Ein Morgen im öffentlichen Nahverkehr: Verspätungen, Zugausfälle, entwurzelte Bäume – und ein Mann, dessen makellose Routine plötzlich aus den Fugen gerät. Als er eines Tages seinen gewohnten Rhythmus bricht, entfaltet sich eine Szene, die gleichermaßen tragisch wie absurd ist. Ein eindringlicher Blick auf die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Tyrannei des Zufalls – und die Frage, inwieweit Ordnung im größten Chaos möglich ist.
An keinem Ort auf dem weiten Erdenrund ist der Mensch sich seiner Machtlosigkeit stärker bewusst als im Öffentlichen Nahverkehr, denke ich mir und denke an die Verspätungen, die Zugausfälle, die Rücksichtslosigkeit entwurzelter Bäume, die ohne Scham auf die nächste Oberleitung krachen und mit sich auf die Gleise reißen, und es macht mich fassungslos, wenn ich darüber nachdenke, welches Chaos unterhalb der zerbrechlichen Ordnung von Fahrplänen und digitalen Anzeigetafeln tobt, ein Chaos, mit dem man sich wie mit der Tatsache abfinden sollte, dass man auf den Lauf der Dinge oft gar keinen Einfluss hat, dafür gibt es im Leben viel zu wenig Sollbruchstellen, überall herrscht die Tyrannei des Zufalls, und genau in dem Augenblick, in dem ich das alles durchdenke, kommt mir der Mann in Erinnerung, der jeden Tage am selben Bahnhof das Abteil betrat und zur Arbeit fuhr, so auch an jenem Morgen, wie ich mich erinnere, vor zwei Wochen, als er im Zugabteil stand und mit eisernem Blick die Schiebetüren anstarrte, nicht eindringlich war er, der Blick, sondern eisern, wie ich mich erinnere, seiner ganzen Körperhaltung haftete etwas Verhärtetes an, der ganzen Gestalt dieses Mannes, nachdem er seine schwarze Ledertasche sorgfältig auf den Handlauf neben der Tür abgestellt und ein wenig die Neigung der Tasche korrigiert hatte, damit sie beim Losfahren und Abbremsen des Zuges nicht auf den grindigen Boden des Abteils herunterfiele, wonach er erneut in Richtung gegenüberliegender Schiebetür starrte, die sich wieder schloss, woraufhin er, wie ich mich erinnere, Haltung annahm, seine Arme leicht angewinkelt an die Hosennaht legte und dabei immer wieder zu seiner Ledertasche schielte, dieses offenbar wertvolle Gut, dass sie auch ja nicht hinabfalle oder geklaut werde, so als ob sie Nitroglyzerin enthielte oder das handschriftlich verfasste Geständnis des wirklichen Kennedy-Attentäters, die Tasche dieses Mannes, dem nirgendwo ein Haar abstand oder eine Strähne ins Gesicht fiel und dessen Haarfarbe von einer Gleichmäßigkeit war, von einer Reinheit, wie ich es, außer an Neubaufassaden, nur an seinem strahlend weißen Hemd gesehen hatte, das in einer dunklen Bundfaltenhose steckte, die wie flüssiges Blei in die im trüben Deckenlicht des Waggons schimmernden Lederschuhe zu fließen schien, eine Makellosigkeit, die mich vermuten ließ, er könne ein übermenschliches Wesen sein, ein Außerirdischer, dem es gelungen war, sich den Gesetzen der Physik zu entziehen, zumindest jenen, die auf der Erde herrschen, über die Gesetze seines Heimatplaneten und über die Frage konnte ich nur spekulieren, ob er dort immer so stand wie an jenem Morgen in der Bahn, denn das tat er immer, stehen, er stand immer, niemals anders als stehend habe ich ihn gesehen, in dem Abteil, unablässig und mit einer beispiellosen Regelmäßigkeit stand er, wie ich mich erinnere, denn ich kann mich nicht daran erinnern, ihn je sitzend gesehen zu haben, nein, ohne Ausnahme ragte er vertikal aus dem Wirrwarr dieses Bahnabteils heraus, ehe die Bahn schließlich an seinem Ziel ankam, die Tür sich öffnete und der Mann mit wenigen Schritte draußen war, genauso lief die Fahrt dieses Mannes jeden Morgen ab, außer an eben jenem Morgen, an dem er sich plötzlich nicht rührte, als das Piepen ertönte, das Signal, dass die Tür sich wieder schließen würde, er blieb einfach stehen, als er sein Ziel erreicht hatte, und dann ging alles ganz schnell, erinnere ich mich, plötzlich nämlich zuckte der Mann zusammen, griff hektisch nach der Ledertasche, lief los und näherte sich mit schnellen Schritten der Tür, die sich jedoch über sein Ansinnen, nun auszusteigen, hinwegsetzte, sich nämlich schloss und den Arm und die rechte Schulter des Mannes, einschließlich Ledertasche, festhielt, während draußen der ganze Rest des Mannes auf dem Bahnsteig stand, an diese Szene erinnere ich mich überaus deutlich, wie der Mann versuchte, sich mit hektischen Bewegungen aus der Tür zu lösen, wie er zog und zerrte und der verbliebene Körperteil im Abteil nicht durch die Gummilamellen hindurchpasste und das Unvermeidliche geschah: Die Bahn fuhr los und das auch noch pünktlich.
Der Mann fing an zu laufen und zu rufen, doch im Abteil nahm niemand Notiz von der sich anbahnenden Katastrophe, niemand sah, dass der Mann mittlerweile in den Laufschritt gewechselt war, dann rannte, sich seine Schritte schließlich überschlugen und sich in seinem Gesicht die pure Verzweiflung zeigte, ein Flehen darum, wie mir schien, dass es doch eine wie bei Salamandern übliche Sollbruchstelle geben möge, eine Materialverjüngung, in seinem Falle im Schulterbereich, die den Mann durch den Druck der Tür ganz sanft in zwei ordentlich voneinander getrennte Teile auseinanderbrechen lassen könnte, denn dann wäre sein Überleben, wenn auch vorläufig nur noch einarmig, gesichert, und er hätte erfolgreich dem Chaos getrotzt, das dachte er vielleicht, als sich die Bahn unerbittlich dem Ende des Bahnsteigs näherte, der massiven Mauer vor dem Tunneleingang, was der Mann mit großen Augen bereits erkannt haben musste, zumindest dachte ich das, bis ich den dumpfen Schlag hörte und es schlagartig dunkel wurde und der Zug in den Tunnel einfuhr und fuhr und fuhr, und als ich im Zwielicht den Arm sah, in dem blütenweißen Hemd zwischen den Gummilamellen der Schiebetür, als ich die unversehrte Tasche betrachtete, die an der gepflegten und manikürten Hand baumelte und das gleichgültige regelmäßige Rattern hörte, das von den Tunnelwänden zurückgeworfen wurde, da dachte ich, dass selbst im größten Chaos und auch ohne Sollbruchstelle ein bisschen Ordnung möglich ist.
Letzte Änderung: 11.12.2024 | Erstellt am: 11.12.2024
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