Ästhetischer Doppelwumms

Ästhetischer Doppelwumms

LyrikLINES

Ob man ihre Bedeutung erfassen kann oder nicht, manche Gesangsfragmente, manche Liedpassagen und Songtexte lassen sich dauerhaft auf einem Gedächtnisplatz nieder, den wir offenbar für solche singseligen Gäste reserviert haben. Die Reihe LyrikLINES gibt AutorInnen Gelegenheit, solchen Ohrwürmern nachzugehen und damit ihren eigenen Assoziationen zu folgen. Michael Behrendt ist der Spur eines rätselhaften Popsongs nachgegangen, der 2008 von Vampire Weekend veröffentlicht und dann von Peter Gabriel gecovert wurde: Cape Cod Kwassa Kwassa

„But this feels so unnatural / Peter Gabriel too / (…) / Can you stay up / To see the dawn / In the colors / Of Benetton?“ Welch verrückte Songzeilen. Gleichzeitig vertraut und hochgradig kryptisch. Vertraut, weil Rock-Superstar Peter Gabriel und die weltweit bekannte Modemarke Benetton samt notorischem „United Colors“-Slogan erwähnt werden. Hochgradig kryptisch, weil Gabriel, Benetton, das Aufbleiben bis zur Morgendämmerung und das Unnatürliche nicht recht zusammenpassen wollen. Dazu der seltsame Songtitel Cape Cod Kwassa Kwassa und die unkonventionelle Musik, ein spannender Mix aus Indiepop und afrikanischen Township-Grooves. Kurzum: Was die New Yorker Band Vampire Weekend da 2008 in die Welt schickte, klang wunderbar eigensinnig, extrem frisch und neu. Sofort wollte ich wissen, um was es in dem Song geht – und was der ehemalige Frontmann der Artrock-Band Genesis darin zu suchen hat. Ein geschickter kleiner Trigger, der mich an diesem Song hängenbleiben ließ. Ein sanfter, aber bestimmter ästhetischer Wumms, der dazu führte, dass ich mich eingehend mit dem Stück beschäftigte. Und dann kam noch ein weiteres Kuriosum hinzu: Cape Cod Kwassa Kwassa wurde damals zeitnah gecovert – und zwar ausgerechnet von Peter Gabriel. Der ästhetische Doppelwumms sozusagen. Ich war geflasht.

Dazu muss man wissen, dass ich mich leidenschaftlich für das Spiel mit Perspektiven und Identitäten im Rocksong interessiere. Ein eher unpopuläres Hobby, ja – aber was soll ich machen? Das Urheber-Ich, das Show-Ich oder die Medien-Persona, das Song-Ich und die unterschiedlichsten persönlichen oder unpersönlichen lyrischen Darstellungsformen sind entscheidende Pole, die sich fantasievoll gestalten und manipulieren lassen. Und ich lasse mich immer wieder gern überraschen von dem, was kreativere, manchmal auch dreistere Acts aus dieser Gemengelage machen – wie sie die genannten Pole lustvoll mit- und gegeneinander in Stellung bringen. Ob Singer-Songwriter durch intime Lyrics und den scheinbaren Verzicht auf Selbstinszenierung größtmögliche Authentizität suggerieren oder wie Nick Cave auch mal in die Rolle eines Mörders schlüpfen, ob Künstler wie David Bowie eine Medien-Persona à la „Ziggy Stardust“ in ihren Stücken sprechen lassen oder Gangsta-Rapper ihren Fans gegenüber auf krassesten Selbstausdruck bestehen, bei Kritik an fragwürdigen Textzeilen aber entrüstet auf eine Kunstfigur oder zufällig aufgeschnappte Haltungen anderer verweisen – man kann Popsongs auch als bunte, schrille Show aus ungewöhnlichen Sprechsituationen schätzen.

Auf die Spitze getrieben wird dieses Spiel in jenen seltenen Fällen, in denen Künstlerinnen oder Künstler ihren eigenen Namen, einschließlich des Vor- und des Zunamens, in das Songganze einbauen. Zu nennen wäre hier Josh Tillman, einst Schlagzeuger der herrlich verhuschten Folkrock-Combo Fleet Foxes und längst solo unter dem Künstlernamen Father John Misty erfolgreich. Sein Song The Night Josh Tillman Came to Our Apt. schillert geschickt zwischen Außen- und Innensicht und ist die erotisch aufgeladene Abrechnung mit einer nervigen weißen Freundin, die sich für eine begnadete Blues-Sängerin hält. Schon irre. Noch bizarrer aber, und damit kommen wir zurück zu Cape Cod Kwassa Kwassa, gestaltet sich der Umgang mit dem eigenen Show-Ich in Peter Gabriels Interpretation des Songs von Vampire Weekend. Was passiert, wenn der altehrwürdige Artrock-Star in einer Coverversion seinen eigenen Namen singt?

Werfen wir zunächst einen Blick auf das Original – und auf den Gesamttext. Die ersten Verse lauten: „As a young girl / Louis Vuitton / With your mother / On the sandy lawn / As a sophomore / With reggaeton / And the linens / You’re sittin’ on.“ Auch hier geht es um die Kombination aus idyllischen Szenen und Modemarken. Nimmt man die zweite Strophe hinzu, kristallisieren sich immerhin zwei Motivstränge heraus: zum einen ein bestimmter Lebensstil, der mit Freizeitaktivitäten und angesagten, luxuriösen Konsumgütern verbunden ist, zum anderen der Bezug auf die Dritte Welt und auf Entwicklungsländer: „Can you stay up / To see the dawn / In the colors / Of Benetton.“

https://www.youtube.com/watch?v=9wHl9qRsMzw

Cape Cod ist eine – bisweilen als „spießig“ und „schickimicki“ verschriene – Urlaubsregion in den USA, genauer: in Massachusetts. Vor dem geistigen Auge entsteht das Bild einer wohlbehüteten jungen Studentin in den Sommerferien. Sie trägt Benetton-Klamotten, hat eine Louis-Vitton-Tasche bei sich und sitzt mit ihrer Mutter an einem Strand oder auf einer Wiese in Cape Cod. Auch wenn es im Song keine Anhaltspunkte gibt, sind Mutter und Tochter vermutlich weiß – Massachusetts liegt im Nordosten der Vereinigten Staaten und hat einen weißen Bevölkerungsanteil von rund 80 Prozent, Cape Cod ist Anziehungspunkt für eine meist weiße wohlhabende Klientel. Im krassen Gegensatz zu dieser deutlich westlich-europäisch geprägten Mittel- bis Oberschichtenidylle steht die afrikanisch beeinflusste Musik des Songs, deren Inspirationsquelle im Titel benannt wird: Kwassa Kwassa, ein Tanzrhythmus aus dem Kongo. Wie im Titel und in der Musik prallen auch in den Lyrics zwei Welten aufeinander – wobei nicht ganz klar ist, wie die Bezüge auf Reggaeton und die Benettonfarben zu deuten sind. Reggaeton ist ein in Südamerika und der Karibik entstandener Musikstil, in dem sich Elemente von Reggae, Salsa und Hip-Hop wiederfinden. Kann sein, dass die angesprochene Studentin es schick findet, diese Musik zu hören, und der märchenhaften Idee von einer friedlichen, glücklichen und vorurteilsfreien Welt erlegen ist, wie sie in den „United Colors“-Werbespots und -plakaten der Modemarke Benetton seinerzeit suggeriert wurde. Es kann aber auch sein, dass sämtliche Dritte-Welt-Bezüge – von den afrikanischen Rhythmen bis hin zu den sprachlichen Bildern – mit dem Sprecher des Songs assoziiert sind. Dieser Sprecher, das Ich des Songs, gibt sich im Refrain zu erkennen: „Is your bed made? / Is your sweater on? / Do you want to fuck? / Like you know I do / Like you know I do.“

Do you want to… wie bitte?! In fast allen Refrains des Songs heißt es lediglich: „Do you want to?“ – nur im ersten Refrain, also genau ein einziges Mal, wird deutlich ein weiteres Wort gesungen, das sich trotz jodelartigen Gesangs als „fuck“ heraushören lässt und in verschiedenen Lyrics-Sammlungen auch so wiedergegeben wird. In jedem Fall möchte der Sprecher des Songs der jungen Frau in irgendeiner Form näherkommen. Dazu passt die Doppeldeutigkeit der ersten beiden Refrainverse: Denn die Fragen, ob das Bett gemacht ist und die Tochter einen Pulli anhat, sind sowohl der fürsorglichen bis herumkommandierenden Mutter, als auch dem an ein erotisches Intermezzo denkenden Song-Ich zuzuordnen. Möglicherweise äfft der Sprecher sogar die Mutter nach und verleiht ihren Fragen bewusst einen schlüpfrigen Unterton. Bezieht man, wie oben angedeutet, sämtliche Dritte-Welt-Anklänge auf dieses Song-Ich, dann kann man sich einen jungen Schwarzen vorstellen, der die junge Frau entweder schon kennt, weil er ihr nicht standesgemäßer, schlecht gelittener Freund ist, oder sie – beispielsweise als verstohlen beobachtender Hotelangestellter – kennenlernen möchte, ja begehrt. Vielleicht kommen sich die beiden im Verlauf des Songs auch tatsächlich näher, weshalb das Song-Ich – mit leicht ironischem Unterton – fragen kann, ob die Frau mit ihm wach bleibt, um die Morgendämmerung zu erleben, dann in kitschig-verlogenen Benettonfarben.

Letztlich aber bleibt jede Deutung der Lyrics Spekulation – denn genauso gut kann das Song-Ich ein weißer Mittelschichtstudent sein, der das sozialkitschige Faible für Dritte-Welt-Klänge teilt. Das Musikvideo setzt auf einen weißen Cast – der Text lässt hier vieles offen. Doch egal, ob die Reggaeton- und Kwassa-Kwassa-Klänge lediglich einen ganz normalen Urlaubsflirt untermalen oder auf eine verbotene, gesellschaftlich nicht akzeptierte Beziehung hindeuten – sie geben der heimeligen Urlaubsatmosphäre am Cape Cod etwas Unwirkliches, etwas Falsches. Das bringt auch der Sprecher zum Ausdruck. Sein Gefühl untermauert er durch den Verweis auf Peter Gabriel, dessen Name gewissermaßen adjektivisch gebraucht wird. „This feels so unnatural, Peter Gabriel too“ – „Das hier fühlt sich so unnatürlich an, irgendwie auch petergabrielisch.“

https://www.youtube.com/watch?v=-uhi2_oBdXM

Der am nächsten liegende Grund für dieses Namedropping ist die Tatsache, dass Peter Gabriel, seit Mitte der 70er Jahre als Solokünstler erfolgreich, gern und gern auch elegant-geschmäcklerisch mit afrikanischen Rhythmen arbeitet und auf seinem eigens gegründeten Label Real World sogenannte Weltmusikkünstler fördert. Das vermutet denn auch Gabriel selbst, wobei er nicht hundertprozentig sagen kann oder will, wovon die _Cape Cod Kwassa Kwassa_-Lyrics eigentlich handeln. In der Aprilausgabe 2010 der Zeitschrift „Mojo“ gibt er zu Protokoll: „I’ve got no idea why they stuck me in there other than it was sort of African-ish and I’ve done some African-ish things.“

Wie gesagt: Mister Sledgehammer, so der Titel seines Monsterhits aus dem Jahr 1986, ließ es sich nicht nehmen, den Song gemeinsam mit der Londoner Indie-Elektronik-Band Hot Chip zu covern – und zwar komplett mit Gabriel-Namedropping. Allerdings, und das ist interessant, verzichtet er in der Coverversion einerseits auf den derben Ausdruck „fuck“ und fügt andererseits dem Gabriel-Namedropping einen eigenen Vers hinzu. So folgt auf die Originalworte „It feels so unnatural, Peter Gabriel, too“ die bemerkenswerte Zeile: „And it feels so unnatural to sing your own name…“. Zu Deutsch: „…Und es fühlt sich so unnatürlich an, den eigenen Namen zu singen.“ Schon im Original wurde mit dem Namedropping nicht auf die Privatperson Peter Gabriel, sondern auf die Ikone, die Marke, die Kunstfigur „Peter Gabriel“ und eine damit verbundene Ästhetik verwiesen. Wenn dann Gabriel selbst den Song samt Namedropping covert – wenn also die Ikone und Marke den eigenen Ikonenstatus und Markencharakter zitiert – dann entwickelt das Ganze etwas zutiefst Komisches, ja Groteskes. Durch den Zusatz: „Und es fühlt sich so unnatürlich an, den eigenen Namen zu singen“ treibt Gabriel das Ganze noch einen Schritt weiter: Denn nun singt er einerseits tatsächlich als Privatperson Peter Gabriel und geht andererseits endgültig auf die Metaebene, um so etwas wie einen möglichen Grundsatz zu suggerieren: „Wir Künstler singen ja über vieles, und wir finden es ganz normal. Aber den eigenen Namen zu singen, also unmittelbar uns selbst im Song zu thematisieren, das kommt uns schon ziemlich abgefahren vor.“ Indem er ausgerechnet mit der Band Hot Chip zusammenarbeitet, die in Fachkreisen gern als kopflastig-kühl beschrieben wird, verleiht er seinem ästhetischen Move – vielleicht mit einem kleinen Augenzwinkern in Richtung der unterschwellig kritischen Originalkünstler – einen zusätzlichen artifiziellen Charakter.

Es bleibt eine ebenso spannende wie eigenartige Pop-Konstellation: Die Band Vampire Weekend ließ ihren Song Cape Cod Kwassa Kwassa um Kolonialismus und Culture Clash, um unreflektiertes Konsumverhalten und die als verlogen-kitschig empfundene Idealisierung „fremder“ Kulturen kreisen. In der Coverversion holen Peter Gabriel und Hot Chip das recht bodenständig klingende Indie-Original hinüber in das bunte Gabriel’sche World-Music-Universum, das immer auch ein wenig stilisiert-bombastisch anmutet – und führen gleichzeitig die Idee eines authentisch sprechenden Song-Ichs ad absurdum. Nein, Cape Cod Kwassa Kwassa ist kein Song, der mich seelisch aufwühlt. Auch keiner, der mir bahnbrechende Erkenntnisse vermittelt. Aber sowohl das Original als auch die Coverversion von Hot Chip und Peter Gabriel gehören zu jenen brillanten Popmomenten, die ich mir am liebsten rahmen und als Bilder an die Wand hängen würde.

Letzte Änderung: 22.05.2023  |  Erstellt am: 22.05.2023

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