Stilles Wasser im Poseidon

Stilles Wasser im Poseidon

Kurzgeschichte
Wandmalerei in Palermo | © Faust-Kultur M. Sciurba

Gaetano Altopiano, 1962 geboren, lebt und arbeitet in Palermo. Er ist Poet und Autor, seine Short Stories werfen uns mit wenigen Sätzen in die Tiefen einer existenziellen Auseinandersetzung mit Zeit, Bewusstsein und Identität. Wer sich auf seine Werke einlässt, wird bald die Grenzen zwischen Realität und Fiktion infrage stellen. Augenzwinkernd spielt Altopiano mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Existenz seiner Protagonisten. Er ist ein Meister der Verwirrung, der jedoch, mit einem Glas klaren Verstandes dem Leser zuprostend, diesen daran erinnert, dass hinter dem überraschend Fragwürdigen eine tiefe und vor allem tief durchdachte Wahrheit liegt.

Bar in Palermo | © Foto: Faust-Kultur M. Sciurba

Unglaublich, wie viele Male nicht faktisch gewordene Fakten tatsächlich hätten solche werden können. Ja, noch unglaublicher ist es, denkt man an die Menge unterschiedlicher Ereignisse, die aus ihnen hätten entstehen können. Ein Gegenschlag, der nie stattgefunden hat, ein nie zertrümmerter Schädel, eine rasende Fahrt zur Klinik, die es nie gegeben hat, haben folgendes Ergebnis gezeitigt: Der Mann, der dieses Jahr das Autorennen Mille Miglia gewinnen sollte, bemerkt auf der dritten Testrunde einen Lichtschein am Straßenrand; er hält an, steigt aus, geht näher, rutscht in den Straßengraben und zieht sich eine Distorsion zu. Nur, dass er exakt in dem Moment glücklicherweise ein Glas stilles Wasser im Poseidon trinkt. Der Barmann gibt ihm das Restgeld, einen Nickel, der zu Boden fällt und vor die Füße eines Mädchens rollt, das dasteht und ins Leere schaut. Während die Welt ringsum sich mit unbekannten Paaren füllt, dringt Efeu ins Lokal ein, man erkennt Risse an den Wänden. Eine der Töchter, die er nicht hat, tankt den Wagen voll für die vierte Runde.

Letzte Änderung: 18.06.2024  |  Erstellt am: 18.06.2024

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