Beim Zerbersten des Flügels

Beim Zerbersten des Flügels

Christoph Haffters „Musikalischer Materialismus“
Simon Steen-Andersens Piano Concerto (2014)

Die Entwicklung der musikalischen Komposition hat sich entlang der instrumentaltechnischen Innovationen und den daraus folgenden Regelbrüchen vollzogen. Nun, da vor einiger Zeit die letzten Reste eines kompositorischen Regelwerks aufgegeben wurden und also keine Regelbrecherei mehr stattfinden kann, stellt sich die Frage, wie die zeitgenössische Musik sich selbst begreift. Der Schweizer Musikologe Christoph Haffter hat mit seinem „Musikalischem Materialismus“ eine Erklärung geschrieben, die Ernst August Klötzke gelesen hat.

In Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der Komposition und Kunsttheorie erarbeitet der Schweizer Philosoph und Musikwissenschaftler Christoph Haffter eine Konzeption des musikalischen Werks, die es an das ästhetische Urteil und die historischen Tendenzen des Materials bindet. Für diese Verbindung von Musikästhetik und kritischer Reflexion der Gegenwart steht der Begriff eines Musikalischen Materialismus.
Haffter wagt ein großes Unterfangen, nämlich eine Philosophie der zeitgenössischen Musik aus den Perspektiven der materiellen Bedingtheit und des ästhetischen Urteils.
Wie denn Musik heute als Kunst möglich sei, lautet dabei die Frage als Ausgangspunkt seiner Befassung. Mit dem Untertitel „eine Philosophie der zeitgenössischen Musik“ verweist Haffter auf die 1949 erschienene „Philosophie der neuen Musik“ von Adorno, in der ein zwar anders gelagertes, aber ähnlich sich ausprägendes Moment der Krise damals wie heute „gegenwärtigen“ Komponierens thematisiert wird. Dies mag unausgesprochen beide Bücher miteinander zu verbinden.

Der philosophische Diskurs zeigte sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder in manch mehr oder weniger gefärbten ideologischen Perspektiven aus den Reihen der Musikwissenschaft und besonders auch von Komponist*innen, deren Anliegen war und ist, die Pluralität zeitgenössischer Musik greifbar zu machen und sich gleichzeitig in darin, über eigene Partituren hinausgehend, zu positionieren.
Haffters Buch erscheint nun wie eine erweiterte und um die eigene Sicht angereicherte Gegenüberstellung dessen, was unter ästhetischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und „das Große und Ganze“ betrachtenden Bedingungen möglich und nötig ist.
Die Kunstmusik, so Haffter, sei „in einer Krise, weil sie selbst an ihren eigenen Möglichkeiten zweifelt“ und er führt dies unter anderem darauf zurück, dass „in ihr die Kategorien, in denen Musik und Kunst für gewöhnlich gedacht wurden, ihre Gewissheit verloren haben“.

Der Aufbau der Einleitung erinnert an die Ausgestaltung eines ersten Aktes im klassischen Drama (ich scheue mich, den vielleicht näher liegenden Begriff einer klassischen „Sonatenexposition“ zu verwenden, da die Vorstellung, eine solche Menge von Themen in einem Sonatensatz durchdringen zu müssen, meine Vorstellungskraft überschreitet), nach einer Klärung und Kontextualisierung unterschiedlicher und für die weitere Auseinandersetzung notwendiger Begriffe unterbricht Haffter seine Begriffsklärung, um sich einer Komposition zuzuwenden, anhand derer er exemplarisch „einer Reihe von Problemen Ausdruck verleiht, die für die zeitgenössische Kunstmusik im Allgemeinen von Bedeutung sind“.

Es handelt sich dabei um das Piano Concerto (2014) des 1976 geborenen dänischen Komponisten Simon Steen-Andersen, dessen materieller Ausgangspunkt die verlangsamte audiovisuelle Darstellung eines zerberstenden Flügels ist. Man mag an diverse Fluxus-Performances der 1960er Jahre erinnert sein, in denen solche Ereignisse als künstlerische „Ersatzhandlung“ für die Dekonstruktion spätbürgerlich/kapitalistischer Gesellschaftsformen initiiert wurden: Das Moment der Zerstörung eines Instruments war das Kunstwerk. Und die Frage, ob denn dieses Kunstwerk aus ästhetischer Sicht als gelungen oder gescheitert gewertet werden sollte, war nicht gewollt und nicht erlaubt. Anders, so Haffter, verhält es sich bei Steen-Andersen, da „die Zerstörung bürgerlicher Instrumente ihre ästhetische Dringlichkeit verloren“ hat und als „verbrauchtes künstlerisches Verfahren (…) nun aber zum Material eines Werkes“ wird, da es das „audiovisuelle Material“ liefert, „aus dem ein Werk gemacht wird“. Haffter beschreibt, wie nach der (vielleicht aus heutiger Sicht obszönen) Eröffnungssequenz des Konzertes eine Art Nachklang die akustische Übergabe an das Orchester formt. Es geht also um den nicht steuerbaren Moment, der ausgehorcht und analytisch durchdrungen wird, um beherrschbare Materialgrundlage und zugleich erlebbares Motto eines Kunstwerkes zu sein, dem „destruktiven Schritt muss ein konstruktiver folgen, sollen die Klänge nicht ins Unverbindliche, ins Vormusikalische zurücksinken“.
Das, so Haffter, was mit Steen-Andersens Piano Concerto exemplarisch als „Problembewusstsein“ verarbeitet wird, zeigt sich insgesamt im kompositorischen Ausloten von der Gegenwärtigkeit von Klangkörpern, von Materialgewinnung und Materialermüdung und letztlich auch auf der übergeordneten Ebene eines durch Institutionen gesteuerten Rezeptionsverhaltens und einer bestimmten Erwartung seitens des Publikums.

Die Strategie, von einem Einzelwerk auszugehen, geht auf, da es Haffter gelingt, die unterschiedlichen Betrachtungsebenen klug und nachvollziehbar auf Grundsätzliches zu erweitern. Von da aus wendet er sich allgemeinen und unterschiedlichen Bedingungen zeitgenössischer Musik zu und führt dies zunächst anhand der Frage aus, wie weit die Wurzeln dessen zurückliegen, auf welche die kompositorische Gegenwart mit all ihren Facetten zugreift. „Sprachverlust“ im Sinne nicht mehr vorhandene Idiome steht dabei wie eine Art Motto über vielen der darin formulierten Gedanken und Verweise. Im folgenden Diskurs um die Krise des Werks zeigt sich erneut, dass Haffter nicht aus einer subjektiven und, wie man es in manch anderer Schrift zur Thematik vorfindet, idiosynkratischen Perspektive schreibt, sondern mit klarer Haltung den Überblick über die oft auseinandertriftenden ästhetischen Positionen gegenwärtiger Musikproduktion behält, gleiches tritt in den folgenden Kapiteln „Das Werk als Fragment“ und „Modelle“ ebenfalls deutlich hervor.
Wie sehr Haffters Buch als Grundlage weiterer Diskurse um und für zeitgenössische Musik dienen kann, wird mit jeder Zeile deutlicher. Er liefert keine Rezepte, sondern stellt Zusammenhänge aus einem sehr großen und umfassenden Repertoire her. Haffter schreibt am Ende: „Die vorliegende Arbeit hat sich weitgehend in einer höheren Abstraktionsebene bewegt, indem sie Grundbegriffe der Musikproduktion hinterfragte. Auch diese Begriffe müssen so verwendet werden, dass sie sich auf den ästhetischen Schein beziehen. Dieser Schein besteht aber gerade darin, dass etwas sich als etwas zu verstehen gibt, was es nicht ist.“

Christoph Haffters „Musikalischer Materialismus – eine Philosophie der zeitgenössischen Musik“ ist keine „leichte“, sondern vielmehr eine sehr nähr- und lehrreiche Kost und damit unbedingt empfehlenswert. Besonders bemerkenswert ist, mit wie viel Sachkenntnis Haffter ganz verschiedene historische und gegenwärtige Sichtweisen zusammenführt und Phänomene, die (noch) keinen weitreichenden Kontext aufweisen, ebenso gekonnt positioniert.

Letzte Änderung: 24.02.2024  |  Erstellt am: 24.02.2024

Musikalischer Materialismus

Christoph Haffter Musikalischer Materialismus

Eine Philosophie der zeitgenössischen Musik
394 S., brosch.
ISBN-13: 978-3-95832-332-2
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2023

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