stelle klarzustellen, dass daraus, durch die kompositorische Veredelung, eine ingeniös ausbalancierte, wortwitzige Musikerzählung entstanden ist.
An anderen Stellen, etwa beim Heranführen an Puccinis „Tosca“, führt die Wanderung zunächst über eine grundsätzliche, vom Ende des 20. Jahrhunderts hergeleitete Frage des kompositorischen Umgangs mit dem Orchester. Es ist eine echte Bereicherung zu lesen, wie ein derart komplexer Gedanke aus einer bis dahin noch nicht gekannten Perspektive dargestellt und in eine systematische Umgebung gerückt werden kann.
Immer wieder bezieht Jungheinrich auch Aspekte der Rezeptionsgeschichte von Opern ein und befragt diese hinsichtlich des Verhältnisses von kompositorischer Fixierung (die Partitur), Intention (Umgang mit Konventionen und Subtexten) und Interpretation. Das ist, auch wenn man die Aufnahmen oder Inszenierungen, auf die er verweist, nicht kennt, plausibel und interessant zugleich, denn anhand solcher Ausführungen lassen sich leicht grundsätzliche Fragen des Verhältnisses zwischen einer Partitur und möglicher Interpretationen derselben übertragen.
Mit Claudio Monteverdis „L’incoronazione die Poppea“ von 1643 beginnt Jungheinrich seine „35 Bilder“ umfassende Wanderung durch die Geschichte der Oper, die Reise endet mit dem Frankfurter Komponisten Rolf Riehm und seinem Musiktheater „Das Schweigen der Sirenen“, das in unterschiedlichen Ausprägungen um die Jahrtausendwende herum entstanden ist.
Als eine Art Anhang folgen noch ein persönlicher Blick in die Frankfurter Oper seit Jungheinrichs erstem Besuch einer Vorstellung im Jahre 1951 und ein zusammenfassendes Nachwort von Wolfgang Molkow, in dem Jungheinrich mehrfach zu Wort kommt. Besonders eindrücklich erscheint dabei das folgende Zitat, in dem das Phänomen Oper auf den Punkt gebracht ist: „So akribisch das Handwerk und das ‚Mundwerk‘ der Sänger und aller Opernschaffenden mit Übung und Anstrengung zusammengeht, so sehr enthalten die Ergebnisse auch Momente von Schein, Täuschung, Vexation – was wäre die gesamtkünstlerische Verzauberung ohne den subtilen Anhauch von faulem Zauber und Anrüchigkeit. Fast stolz verweist die Theatertradition auf das Moment von Nichtseriosität, Gaukelei, höheren Unsinn.“
Heinz-Klaus Jungheinrich spannt einen Bogen, der von Beginn an fesselt. Die Opern, die im Repertoire des deutschen Stadttheaters omnipräsent sind, werden dabei in Zusammenhängen dargestellt, die weitestgehend staunend machen. Auch Opern, die kaum auf den Spielplänen erscheinen, werden gekonnt in den gesamten Reigen eingebettet, fernab von jeglicher anekdotenhafter Trivialität und so vielfarbig geschrieben, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte. Jungheinrichs umfassende Kenntnis, seine Fähigkeit, die Dinge auszudifferenzieren, auf den Punkt zu bringen und Pointen zu setzen, sowie seine Lust am Fabulieren sind beeindruckend. Er dosiert sein Wissen derart fein, dass – im Gegensatz zu manch anderen klugen Autor*innen, die der Leserschaft in jeder Silbe vorführen, was sie denn alles so in Petto haben – sein Buch, so wie es Peter Mischung im Vorwort schreibt, als eine sowohl im besten Sinne lehrreiche als auch vergnügliche „Wanderung“ durch die Operngeschichte daherkommt.
Siehe auch:
Beiträge von Hans-Klaus Jungheinrich
Letzte Änderung: 01.07.2022 | Erstellt am: 01.07.2022
Hans-Klaus Jungheinrich Eine kurze Geschichte der Oper
Mit einem Nachwort von Wolfgang Molkow
296 S., brosch.
ISBN-13: 9783955932541
Wolke Verlag, Hofheim 2021