Zara Zerbe: Erdrutsch
1.
Wir geben euch den Sonnenaufgang zurück. Darunter IMG_91828.jpg: Ein bewaldeter Hang, von der Morgensonne golden angestrahlt, eine Lichtung mit einer kleinen Kapelle, weiß gekalkte Mauern, Schiefertürmchen, ebenfalls in dramatischem Kupferlicht. Vielleicht besser: Wir holen euch den Sonnenaufgang zurück. Mit geben klang es nach einem vorausgegangenen Diebstahl, was insgesamt Unfug war, denn in Falkenbach ging die Sonne morgens regulär auf und abends wieder unter, egal wie die Eigentumsverhältnisse lagen. Nur der Gabelstein, von dem aus man die kleine Kapelle in der Morgensonne oder den offiziell schönsten Sonnenuntergang in der Region fotografieren konnte, fehlte.
Wir geben euch den beliebtesten Panoramablick in der Region zurück, das wäre halbwegs ehrlich, dachte Toni. Ihr iCloud-Speicher war randvoll mit Bildern von der kleinen Kapelle, vom Gabelstein aus fotografiert, in der Morgensonne, manchmal im Nebel, an Regentagen kaum zu erkennen, wie auf dem letzten Foto, mit Regentropfen auf der Linse. Toni hatte das Trailrunning aufgegeben, weil die entsprechenden Trails seit dem Erdrutsch nicht mehr existierten. In den Fitnessräumen der Gruber Holding gab es Laufbandgeräte, die jeden gelaufenen Kilometer als Bonus auf das Gehalt anrechneten. Aktuell lag Toni bei 20 Kilometern pro Woche. Das war ausbaufähig, sie musste dringend ihre Laufgeschwindigkeit verbessern, wenn sie sich eine der Wohneinheiten in den flutsicheren Gebäuden leisten wollte, die jetzt gerade als 3D-Modelle auf ihrem Bildschirm rotierten. Über den Modellen lag ein Filter, der Morgen- oder Abendlicht simulierten sollte, so genau konnte Toni es nicht sagen. Die Aufnahmen von dem Drohnenflug durch die digitale Modellstadt waren ebenfalls in ein rotgoldenes Licht getaucht. Interessierte es niemanden, wie Falkenbach 2.0 bei gewöhnlichem Tageslicht aussehen würde?
Kalinda, kannst du die 3D-Modelle und die Drohnenaufnahmen noch einmal ohne diesen Abendlichtfilter rendern? Toni lehnte sich zurück und beobachtete den kleinen Wirbel auf ihrem Display, der anzeigte, dass Kalinda ihre Anfrage verarbeitete.
Bist du sicher, dass du diese Anfrage stellen möchtest? Bildmaterial mit regulärem Tageslicht entspricht nicht den emotionalen Vorgaben für die Präsentation.
Ja, ich bin ganz sicher, ich möchte das zum Vergleich wenigstens einmal sehen. Bitte rendere einmal Falkenbach 2.0 ohne den Abendlichtfilter.
In Ordnung. Wenn du die gesamte Modellstadt rendern möchtest, wird der Vorgang etwa 30 Minuten in Anspruch nehmen. Möchtest du die gesamte Stadt rendern oder genügen dir einige exemplarische Ansichten?
Nein, bitte einmal die gesamte Stadt rendern.
In Ordnung. Möchtest du in der Zwischenzeit noch einmal die Zielgruppenanalyse und die emotionalen Vorgaben für die Präsentation durchgehen?
Toni legte ihre Stirn auf die kühle Schreibtischplatte vor ihr und versuchte, nicht zu laut zu atmen, was ihr nicht gelang; als sie wieder auftauchte, blickte sie Jonas vom gegenüberliegenden Schreibtisch fragend an.
„Kalinda“, erklärte Toni. Jonas schob die Kopfhörer zurück auf seine Ohren und sank zurück in seine Arbeit. Kalinda spulte Fakten aus dem Briefing ab, die Toni nicht noch ein weiteres Mal hätte lesen müssen. Allerdings ging jede Datenabfrage von Kalinda aus ihrem neuronalen Netz direkt auf Tonis Arbeitszeitkonto, es war also klug, auf Kalindas Vorschläge einzugehen.
Die Präsentation richtet sich an Bürgerinnen und Bürger Falkenbachs, deren Wohnhäuser durch den Erdrutsch am 4. Dezember 2023 zerstört wurden. 95 Prozent der Grundeigentümer*innen hat seine Grundstücke bereits an Gruber Holding verkauft und einem Neubau nach unserem Konzept zugestimmt. Die wichtigste Zielgruppe sind daher die ehemaligen Mieter*innen der städtischen Wohnungsbaugenossenschaft. Diese sollen Neu-Falkenbach als Arbeitskräfte erhalten bleiben. Meine Analyse hat ergeben, dass eine emotionale Bindung an ihren Heimatort der wichtigste Grund für sie wäre, nach dem Neuaufbau weiterhin in Falkenbach zu leben. Als nähere Begründungen dafür wurden genannt: Die seit Generationen in der Gegend ansässigen Familien und die umliegende Natur. Besonders dem Gabelstein wurde eine große Bedeutung zugesprochen – wegen der Aussicht auf das Tal, die Kapelle der heiligen Barbara und den Sonnenuntergang, der durch einen Naturfotografiewettbewerb überregionale Bekanntheit gewonnen hat. Ich empfehle deshalb, in der Präsentation den Schwerpunkt auf Bildmaterial mit einer dazu passenden Lichtgestaltung zu legen und im Storytelling den emotionalen Verbundenheitsaspekt zu verfolgen. Als Überraschungseffekt würde ich die geplante Rekonstruktion des Gabelsteins an das Ende der Präsentation setzen. Hast du weitere Fragen?
Toni suchte in ihren Erinnerungen nach bekannten Gesichtern, denen sie auf dem Gabelstein begegnet sein könnte, doch ihr fielen nur die zwei, drei anderen Bergläufer ein, die ebenfalls zwischen sechs und sieben Uhr morgens losliefen. Manchmal, erinnerte sie sich, hatte sie frisch mit dem Taschenmesser eingeritzte Initialen in der Picknickbank entdeckt, während sie ihre Wadenmuskulatur dehnte. Waren das die Menschen, auf deren Daten Kalinda sich berief? Tonis Eindruck war, dass die Falkenbacher am allermeisten den Kiosk am Bootsanleger vermissten.
Kannst du mir noch einmal erklären, wie die Rekonstruktion des Gabelsteins funktionieren soll?, tippte Toni, doch bevor sie die Frage abschicken konnte, meldete sich Kalinda erneut.
Gute Nachrichten: Der Rendervorgang ist abgeschlossen. Möchtest du das 3D-Modell ansehen?
Toni klickte auf ja und begann, in der 360°-Ansicht durch die Modellstadt zu wandern, die ohne den Abendlichtfilter doch sehr grau erschien.
2.
Thomas vom Naturschutzbund sagte, es könnte Jahre dauern, bis sich das Ökosystem von dem Erdrutsch erholte. Es könne sich ebenfalls komplett auf links drehen; Arten könnten verschwinden, neue auftauchen, die Karten würden durch die Umschichtung des Bodens neu gemischt. Luise deponierte ihr Saatgut deshalb im Schrein der Sancta Barbara. Sie sagte: Als eine der Vierzehn Nothelfer*innen wird die Heilige Barbara es ganz sicher richten.
Nina sagte, dass Luise das mit den Nothelfer*innen etwas zu wörtlich nahm und ihr Luises Hinwendung zum Katholizismus Sorgen machte.
Susanne sagte: Wir gehen unterschiedliche Wege, um unser gemeinsames Schicksal zu verarbeiten.
Ali sagte, es sei klug gewesen, hätte Luise ihr Saatgut beschriftet.
Luise sagte: Die Heilige Barbara wird aus den Saaten genau das wachsen lassen, was wir zum Leben brauchen. Man muss nur regelmäßig zu ihr beten und ihr Blüten in den Schrein legen.
Nina sagte, dass Luise noch weniger Ahnung vom Gärtnern habe als vom Katholizismus, sie sich jedoch gern vom Gegenteil überzeugen lasse.
Gregor fragte: Gibt es keine bessere Schutzheilige für den Anbau von Pflanzen als die Heilige Barbara?
Susanne sagte: Die Heilige Barbara ist das, was wir haben. Damit müssen wir arbeiten.
Meral sagte: Wir könnten das Saatgut ja irgendwo in den Schlamm werfen und schauen, was passiert.
Tim sagte: Wir können es drüben unter dem Gabelstein versuchen, da ist ja nun Platz.
Hans sagte: Ich habe gehört, dass da jetzt Pflanzen wachsen, die es nirgendwo sonst auf dem Planeten gibt.
Ali sagte: Das gehört jetzt der Gruber Holding.
Pia sagte: Alles gehört jetzt der Gruber Holding.
Peter sagte: Immerhin baut die Gruber Holding die Häuser wieder auf.
Halina sagte: Die Gruber Holding baut die Häuser neu. Ich habe die Entwürfe gesehen. Es ist alles grau, schlimmer als vorher.
Murat sagte: Grau erhöht den Wiederverkaufswert, genau wie beige.
Pia fragte: Brauchen Städte jetzt einen Wiederverkaufswert?
Simon fragte: Gehören wir dann ebenfalls der Gruber Holding?
Daria sagte: Transnistrien gehört zum Beispiel ebenfalls einem Konzern.
Susanne sagte: So schlimm sind die Notfallcontainer eigentlich nicht. Meiner hat jetzt Gardinen und einen Teppich.
Heiko sagte, dass er noch immer seinen Hund vermisste, doch der würde sicher wieder auftauchen.
Marlene sagte, sie fühle sich so fragmentiert, seit sie den Karton mit ihren durchweichten Notizbüchern hatte wegwerfen müssen.
Olga sagte, dass es schön wäre, wenigstens wieder einen Kiosk am Wasser zu haben.
Johanna sagte: Ich würde das mit dem Saatgut genau so machen, wie Meral und Tim es vorgeschlagen haben.
Nina fragte: Wo ist eigentlich Luise?
3.
Die von einem unserer Tochterunternehmen entwickelten Anker-Stahlbolzen stabilisieren den Boden in den Erdrutschgebieten. Durch die gesteuerte Abgabe von Kationen kann die Bodensubstanz bei starken Regenfällen verfestigt werden, um eine erneute Rutschung zu verhindern. Dank dieser Technologie ist es möglich, auf der Fläche, die sonst unbewohnbar wäre, eine neue Stadt Falkenbach zu bauen. Die geologische Abklärung, die hier gerade stattfindet, ist eine behördlich angeordnete Formsache, die vor dem Verkauf der Stadtrechte abgeschlossen sein muss.
Seda überflog den Text der Infotafel, die vor dem Sperrzaun an der Baustelle angebracht war, und versuchte, ihn sich so gut es ging zu merken, falls doch einmal jemand fragen sollte, doch bislang hatte sich niemand für ihre Arbeit interessiert. Die Probebohrungen führten Mitarbeiter einer Tochterfirma der Gruber Holding durch, sie waren gebrieft, oder desinteressiert, oder kamen lediglich ihrer Arbeit nach, eine reine Formsache. Passanten waren hier selten, ebenso wie die Rentner, die auf ihren Spaziergängen stehenblieben und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen die Baustelle begutachteten. Die Notunterkünfte lagen auf der anderen Seite des Flusses, der Wanderweg war verschüttet, es reichte nicht einmal für Menschen, die sich gern Lost Places anschauten, weil keines der Gebäude mehr stand.
„Die Bohrlöcher in Distrikt F9 sind jetzt freigegeben. Bist du gerade frei?“ Colin drückte Seda einen Messkoffer in die Hand und sah sich vorsichtig um. „Ich würde mir das gerne zuerst ohne die Bauleitung anschauen. Da müssen wir uns ein bisschen beeilen.“
„Wären wir über den Nordeingang nicht schneller? Da könnten wir mit dem Transporter hinfahren.“
Colin schüttelte energisch den Kopf. „Da ist doch gleich dieser Pressetermin für die Gabelsteinrekonstruktion. Ich hab unseren Arbeitsplan extra so gelegt, dass wir den verpassen.“
Er bewegte sich in einem Laufschritt über den frisch aufgeschütteten Schotterweg, der Seda kein bisschen unauffällig vorkam. Erst, als sie außer Hörweite waren, drosselte er sein Tempo.
„Ich habe heute Nacht schon wieder von diesem Imagefilm geträumt. Der von der Bürgerversammlung, mit diesen kitschigen KI-Bildern. Du weißt schon.“
Seda nickte und dachte an das, was sie in den vergangenen Nächten geträumt hatte. Nichts, was sich gut nacherzählen ließ, glitzernde Abendsonnenstrahlen auf dem Fluss, Kratzeis am Bootsanleger, Lichtreflexe in bodentiefen Fenstern, definitiv Stoff für kitschige KI-Bilder, doch sie war froh darüber, nicht mehr davon zu träumen, wie der Inhalt ihrer Schränke von einer Flutwelle davongespült wurde.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, wäre ich davon überzeugt, dass irgendein Tochterunternehmen von Gruber eine Technologie für kontaktloses Dreamfluencing entwickelt hat. Das war jetzt schon die dritte Nacht in Folge.“
„Und, hast du dir schon eine Wohneinheit reserviert?“
Colin lachte verbittert auf. „Meine Versicherung hat mir sogar angeboten, die Kosten zu dafür zu übernehmen. Aber ganz ehrlich, würdest du in einer Stadt wohnen wollen, die ganz legal und offiziell einem Baukonzern gehört? Mit dem CEO als Bürgermeister? Nur, weil sie auf deiner alten Heimatstadt gebaut wurde? So erdverbunden bin ich dann doch nicht.“
Seda sah konzentriert auf den Boden, um nicht über das Geröll zu stolpern, von dem hier, wo der Gabelstein zerbröselt sein musste, deutlich mehr herumlag als weiter unten am Haupteingang. Was hatten diese zwei unheimlich geschniegelten Menschen in der Versammlung gesagt – moderne Schulen, Smart Homes, effiziente Verwaltung durch KI-optimiertes Projektmanagement, verbessertes Stimmrecht in öffentlichen Angelegenheiten durch was noch einmal? Working Efficiency Performance? Vermutlich musste sie sich den Imagefilm noch einmal in Ruhe anschauen, obwohl sie die Gruber Holding nur ungern in ihren Träumen zu Gast haben wollte.
Die Probebohrung lag direkt neben einem Felsbrocken, der von einer grün schimmernden Moosschicht überzogen war. Seda stellte ihren Messkoffer darauf ab und befühlte die samtigen Moosfäden. Leuchtmoos, das in der Sonne reflektierte. Eigentlich nicht heimisch in diesem Ökosystem, doch damit konnte sie ebenso falsch liegen. Sie holte eine Pinzette aus dem Koffer und nahm vorsichtig eine Probe für das Biolabor.
Collin stand bereits in der Grube und schien die Sedimentschichtung zu begutachten.
„Hier gibt es Leuchtmoos. Das ist ungewöhnlich, oder?“ Sie klemmte den Zipbeutel mit der Probe zwischen ihre Lippen und versuchte, ebenfalls in die Grube zu klettern, doch Collin hielt sie auf.
„Kannst du einmal den Aushub sichten? Ich komme hier nicht weg.“ Er deutete auf seine Hosenbeine, an die sich einige Rhizome geheftet hatten. Verwirrt schaute Seda sich um. Hier wuchsen nur wenige Pflanzen, erst recht keine, die sich über Rhizome vermehrten, keine Ackerwinde, keine Herkulesstaude in Sicht. Sie kramte nach ihrem Taschenmesser und wollte es Collin reichen, doch er winkte ab und hielt ihr ein Stück Wurzel entgegen, das er bereits abgeschnitten haben musste. Die Schnittkante war bereits eingetrocknet und Seda konnte sehen, wie sich eine Verzweigung an einer Sprossachse bildete und die Wurzel einfach weiterwuchs; außerdem schien das Rhizom in der Sonne zu fluoreszieren. Das musste etwas Neues sein, ein Neophyt, von der Schlammlawine angespült.
Letzte Änderung: 02.08.2025 | Erstellt am: 31.07.2025
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