Der Dirigent Teodor Currentzis ist seit längerem zu einem Thema geworden, das die musikliebende Gesellschaft bis in die Familien hinein spaltet. Die einen spucken Feuer, weil er nicht normvollendet dirigiert, die anderen begeistern sich an dem, was sie hören. Alban Nikolai Herbst hat die Fünfte Mahler in der Berliner Philharmonie gehört, die dort von dem Ensemble MusicAeterna unter ihrem Leiter Teodor Currentzis gegeben wurde, und beschreibt ein unbegriffenes Phänomen.
Currentzis’ Fünfte von Mahler in der Philharmonie Berlin, 13. Oktober 2021
Jetzt also erhebt er sich wieder, der staatsbeamtige Studienrats- | sagen wir mal freundlich: | -“geist“ wider das Genie. Es sei an der Zeit, schreibt im SPIEGEL ein rasend bedeutender Schmoller, dass Musikkritiker dem Dirigenten Currentzis die „Ego-Trips“ nicht länger durchgehen ließen, und seine, jenes, Kollegen springen mit Lust da gleich drauf – der Profanierungslust freilich, den Nagel, der vorspringt, auf Reihe zu schlagen. So viel schon mal von „Macht“. Selbst Jürgen Kesting, einer der besseren der kulturjournalistischen Sparte, enthemmt sich in der FAZ, den Mann zum Bin Laden des Opernbetriebes zu machen, schreibt vom „ästhetischen Terroranschlag“ – um danach noch zu fragen, demokratisch rührend besorgt, ob jetzt die (diktatorischen empfundnen) Zeiten „der Karajans und Soltis“ wiederkehrten. Jan Brachmann wiederum, gleichfalls in der FAZ, nennt Currentzis einen Schwadroneur, ja schimpft ihn Scharlatan. An sich ist sowas justiziabel.
Hochinteressant, wie oft von „Macht“ gesprochen wird; es wiederholt und wiederholt sich, das Wort. Die Herren mögen gut zugehört haben, nur zuzuhören liegt ihnen nicht. So sehr offenbar geht es ihnen um andres – darum vielleicht, dass ihnen, den Deutungsherrschern qua Daumenraufrunter ihre Deutungskompetenz so plötzlich genommen wird? Ach, ‘s ist ja wahr, Currentzis proklamiert sie als die seine. Doch, anders als Brachmann leer behauptet, als „leerer Magier“ nicht. Vielmehr mag es zwar stimmen – und stimmt auch, wie ich mehrmals bemerkte –, dass, sagen wir, Partiturtreue Currentzis’ Stärke nicht unbedingt ist (zu denken etwa an seine und Patricia Kopaschinskajas atemberaubende Interpretation des tschaikowskischen Violinkonzerts). Das war Glenn Goulds aber auch nicht. Doch horcht er, dieser – ich nenne ihn unkorrekterweise mal – „Punk“, die Möglichkeiten einer Musik aus und bringt sie zu bislang unerhörtem Klang. Was, hab ich den Eindruck, vor allem – Kleists Allmählicher Verfertigung der Gedanken beim Reden ähnlich – in den Zeiten der Proben geschieht. Einige sind aufgezeichnet worden, lassen sich anschaun.
Dass manches den Besessenheiten dieses Dirigenten folgt, ist für einen Musiker von Rang nicht ungewöhnlich, ja eigentlich notwendig. Legitim ist’s sowieso, vorausgesetzt, es gibt genügend andere Interpretationen zum Vergleich. Bei Currentzis’ von der Kritik geradezu inkriminierten Deutungen ist das der Fall, ob bei Mozart, ob bei Verdi oder Mahler. Und dass er sich, der, auch wenn er anders wirkt, eigentlich nicht mehr sehr junge Mann, als Star geriert … ja du meine Güte! Ist er’s denn nicht? Im vielgeliebten Pop wird sowas akzeptiert. Bei Sängerinnen (Diven!) sowieso, sagen wir: Netrebko. Im „Falle“ Currentzis’ indes werfen Sie bitte einen anderen Blick: nämlich mit Alice Miller auf ein hochbegabtes Kind – und das Drama der Grandiosität.
Currentzis nimmt wahr – und dirigiert – dramatisch. Keine Note, die er nicht auflädt. Der kleine Bürger nennt das „exzentrisch“, ein ebenfalls an dem Mann ständig gewetztes Herunterziehwort. Schon dass er gern in Springerstiefeln auftritt, mit roten Senkeln zumal! Sagt’ ich nicht „Punk“? So einer zeigt den Krawatten, was große Musik sei?, was sie sein kann? Er schere sich zurück nach Sibirien!
Ja, was sie sein kann.
Und was sie ward.
Am Mittwoch etwa, den 13. Oktober. Organisiert von Adler in Berlin. Großer Saal der Philharmonie. 3G ließ MusicAeterna eine Dreiviertelstunde später beginnen. Aber das, in dem grandiosen Orchester, schürte das Feuer nur noch.
Dennoch war ich zu Anfang enttäuscht. So gespannt, hoch nervös, war ich gewesen. Enttäuscht aber nicht von Currentzis, auch nicht getäuscht, schon gar nicht von seinen Musikerinnnen und Musikern, die weiß Göttin, wenn sie zu Probe und Aufführung gehen, niemals von „Dienst“ sprechen würden. Schon deshalb ist es falsch, Currentzis „Macht“ vorzuhalten. Wir sind hier nicht beim Militär. Sondern es geht um gemeinsame, gnadenlos aus Leidenschaft, Suche. Kunst ist das Leitwort. Also wird, gelingt etwas nicht, weitergeprobt, sei’s bis zur physischen, auch psychischen Erschöpfung. Für geregelte Arbeitszeiten ist da kein Platz. Genau hier liegt Currentzis’ Provokation: Kunst und Gewerkschaft geh’n nicht zusammen, Kunst und Demokratie nur bedingt. Zumindest sind es Mesalliancen.
Dennoch, ecco, war ich enttäuscht. Bin es nach wie vor, kann einfach nicht sagen, ob Alexey Retinskys „Anapher“, womit der Abend begann, eine gute Komposition ist. Sie gefiel mir nicht, was aber kein Grund, schlecht zu urteilen, ist. „Urteilen“ will ich sowieso nie. Kann ich nicht etwas gehört haben, zu dem mir schlichtweg der Zugang versperrt ist, mir persönlich? Sowas gehörte privat nur erzählt. Und ich ward nicht verlockt, ihn mir zu finden. Deshalb schildere ich auch meine Eindrücke nicht, die ich allerdings in dem medici-Mitschnitt aus Luzern mit selbem Ergebnis nachgefühlt habe. Vielleicht stört mich das Amalgam aus versuchtem Naturklang (Vogelstimmflötchen), akrobatischer Trommelei und, wertfrei ausgedrückt, Spiritualität bei kompositorisch so empfundenem Treten auf immergleichen Stellen. Es nervt mich dies auch bei Minimal Music. Mein Ohr ist nicht meditativ, will Tsunamis. So mag ich auch nicht – gar, dass ich’s dürfte! – in Abrede stellen, dass es in „Anapher“ rasend schöne Partien gibt. Nur bin ich für diese Musik ein falscher Adressat.
Anders aber bei Mahler. Mit losgelassener Wucht setzt er ein – wobei es ein ungemein überzeugender Kunstgriff und nicht etwa Showmacke ist, dass Currentzis – außer natürlicherweise die Celli – sämtliche Streicher im Stehen spielen läßt, und zwar über die gesamten hier einhundertvierzehn Minuten. Das Ergebnis ist ein schwebender wie vor allem gerade dort höchst beweglicher Klang, wo sich häufige Volkswalzer-Musis zitieren, die unter Currentzis wirklich aufgespielt werden, ohne Veredlung, und aber, verarbeitend, durchgewalkt. Da geht der Rhythmus beim Grundschlag, eines Daktylos’ quasi, genauso in die Knie wie der dörfliche oder gar Wiener Tanzmusikant. Das macht die Zitate bei Currentzis frappierend realistisch und erlöst sie zugleich von Celibidaches an Mahler gerügter thematischen Einfallslosigkeit, gerade weil das banale Sediment um so brachialer deutlich wird, jenes, so Adorno, „ungehobene Untere“, „als Hefe in der hohen Musik verrührt“. Dies besonders im Rondo, also der Sinfonie letztem, dem jubelnden Satz.
Nie zuvor habe ich das so sehr zu spüren (und zu schlucken) bekommen wie bei Currentzis. Dass der Sinfonie besagter Jubel ziemlich oft und zuerst von Adorno zum Vorwurf gemacht worden ist, sei dahingestellt. Vielleicht werde ich eines Tages meine eigene Interpretation formulieren, die deutlich macht, dass und weshalb dieser fünfte Satz genauso sein muss, wie er jetzt ist. Hier sprengte es den Rahmen. Vielleicht aber dieses: Sie „müssen“ die fünf Sätze bloß von hinten nach vorne lesen, nicht bloß die zwei ersten. Dann wird das berühmte Adagietto zur allerzärtlichsten Liebesnacht, aus der das Horn uns schließlich herausruft, spöttisch näselnd gefolgt vom Fagott:
Wobei diese Liebesnacht bei Currentzis zeitweise derartig zärtlich ist, dass ich kaum zu atmen wagte, um die Stille solcher Intimität nicht zu stören. Zugleich und eben deshalb gestalten sein Orchester und er den Satz extrem intensiv. Wo, bei Bernstein etwa, hätte befürchtet werden können, vor Selbstergriffenheit fällt gleich alles auseinander, hält Currentzis’ MusicAeterna die Themenfäden in hingebungsvollster Sanftheit fest, so dass auch die Aufbrüche zu wahrhaftigen werden. Es sind eben keine „bloß komponierten“ großen Gesten. Sondern es ist die aufgehitzte Begeisterung, die wir alle aus unsern ersten Lieben kennen, als wir noch, drängend wie stürmend, jung gewesen. Da genau schließt der Jubel des Rondos nun an und zeigt ihm, dem Näseln, die Nase. Der Zusammenbruch später ward vorher erzählt.
Dem entspricht Currentzis dirigentische Haltung auch in der Verschmähung des Taktstocks. Die Nähe zur Musik ist körperlich, weniger geistig. Geistig zwar auch, aber dieses an die Physis … – nein, direkter: unseren Bios gebunden, dem von den Zeitläuft’ jetzt derart geschundnen. Currentzis bleibt ihm liebend treu. Wobei auch andere Dirigenten, etwa Peter Eötvös, den Dirgierstab vermeiden. Doch Currentzis führt nicht mit den Händen allein, sondern vermittels jedes einzelnen Fingers und jeder vom nächsten getrennt wie mit einem quasi eignen Gehirn. Doch nicht nur das. Zum Ausdrucks- und Führungswerkzeug wird der Körper gesamt. Und wenn mir auch bisweilen manche Gestikulation zu effimiert ist, wohl persönlicher Vorbehalte, einer nichtmusikalischen wahrscheinlich Phobie halber, wurde an dem Abend dennoch klar, wie dirigentisch zwingend jede solche Bewegung war. Currentzis’ schöpferischer, ich sagte beeindruckt „Wahn“ erlöst die Hohe Musik aus dem Formellen zur Form. Wiederum gehört zur Aufgabe aller Rezipienten, Ambivalenzen auszuhalten und sie, und zwar als Schönheit, in sich zu integrieren, wie der Kunst sowieso, sie deutlichst – rücksichtslos gegen jede Erwartung – auszuformen. Problematisch würde es erst, ließe sich Currentzis von seinem „Fanvolk“ bestimmen, das in der Berliner Philharmonie zweifellos zwei Drittel des Publikums stellte. Wobei ich selbst nicht umhin kann, mich ein wenig mit dazuzuzählen. Doch – Joh. 14 – mein Haus hat viele Wohnungen; Currentzis lebt in nur einer davon. Das aber tut er merklich. Seine Nachbarn indes sind nicht weniger spürbar. Für ihn speziell wünscht’ ich indessen, er möge Allan Pettersson entdecken. Täte er’s, uns würden vor Hören und Sehen, Sehen und Hören schlichtweg vergehen. Da bin ich mir einmal sicher.
Letzte Änderung: 09.11.2021 | Erstellt am: 09.11.2021
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