Toi Tautorus: Schmerzhafte Mutter von Kalk
1917 Am Anfang war das Rad. Am Anfang war das Rad der Pferdebahn nach Deutz, später dann die Räder der Elektrischen, die sich in metallenen Schienen ihren Weg bahnten und dann eben die Räder des Fernzuges, der ihren Emil an die Front gebracht hatte.
Dann: eine kurze Stille. Ein Verschwinden. Eine Unmöglichkeit zu leben, bis er zurückkam, die erst wieder wich, als sie selbst begann – wie Emil zuvor – den Takt ihres Lebens durch die Räder der Dampfmaschinen in der chemischen Fabrik, strukturieren zu lassen. Sie drangen mit ihrer monotonen Hin- und Herbewegung, dem schrillen Pfeifen und ihrer Unermüdlichkeit in Friedas Träume, ihre Gedanken, eine jede ihrer Bewegungen, sodass sie sich manchmal dabei ertappte, im Rhythmus der Dampfmaschine, die ihrem Arbeitsplatz am nächsten stand, kurz und flach zu atmen.
So kamen Frieda auch direkt diese Räder in den Sinn, als sie heute auf dem Weg zur Fabrik von dieser unsinnigen Frage heimgesucht wurde: Was steht am Anfang einer Stadt?
Emil hätte über diese Frage gelacht. Er hätte ihr schelmisch über den Kopf gestreichelt und gemeint: Das ist wirklich ein Mysterium, was in diesem kleinen Ding alles passiert. Und dann hätte er ihr doch geduldig seine Theorien erläutert. Doch Emil war nicht da, also musste sie sich selbst mit diesen Fragen herumschlagen, die sie erst schaffte zum Schweigen zu bringen, als sie die Junisonne und den Nebel, der noch in der Luft hing, gegen das künstliche Licht und den säuerlichen Geruch von Halle 2b eintauschte und wieder ganz klar wurde: am Anfang stand das Rad.
Doch das Rad hatte stillgestanden, nur kurz, als vor ein paar Tagen die Erna plötzlich aufgesprungen war, und wie wild an den Ventilen der Dampfmaschine drehte, bis diese unter Seufzen und Zischen zum Erliegen kam. Dann schrie die Erna, dass sie kämpfen müssten für bessere Bezahlung, für mehr Freizeit und mehr Essen, so wie die Straßenbahnerinnen. Kein Mensch wisse, wie lang dieser Krieg noch gehen würde und manche der Frauen begannen miteinzustimmen, doch da wurde die Erna schon herausgezerrt und bekam einen Verweis für eine ganze Woche, in der sie nichts verdienen würde.
Jetzt war sie wieder da und stand tuschelnd mit der Minna in der Tür und drückte den eintretenden Frauen Flugblätter in die Hand, die diese schnell in den Taschen ihrer großen, von den Männern übernommenen Kitteln verschwinden ließen.
Frieda las ihren direkt, da sie wusste, dass ihr keine Zeit blieb, war sie einmal auf Position. Das Flugblatt stellte die Rolle der Frauen für die Kriegsanstrengungen heraus, da sie jetzt den Sprengstoff herstellten, und zwar mit längeren Arbeitstagen und nur für die Hälfte des Lohns, den die Männer, deren Posten sie einnahmen, bekommen hatten. Es half alles nichts. Sie mussten streiken.
Während Frieda Bottiche füllte, leerte, schrubbte, alles nach den Anweisungen ihrer Vorgesetzten dachte sie über das Flugblatt nach. Natürlich bekam auch sie weit weniger als der Emil damals und die Tage waren lang, doch die Chemische Fabrik hatte die Produktion ja auf Sprengstoff umgestellt. Ein Streik würde doch den Männern an der Front schaden und ihr Emil würde möglicherweise nicht zu ihr zurück…
Nein, daran war nicht zu denken. Nervös begann sie an den Knöpfen ihrer Bluse herumzufummeln. Einen nach dem Anderen tastete sie die Knöpfe ab und kam schließlich bei dem zweiten von unten, dem Einzigen, der noch bezogen war, an und plötzlich wusste sie, was zu tun war; wer um Rat zu fragen war: das Liesel!
Seit fünf Jahren hatte sie nicht ans Liesel gedacht oder es zumindest versucht, bis diese vor einigen Wochen plötzlich mit einer der fahrbaren Küchen, bei denen sie mittags etwas Warmes bekamen, aufgetaucht war. Doch feige, wie sie war, hatte Frieda nicht gezeigt, dass sie Liesel erkannt hatte, nur gelächelt und Danke gesagt. Liesel sah ja auch ganz anders aus als vor all den Jahren. Die kurzen Haare hatte sie herauswachsen lassen und auch den roten Lippenstift trug sie nicht mehr wie damals, als sie noch im Bekleidungsgeschäft arbeitete.
Frieda hatte sie bei einem der ersten Besorgungsgänge, den sie allein für die Mutter erledigen durfte, kennengelernt und seitdem waren die beiden unzertrennlich – gewesen.
Liesel ging selbst gerade erst in die Lehre, doch weil sie ein Jahr älter war als Frieda, wusste sie natürlich alles besser und Frieda vertraute ihr in allem. Daher war es dann auch so verwirrend, als sie nicht mehr sprachen. Frieda wusste nicht, was anzufangen war, mit den Erinnerungen daran, wie Liesel ihr unter dem Vorwand eines Verkaufsgesprächs mit den Händen über die Strumpfhose fuhr. Erinnerungen an den roten Lippenstift und wie er seinen Weg an die unwahrscheinlichsten Orte fand. Daran, wie sie gemeinsam die Illustrierten durchblätterten, die Liesels Cousine ihr aus Amerika schickte, auf die schönsten Frauen zeigten und sagten, die sieht aus wie du! Oder daran, wie sie versuchten die Artikel, von denen sie vermuteten, dass sie besonders interessant waren, mit einem Diktionär zu entziffern.
Frieda hörte in allem aufs Liesel, bis zu jenem Tag, an dem sie sagte, Emil zu heiraten sei ein Fehler. Frieda hörte sich immer noch fragen, wieder und wieder warum, warum dies denn ein Fehler sein könnte, so eine Hochzeit, doch Liesel blickte ihr nur tief in die Augen und schwieg und das waren die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten.
Die letzten bis heute, dachte Frieda, da sie erkannte, dass das plötzliche Auftauchen von Liesel in der Fabrik kein unangenehmer Zufall war, sondern, dass die Mutter Gottes ihr das Liesel geschickt hatte in dieser schwierigen Zeit, in der ihr Mann nicht da war, um ihm Fragen zu stellen wie: Sollte sie sich dem Streik anschließen? Wurde ihre Haut faltig? Und: was steht am Anfang einer Stadt? Ja, als sie vor der schmerzhaften Mutter um Rat gebetet hatte, da hatte diese sie erhört und das Liesel zurück in Friedas Leben geschickt und so wartete Frieda ganz sehnlichst auf den Mittag, hoffte, dass Liesel da sein würde und konnte, als sie vor ihr stand, gar nicht an sich halten, sprudelte los, was dächte Liesel über dieses und jenes und wollten sie sich am Abend treffen und der Streik und sie konnte gar nicht aufhören, doch Liesel fragte nur: Brötchen zum Eintopf?
Frieda war schockiert, hatte sie sich etwa geirrt? War das etwa nicht… Liesel, fragte sie, doch Liesel schüttelte den Kopf und sagte: ich dachte du hättest meinen Namen vergessen.
Nie! rief Frieda, doch Liesel sagte nur: doch, doch, vergiss ihn. Wenn du ihn all die Jahre vergessen konntest, dann will ich auch jetzt nur das Fräulein an der Gulaschkanone sein und die anderen wollen auch Eintopf und als Frieda sich umblickte, schauten die Frauen in der Schlange tatsächlich ungeduldig und auch ihre Schicht würde in zehn Minuten wieder beginnen, also nahm sie Liese den Teller aus der Hand und ließ sich von ihr unsanft zur Seite schieben. Sie glaubte noch zu hören, wie Liesel sagte, Good Luck, babe, doch die Tage mit den Illustrierten waren zu lang her und sie war sich nicht sicher, ob sie richtig verstand.
2024 Am Anfang war die Mutter oder am Anfang waren die Sorgen. Sie wusste nicht, wie herum es richtig war. Es musste so eine vertrackte Henne-Ei Situation sein oder sie war einfach zu müde. Es war 23:34 Uhr und damit schon lange nach ihrer Schlafenszeit.
Sie rührte in dem Kräutertee, den sie sich an solchen Abenden zubereitete, um ihre Nerven zu beruhigen. Sollte sie ihm schreiben? Nein, dann würde er nur wieder böse werden und tagelang nicht mit ihr sprechen.
Entfernt nahm sie Bilder von Füchsen, Elchen und auch Papageientauchern war, die der kleine Küchenfernseher produzierte, hörte nur vage eine ruhige, tiefe Stimme Dinge sagen wie: Natur, Vielfalt und Bärenmutter.
Ihr Sohn war noch nicht wiedergekommen und da es Samstagabend war, fürchtete sie, dass er in dieser Nacht auch nicht wiederkommen würde. Dass er erst irgendwann am nächsten Vormittag in die kleine Wohnung, die sie mit ihm bewohnte, stolpern würde und dann den ganzen Sonntag verschliefe, bis er am nächsten Tag wieder zur Schule müsste und wieder würde ein Wochenende vergehen, an dem er nicht mit ihr teilte, was gerade in seinem Leben los war. Dabei sorgte sie sich doch so. Die ganze Zeit.
Gerade sorgte sie sich zum Beispiel, was ihm heute alles passieren könnte, jung wie er war, mit irgendwelcher Schminke im Gesicht – sie kannte doch die Männer – als ein Knall sie zurück ins Jetzt holte. Vor ihr auf dem Küchentisch lag plötzlich die Tasse, die ihren Tee gehalten hatte, der nun den Küchentisch hinunterlief und in die Ritzen des Linoleums sickerte. Hatte sie etwa die Tasse umgeworfen, ohne es zu merken?
Beulen im Laminat fürchtend stand sie auf, um das karierte Küchentuch zu greifen, das an einem Nagel neben dem Kühlschrank hing, als ihr plötzlich die Postkarte einer Madonnenfigur mit dem sterbenden Messias ins Auge fiel. Seltsam von ihr angezogen griff sie die Postkarte, löste sie vom Kühlschrank und las, dass es sich um die schmerzhafte Mutter, ganz unweit in der Kalker Kapelle handelte. Auf der Rückseite waren in kleinen Buchstaben die sieben Schmerzen der Maria abgedruckt. Sie fragte sich, wer die Karte dort aufgehangen hatte. Sie selbst konnte sich definitiv nicht daran erinnern, also musste es wohl ihr Sohn gewesen sein.
Sie setzte sich wieder an den Küchentisch unter die metallene Lampe, um die winzigen Lettern zu entziffern, als ihr, in jenem Moment, in dem sie die Karte in die grünliche Pfütze legte, wieder einfiel, warum sie aufgestanden war. Sie sprang auf und wischte den Tee vom Tisch, den Tischbeinen und vom Fußboden. Dann legte sie das Handtuch zum Trocknen auf die offene Tür der Waschmaschine, nahm die rote Lesebrille von der Anrichte und setzte sich wieder an den Tisch.
Sie las von den Schmerzen der Maria. Der prophezeite Tod, die Flucht, um das Kind zu schützen, der Verlust des Kindes und dann natürlich der Tod in all seinen Facetten. Das alles war doch nichts, das sie nicht kannte, doch plötzlich erschienen sie ihr in einem neuen Licht, die Schmerzen der Maria. Waren es nicht genau jene Schmerzen, die auch sie empfand?
Seit der Erklärung ihres Sohnes bangte sie um ihn, wann immer er das Haus verließ und sie wünschte alles wäre anders. Nichts hatte sie beruhigen können und nichts hatte geholfen zu ihm durchzudringen seit ihrem Ausbruch. Also tat sie nun etwas, dass sie seit Jahren nicht getan hatte. Sie betete. Sie lehnte die Karte, die ein wenig aufgeweicht und grünlich angelaufen war an die leere Tasse und begann zu beten.
Sie betete: Heilige Mutter Gottes, schmerzhafte Mutter, bring mir mein Kind sicher nach Hause! Sie betete. Schmerzhafte Mutter, du bist ganz wie ich! Sie betete: Auch ich wusste in dem Moment, in dem ich mein vaterloses Kind gebar, dass die Welt eine gefährlichere geworden war. Ich weiß, wie es sich anfühlt, eine Stadt hinter sich zu lassen, um dem Kind ein Leben zu ermöglichen. Ich fühle den gleichen Schmerz wie du, als du dein Kind im Tempel verlorst und wenn er sich nicht vorsieht, dann werde ich wissen, wie es ist, sein Kind von der Welt verachtet zu sehen, sein Kind sterben zu sehen und sein Kind zu Grabe zu tragen und sie schaute auf die Postkarte, auf die mittlerweile ganz unscharf gewordene Maria, die mit goldenem Gewand und Krone den sterbenden Sohn auf dem Schoss liegen hatte und sie sah sich darin; sah ihren Sohn auf ihrem Schoss, nicht mit langen braunen Haaren, sondern mit einer blonden Perücke und einer Krone aus Plastikblumen, doch auch er blutend und leblos und sie erschrak über die Schönheit dieses Anblicks und die Echtheit der Trauer, die sie empfand und wie viel einfacher und reiner doch diese Trauer war, als die konstante Sorge und das konstante Ferngehalten-Werden und die Tränen liefen ihr herunter und sie wollte gerade sagen Amen, als sie das Klimpern eines Schlüssels in der Wohnungstür vernahm. Sie hatte gerade noch Zeit, die Karte unter einem Blumentopf verschwinden zu lassen und sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen da stand ihr Sohn schon in der Küchentür, meinte: Sorry wurde etwas später und blickte sie verständnislos an.
Letzte Änderung: 01.08.2025 | Erstellt am: 31.07.2025
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