Sophie Baumberg: Augustusbad

Sophie Baumberg: Augustusbad

RSP 2025 Longlist

Die Datsche ist vollkommen ausgebrannt. Wir stehen vor dem kleinen Haus, das unsere Großeltern aufgebaut haben, damals, als das hier noch zu einem anderen Staat gehörte und wir nicht geboren waren. Der Morgen ist noch nicht angebrochen, noch ist genug Zeit, alle Spuren zu verwischen. Aber wir stehen starr nebeneinander, können den Blick nicht von der Glut abwenden. Die Außenwände stehen noch, das Dach ist halb eingebrochen. Das Feuer begann in der Küche, ein kaputter Wasserkocher, werden wir später sagen. Die Vorderseite des Hauses ist stark verrußt. Von den sonnengelben Gardinen ist nichts mehr übrig, die offenen Fenster geben den Blick auf das Innere frei. Ich kann die Überreste der Siebzigerjahre-Schrankwand erkennen, die an der Kopfseite des Wohnzimmers stand. Daneben die kleine Küche: Gasherd, Arbeitsfläche, ein kleiner Kühlschrank. Nichts zueinanderpassend. Langsam gehe ich auf das Haus zu. Unter meinen Schuhsohlen knackt der gefrorene Rasen. Ich sehe mich vorsichtig um, schaue zwischen den alten Kastanien hindurch in den Nachbargarten, doch niemand blickt mir entgegen. Ich spüre Adrians Hand an meinem Ellbogen. Klara, sagt er. In seiner Stimme liegt eine stille Warnung. Im Augenwinkel sehe ich die bleichen Umrisse seines Gesichts, die blonden Locken in der Dämmerung. Wir müssen gehen, bevor uns jemand sieht. Ich ziehe meinen Arm von ihm weg. Ja, sage ich. Und dann: Aber ich will nochmal kurz rein.

Wir begraben sie an einen kalten Tag im Mai. Ich zittere unter meiner schwarzen Seidenbluse, halte mit Adrian Schritt, der hinter dem Urnenträger herläuft. Der Weg zieht sich, Großmutters Grab liegt an der anderen Seite des Friedhofs. Wir haben geweint, Adrian und ich, in der Kapelle, obwohl die Rede der Pfarrerin unpersönlich und Großmutter keine Christin war, nicht im eigentlichen Sinne. Sie glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod. Ich denke daran, dass ich sie nie wiedersehen werde, wenn sie recht hat, und wünsche mir das Gegenteil. Das Grab ist ein kleines Loch im Boden, ohne Grabstein, der noch ausgearbeitet werden muss. Wir legen Kränze und Blumen ab, ich mache ein Foto mit meinem Handy, keine Ahnung, warum. Ich werfe Rosenblüten in das Grab, umarme erst meine Mutter, dann Adrian. Seine Augen sind gerötet, sein Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Vater ist nicht gekommen.

Als wir später im Restaurant sitzen, rauschen ihre Stimmen im Hintergrund. Ich höre, wie meine Mutter über das Grundstück spricht. Sie will es loswerden, sobald der Erbschein ausgestellt ist. Wenn man bedenkt, unter welchen Umständen sie den Garten damals bekommen haben, sagt sie. Ich ramme Adrian in die Seite, doch er schüttelt nur den Kopf. Ich spüre die Heiserkeit in meinem Hals, sammele einen Moment meine Stimme. Was meinst du, welche Umstände denn? Meine Mutter wischt ihre Hände am dunklen Kostümstoff über ihren Oberschenkeln ab. Sie sieht uns nicht an. Der Tisch ist auf einmal in Schweigen verfallen, am Nachbartisch schlägt ein Kind mit seiner Gabel auf den leeren Teller. Dann sagt jemand: Du kannst es den Zwillingen doch langsam Mal sagen, sie sind doch jetzt erwachsen.

Ich reiße das Tor zur Einfahrt auf, als ich seinen Wagen am Ende des Weges stehen sehe. Das kalte Holz schlägt gegen meine Hüfte, als es hinter mir zurückschwingt. Ich schließe nicht hinter mir ab. Links von mir liegt tot der Garten, Rasen und Beete sind von einer Frostschicht überzogen. Über mir zeichnen sich die dunklen Umrisse der Tannen ab, deren Spitzen teilweise abgeschnitten sind, bei Tanten und Onkeln als Weihnachtsbäume im Wohnzimmer stehen. Nur in unseren nicht, nicht dieses Jahr. Je näher ich der Datsche komme, desto heller wird es. Vom Sportplatz hinter dem angrenzenden Feld fällt schwaches Laternenlicht auf das Grundstück. Vor der Garage steht sein Auto. Aus den Fenstern dringt kein Licht. Ich atme aus. Ich sehe die Datsche, bleibe einen Moment auf der Veranda stehen. Rechts von mir die leere Hollywoodschaukel, ohne Polster und Menschen darauf nicht mehr als metallische Verdrahtungen, an denen der weiße Lack an vielen Stellen bereits abblättert.

Innen riecht es so wie immer, denke ich. Ich ziehe den Geruch durch die Nase, die Mischung aus kaltem Kaffee, muffigen Polstern aus den Siebzigerjahren und Sommer. Als wären sie hier konserviert: Alle Sommer unserer Kindheit. Das Erste, was ich sehe, ist die Kuckucksuhr neben der Küchenzeile. Auf der Anrichte steht eine leere Flasche Wein, daneben ein silberner Korkenzieher. Er sieht erst zu mir auf, als ich durch den kleinen Eingangsbereich und die Küche gegangen bin und direkt vor ihm stehe. Er sitzt auf dem Teppich, die Beine ausgestreckt, den Kopf an das Sofa gelehnt. In seiner rechten Hand eine Flasche von Omas selbstgebrannten Johannisbeerlikör. Er hebt den Kopf leicht an, schiebt die Mundwinkel nach oben. Unsere Augen treffen sich kurz, bis sein Blick an der Kuckucksuhr hängenbleibt. Adrian, sage ich. Er schaut mich nicht an. Ich sage: Was machst du hier? Er atmet langsam aus, zuckt mit den Schultern. Ich wollt mich noch verabschieden, sagt er. Ich gehe einen Schritt zurück, lehne mich an die Küchenanrichte. Spüre die scharfen Kanten des Holzes im Rücken. Ich sehe mich um, präge mir die Umrisse der Möbel ein, den kleinen Fernseher auf dem Nierentisch, die kleinen Ölgemälde an den Wänden. Bald würden die das alles ausräumen, in einen Container und ab auf die Müllhalde damit. Ich schalte das Licht ein. Ey, Klara, sagt Adrian. Er verzieht das Gesicht, drückt sich seine zu Fäusten geballten Hände in die Augenhöhlen. Mach das Licht wieder aus, verdammte Scheiße. Ich ignoriere ihn. Ich will das alles noch einmal sehen, sage ich. Ist doch egal jetzt, sagt er. Morgen geben sie die Schlüssel ab. Ich weiß, sage ich. Ich präge mir das Muster der Gardine ein, Spitze mit kleinen Blüten, gelber Stoff, vollkommen makellos. Mutter hat gesagt, dass wir uns nicht an das Grundstück klammern sollen. So wie damals, als sie nach der Scheidung das Haus verkauft haben. Oma lebt in euren Erinnerungen, nicht hier, hat sie gesagt. Aber ich weiß, dass Erinnerungen verblassen. Und wir keinen Ort mehr haben werden, an dem sie am Leben war. Die Orte, an denen wir gespielt und gelernt haben, was es bedeutet, hier zu sein, mit diesen Eltern und diesen Großeltern und der ganzen Schuld, die gibt es dann nicht mehr. Ich sage: Die wollen es einfach alles loswerden, das Geld nehmen, so tun, als ob nichts gewesen wäre. Und wenn wir sie fragen, wie es damals war, geben sie keine Antworten. Er sieht mich an. Du bist auch nicht besser, sagt er. Warum, frage ich. Er nimmt noch einen Schluck. Weil du weggehst, sagt er. Und dann: Du musstest unbedingt Abitur machen, und jetzt musst du in den Westen na klar, dann auch noch in ne Großstadt, wo man den halben Tag unterwegs ist, wenn man dich mal besuchen will. Du willst auch einfach so tun, als ob´s das hier alles nicht gegeben hätte. Ich sehe ihn nicht an, sage: Du kannst ja mitkommen. Er lacht. Nein, kann ich nicht, und das weißt du auch. Du lässt mich allein hier mit dem ganzen Scheiß. Ich war schon fertig mit allem. Wenn du nicht gekommen wärst… Ich zucke zusammen, als er die Flasche mit dem Johannisbeerlikör fest auf den Boden prallen lässt. Sie zerspringt, dunkle Flüssigkeit spritzt auf unsere Sachen. Er lässt den Kopf in die Hände fallen. Er weint lautlos, seine Schultern heben und senken sich. Ich knie mich neben ihn, will ihn umarmen, doch er stößt mich mit seinem Ellenbogen von sich. Ich lege meine Hand auf seine Schulter, ganz leicht. Ich sehe ihm zu, wie er weint, unterdrücke meine eigenen Tränen. Dann sage ich: Komm, ich mache uns die Betten im Kinderzimmer zurecht. Er nickt nur und sagt: Ich glaube, im Badschrank stehen noch unsere alten Zahnbürsten.

Draußen ist es noch dunkel, als ich wach werde. Meine Glieder sind unter der dünnen Sommerbettdecke steif geworden. Der Stoff meines Sweatshirts fühlt sich klamm an. Ich höre Adrians regelmäßigen Atem im Bett über mir. Ich denke an die vielen Sommernächte, in denen die Hitze in dem kleinen Kinderzimmer stand und wir trotzdem das Fenster nichts öffneten, um keine Mücken reinzulassen. Hinter meinen Schläfen pochen leise die Schläge der Kuckucksuhr. Ich gehe in die Küche, gieße mir ein Glas Wasser ein, ohne das Licht anzumachen. Ich schließe die Augen, während ich trinke, doch der Schmerz hinter meiner Stirn wird größer. Ich reiße die Tür auf, trete auf die Veranda, spüre, wie der Frost sich durch meine Socken frisst. Es ist ganz still jetzt. Hinter dem Eingangstor fällt warmes Licht auf die Straße. Ich stehe da, das Wasserglas noch in der Hand, und lasse die Kälte über meine Kleidung in meine Haut dringen. Als ich das Pochen hinter den Schläfen nicht mehr spüre, ist da nur noch: Wenn du nicht gekommen wärst, und ich weiß, wie dieser Satz weitergegangen ist, in seinem Kopf. Ich weiß es, so wie ich wusste, dass er es dieses Jahr schon einmal fast getan hätte, kurz nach unserem achtzehnten Geburtstag. Dann starb Großmutter und wir mussten für unsere Mutter da sein. Jetzt sind wir wieder hier, zum letzten Mal, und in wenigen Monaten steht hier ein Fertighaus. Meine Socken sind nass, ich spüre meine Zehen kaum noch. Ich gehe zurück ins Haus, lehne mich an die feuchte Tapete im Flur. Im Regal gegenüber stehen die Utensilien vergangener Sommer: Ein Sack Kohle, eine große Flasche Grillanzünder. Große Handschuhe, Metallspieße und Alufolie. In meinen Ohren beginnt ein Rauschen, dass ich nicht aufhalten kann. Ich stoße mich von der Wand ab und gehe ins Kinderzimmer, um Adrian zu wecken.

Ich schlage meinen Kopf gegen das Lenkrad, immer wieder, bis ich den Schmerz nicht mehr spüren kann. Die Stirn in meinen Händen verborgen, verharre ich wie in einer Kapsel im All. Die Nacht ist so schwarz, dass sie jeden Ton zu verschlucken scheint. Ich höre mich nicht schreien, obwohl ich es doch alles schon weiß. Vielleicht immer gewusst habe. Vielleicht war es eine Tatsache, die so offensichtlich war, dass sie leicht zu übersehen ist. Ich lehne mich zurück und atme tief ein. Dann tief aus. Sehe auf den Beifahrersitz, wo das Dokument liegt. Antrag auf Einsicht in Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik steht da. Ich nehme die Papiere, halte sie dicht vor meine Nase, lese jeden einzelnen Punkt. Ich steige aus und entsorge sie im Mülleimer der Nachbarn.

Wir stehen in der Küche. Durch die offenen Fenster zieht es, der Wind treibt mir den Geruch verkohlter Möbel in die Nase. Ich spüre sie, bevor ich sie sehe. Das Dach ist hier eingestürzt, die Balken wurden an die Seite geräumt. Ich blicke nach oben in den langsam grau werdenden Himmel. Ich sehe keine Sterne, nur Schneeflocken, die sich allmählich auf meiner Haut und meiner Winterjacke absetzen. Als wollten sie uns sagen, dass wir nicht allein sind. Dass nicht alles verloren ist, bevor wir anfangen konnten, danach suchen zu wollen. Adrian schiebt mich sanft aus dem Loch, in dem vorher die Eingangstür hing. Wir gehen zu seinem alten Honda Civic. Er zögert, sieht sich noch einmal nach dem Haus um. Zieht seinen Schlüssel aus der Tasche. Er steigt ein, richtet seinen Blick gerade über das Lenkrad. Ich bleibe noch einen Moment vor dem Wagen stehen, atme ein und aus. Ich weine nicht, aber ich weiß, dass es jetzt immer Winter sein wird, wenn ich die Datsche in meinen Gedanken sehe.

Letzte Änderung: 01.08.2025  |  Erstellt am: 31.07.2025

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