Simoné Goldschmidt-Lechner: Die gute Gesellschaft

Simoné Goldschmidt-Lechner: Die gute Gesellschaft

RSP 2025 Longlist

Diese Worte, in Zukünfte gesprochen.

Die Regionalbahn.

Weit darüber auf dem Weg nach Sylt: einige Privatjets, das Ende unachtsam vorantreibend.

Eine Ankunft, noch weit vor der Küste.

Die gute Gesellschaft trifft gegen Nachmittag ein. Nervös flattern im Garten die Fasane in ihrem Käfig. Die Sonne brennt heute kalt. Nebelschwaden vor den Toren. Früher gab es im Ort nur eine Straße, bis Mitte des letzten Jahrhunderts noch keine Straßenbeleuchtung, nur eine einzelne Laterne am Zugang zum Ort. Ob dies tatsächlich stimmt, lässt sich jetzt auch nicht mehr überprüfen. Hoffentlich werden sie nicht wieder vor Weihnachten in Panik geraten.

Das Land ist unnachgiebig. Solches Land greift die Menschen, setzt sie fest in ihre Abläufe.

Alle Worte, die je bekannt waren, kommen langsam abhanden. Wo stellt sich also die Wirklichkeit ein, wenn nicht in diesem alljährlichen Austausch.

Wo sie so lange war.

Ach, das sei doch uninteressant. Wichtig, dass sie jetzt da sei.

In einer anderen Zeit, in einem kleinen Café in Wien, erinnerte sie sich nur noch an diesen Satz von ihm:

„Sind deine Eltern schon tot?“ Er hätte fragen müssen, ob sie noch lebten, aber dass er es nicht tat, war wahrscheinlich Dreh- und Angelpunkt der Faszination, die so viele Menschen mit ihm hatten. So redete er jedenfalls häufig, schon der Gegenwart um einiges voraus, und sie fragte dann schließlich nach seinem Namen.

„Nathan.“

Nathan und sie waren nie zusammen. Hatten nie etwas miteinander, begehrten sich auch gegenseitig nicht. Das war für das Umfeld schwer begreiflich, zwei junge nach gesellschaftlichen Standards attraktive Menschen, oder seien sie vielleicht – und dann ebbten die Fragen schlagartig ab, als sie beide normgerecht verpartnert waren.

Als er sie das erste Mal mitnahm nach Norden, fiel die Regionalbahn aus, wegen eines Sturms. Ein Baum war auf die Schienen gefallen. So saßen sie nicht mehr ganz so südlich in einem anderen Café in Hamburg, einem englischen Café, mit Scones und Clotted Cream und Strawberry Jam.

„Ich wäre gerne nach England gegangen, zum Studium“, sagte Nathan, in einem Tonfall, der ihr verriet, dass es nicht gut gewesen wäre, nachzufragen, warum er nicht in England studiert hatte.

Die Fahrt bis nach Niebüll dauerte etwas mehr als zwei Stunden. Beiderseits war die Landschaft flach und größtenteils nicht sonderlich beeindruckend, nur als es über einen sehr breiten Fluss ging und sich am Horizont der Sonnenuntergang ankündigte – ein Sonnenuntergang, der näher am Meer lag, und für den das Farbspiel deswegen ganz anders ausfiel als im Süden – blickte sie auf. Sie hatte wohl erwartet, das Meer zu sehen, doch das geschah nicht. Ein älterer Mann mit ungewöhnlich rauer Stimme und einer kreuzförmigen Narbe über dem Kehlkopf, schritt mit einem klapprigen Wagen die Gänge der Regionalbahn ab.

Nathan verriet, dass der Mann hier schon immer arbeitete, solange er sich erinnern konnte. Der Sommer hielt schon lange an, die Sonne brannte im Himmel, lodernd bis zuletzt.

In der Umgebung gab es viele Windräder, auf vielen Dächern Solarpanels.

Sie sagte, dass das im Süden Deutschland nicht so sei, die Landschaft solle schließlich erhalten bleiben, auch in Österreich nicht.

„Irgendwie so, als würde man hier nicht ums Land kämpfen.“

Nathan nickte, sein Lächeln wirkte etwas schief, verunglückt.

„Doch, die Menschen hier kämpfen schon ums Land.“ Und, unausgesprochen: Das ist ja das Problem. Wo er aufgewachsen war, sei er der Einzige gewesen, unter Freunden allein. Sie wusste nichts zu erwidern.

Nathans Haus war sehr groß, durch die Generationen vererbt, wenn auch nicht durch seine. Seine Adoptiveltern waren freundlich. Sie freuten sich, dass Nathan endlich eine Freundin gefunden hätte, also nicht eine Freundin, natürlich, sondern eine Freundin.

Sie waren groß und wirkten, aller Freundlichkeit, die sie wirklich ernsthaft wahrnahm, übermächtig, und er wirkte auf den Familienporträts so klein, ein Schatten. Dunkel, mit dem Blick andernorts hingerichtet. Die Form stand ihm nicht, das war das Problem.

Am ersten Nachmittag schon fuhren sie gemeinsam an den Strand. Nathan zeigte ihr seine Lieblingsstellen. Sie warteten, bis die Flut wieder kam und das Watt unter sich verbarg. Es ging viel schneller, als sie gedacht hatte.

Nathan hatte im Ort selbst keine Freunde, aber außerhalb hatte er sehr viele. In Wien zum Beispiel waren mehrere Zehnertische voll mit ihnen, Menschen in allen Größen und aller Körperformen. Aber außer ihr war niemand jemals bei ihm zuhause gewesen, nicht einmal seine Partnerin Azra.

Darauf angesprochen, warum, erwiderte er: „Das ist kein Ort für sie.“ Aber der Ort, den er meinte, war der seines Aufwachsens, der Ort der guten Gesellschaft, nicht das Nordfriesland der Gegenwart.

Einmal fragte sie Nathan, wer seine echten Eltern waren. Die echten, was für ein Unding, so zu fragen. Als wären seine Eltern nicht die echten, als wären sie unecht oder unerkennbar als die, die sie waren. Sie entschuldigte sich sofort.

Doch wenn Nathan ihre Direktheit störte, sagte er nichts. Er wusste darauf keine Antwort. Fast ein wenig wie in einem Märchen sei es gewesen, zumindest die Variante der Geschichte, die seine Adoptiveltern ihm erzählten, wie er zu ihnen gekommen war, sagte er. Laut ihnen war er nämlich an einem milden Abend im späten August auf einmal am Kücheneingang gelegen, eingepackt in eine orangene Decke mit blauen Verzierungen, irgendwelchen afrikanischen Verzierungen, wie sein Stiefvater sie nannte. Die Decke gab es nicht mehr, sie sei dreckig gewesen und bald nach seinem Auffinden entsorgt worden. Seine Eltern hätten ihn gesehen, und in sehr norddeutsch-pragmatischer Manier beschlossen, ihn aufzuziehen. Vor allem bürokratisch habe es da in den ersten Wochen und Monaten viel zu tun gegeben.

„Und sonst weißt du nichts?“

„Ich habe nicht nochmal gefragt. Meinen Eltern ist das nicht wichtig. Und mir auch nicht. Natürlich, klar, so war ich eben anders, das konnten sie dann auch nicht auffangen.“

Er stellte wie so oft keine Gegenfrage, verpasste die Gelegenheit, über sie etwas zu lernen. In diesen Momenten wirkte ihre Freundschaft etwas einseitig.

Oft ärgerte er sie, weil sie alles immer so ernst nahm. Dabei war das Leben ernst. Die Unfähigkeit, irgendetwas ernst zu nehmen, traf sie. Für ihn, nicht für sie selbst.

Ihre Freundschaft trug sie über die Jahre in verschiedene Länder, an verschiedene Küsten. Sie saßen in Portugal in einem Café und verspeisten Azeitonas mit Coca-Cola. Das Meer rauschte beständig im Hintergrund. Zwei Surferinnen versuchten ihr Glück mit den Wellen.

„Das Meer nimmt sich mit der Zeit alles zurück“, sagte Nathan. Seine dunklen Locken wiegten sich kaum merklich in der angenehmen Sommerbrise. „Everything, everything.“

Sein Akzent war hart und deutsch-

In den leichten Momenten kam sie oft unerwartet hervor, diese Schwere, die sich nicht brechen ließ.

Sie antwortete nicht.

Nathan war lustig – nicht für sich, denn er konnte nicht über sich lachen, aber für alle anderen. Ein ewiger Pausenclown. Er scherzte mit allen, die er kennenlernte. Er interessierte sich für alles und jeden. In zwei Minuten war er mit seinem Gegenüber in den tiefsten Gesprächen verwickelt. Die meisten Menschen liebten ihn sofort, aber es gab auch solche, die ihn hassten.

Weil er zu direkt war, zu charmant, zu sehr den Fokus auf sich zog.

Weil er der war, der er war, so unpassend in der Umgebung, in der er sich wiedergefunden hatte, eine leuchtende Ausnahme im tiefen Grau seiner Umgebung. Wie die Motten versammelten sie sich um ihn, blieben an ihm kleben, bis aller Schimmer von ihren feinen Flügelchen gefallen war und sie hinabtaumelten.

Natürlich war es das Meer, das ihn wegzog, ihn vereinnahmte und verschlang. Zumindest munkelte man, dass es so gewesen sein könnte. Sie machte sich Vorwürfe, an diesem Tag nicht mitgefahren zu sein. Doch wie hätte sie wissen können, dass sie ihn nicht mehr sehen würde, ihn nicht mehr in diesem klaren Selbstverständnis würde wahrnehmen können.

Jetzt stand Flora mitten in der guten Gesellschaft. In weiter Ferne spürte sie, dass Ozan sie am Arm festhielt. Ihr war nicht wohl. Der Boden unter ihren Füßen schien in einem fort seine Beschaffenheit zu ändern.

„Es hätte niemand ahnen können“, flüsterte ihr eine der Tanten zu, die vielleicht Janne hieß, „dass es ihm so ging, wer hätte es wissen sollen?“

Nathans Eltern saßen auf der Wohnzimmercouch, um sie herum türmte sich Essen in Tupperware. Die Gäste aßen Kuchen und tranken still ihren friesischen Tee. Nathans Vater ignorierte Marten, den Nachbarn, der immer wieder sagte, dass eines der Kinder wohl den Fasanenkäfig geöffnet hatte. Jetzt liefen die Tiere frei herum, nicht minder aufgeregt, sicherlich würden sie bald auf die Straße laufen, bestimmt wäre es sinnvoll, das aufzuhalten. Flora löste sich von Ozan, der ihr nicht ungetroffen, aber doch verständnisvoll hinterherblickte.

Einen Moment lang überlegte sie, die Fasane im Hinterhof wieder einzufangen. Dann nahm sie die Treppe nach oben, und öffnete die Tür links vom Badezimmer. Nathans Zimmer. Sein Kinderzimmer. Zwischen den Dinosaurier-Büchern, Enzyklopädien über die Ozeane und alten Matchbox-Autos, Postern von Bands wie Interpol und Rap-Größen wie Missy Elliot, stand sein Bett. Bettwäsche wie Laken waren blau. Floras Augen brannten auch wegen des Staubs. Sie legte sich auf das Bett. Die Erschöpfung, die sie zuvor nur hatte erahnen können, ergriff sie nun ganz.

Der Sand unter ihren Füßen fühlte sich gläsern an. In der Ferne war Gelächter zu vernehmen. Sie dachte erst, die Stimmen kämen vom Strand, aber als sie sich umsah, konnte sie niemanden sonst erkennen. Es dämmerte. Sie war barfuß von Nathans Haus aus hierhin gelaufen, schien es. Ihre Füße schmerzten. Die Zeit zwischen dort und hier fehlte. Es war kühl. Sie hatte auch keine Jacke mitgenommen, wie es schien. Es war Flut, am Horizont war es ruhig. Dann kam ihr mit einem Mal, dass sie viel weiter nach Norden gelaufen sein musste, wenn sie sich hier an einem Sandstrand befand. Der Ort und seine Zeit waren im selben Moment nicht greifbar, doch sie spürte eine Präsenz. Sie blickte neben sich, und dort stand Nathan. Er bemerkte sie nicht, zog Socken und Schuhe aus, dann Jeans und T-Shirt, zuletzt die Boxershorts. Vor ihm auf dem Strand lag etwas. Eine gemusterte, orange-blaue Decke. Er legte sie sich um die Schultern und ging langsam auf das Meer zu. Sie wollte etwas sagen, ihm etwas zurufen, doch ihre Stimmbänder verweigerten die Mitarbeit.

Flora schlug die Augen auf. Sie lag im Gästezimmer, Ozan schnarchte neben ihr, den Arm um sie gelegt. Dort, wo seine Haut ihre berührte, war es unangenehm klamm. Die Decke war wohl verrutscht, ein kalter Nachtschweiß hatte sich über ihren ganzen Körper ausgebreitet. Sie löste sich aus Ozans Umarmung, der drehte sich, immer noch schnarchend, um auf die andere Seite. Sie schlich ins Bad. Eine Unterhaltung kam ihr in den Sinn, von irgendwann, eine sich wiederholende Unterhaltung mit Nathan.

„Hey, ich hab vor kurzem was gelesen. Als sie die Sklaven aus Westafrika nach Nordamerika verschleppten, gab es manchmal Widerstand. Die sind dann ins Meer gesprungen. Haben sich lieber dem Tod übergeben, als ihre Freiheit zu verlieren. Die Meere halten die Körper Tausender und Abertausender Toter. Freiheit oder Leben, das war schon immer die Frage. Und dasselbe trifft ja auch auf all die anderen verschleppten, deplatzierten Völker zu.“

Flora meinte, geantwortet zu haben, dass Völker ein seltsamer Begriff dafür sei, was passiert war und immer noch passierte, dass sie sich kurz Nathans Worte durch den Kopf gehen hatte lassen und dann zu dem Schluss kam, dass solche Ideen letztlich schädliche Romantisierungen waren.

Als sie die Badezimmertür öffnete, war Salz auf ihren Lippen.

Über die Badewanne, rechts der Tür, hing eine schwere, nasse Flosse, die perlmuttschimmernden Schuppen orange und blau. Die Flosse ragte Nathan bis zur Hüfte, dort knapp unter den Muskeln seines Bauches, knapp über den Hüftknochen. Sein Oberkörper entwuchs scheinbar der Flosse und seine Augen waren unmenschlich, Obsidian, so unendlich dunkel.

Wieder wollte Flora etwas sagen, wieder fehlten ihr die Worte. Sie ging auf Nathan zu. Der streckte die Hand nach ihr aus, und zog sie zu sich in die Badewanne.

Um der Wanne steht versammelt die gute Gesellschaft. Der Nachbar Marten beschwert sich, dass jemand die Fasane herausgelassen hat. Die blonden, schönen Kinder feixen, im Wasser treiben Azeitonas an die Oberfläche,

und ihre Worte, in Zukünfte gesprochen,

die Regionalbahn.

Noch weit vor der Küste,

eine Ankunft.

Letzte Änderung: 01.08.2025  |  Erstellt am: 31.07.2025

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