
„Schnittlauchlocken“ erzählt von der leisen Magie der Kindheit – einer Zeit, in der das Unsichtbare spürbar und das Wunderbare alltäglich war. Zwischen hellen Momenten der Klarheit, dem Zauber scheinbarer Zufälle und den liebevollen Ritualen einer Großmutter entfaltet sich eine berührende Erinnerung an die ersten Versuche, die Welt zu begreifen.
Es ist schon lange her, aber damals dachte ich, zaubern zu können. Wenn ich die ansah, die zu uns nach Hause kamen und wusste, wann sie lachen würden und wer nur ein Stück Kuchen und wer keinen Wein, nein danke, und wer traurig sein würde, wenn er wieder fuhr und wer froh. Manchmal verdichtete sich etwas und ich spürte die Dinge, bevor jemand sie sagte, und die Menschen um mich herum breiteten sich aus wie Landkarten, die ich betrachten konnte; die hellen Flecken und das Gekräus, das Dunkel und die Leere, die sie in sich trugen, manche mehr, manche weniger.
Mir war, als könnte ich die Wirklichkeit entsichern und durchsehen durch die Zeit; bis heute bin ich süchtig nach dieser eigentümlichen Klarheit. Wenn ich mit der U- Bahn fuhr, sah ich mein Gesicht zwischen den Händen und den dunklen Manteltaschen der anderen in der Scheibe aufleuchten und manchmal überfiel mich dann ein Mitleid, das ich nicht verstand, mit denen, die da so groß um mich herumstanden. Oft stellte sich ein wütender Trotz dazu, der keine Richtung hatte. Eine Zeit lang fand ich überall Geld, gerade, als ich begonnen hatte, mich danach zu sehnen, ohne freilich den Grund dafür zu wissen. Es war überall in den Kuhlen und Ritzen, Fugen und Ecken, man durfte nur nicht danach suchen.
Und einmal griff ich, als ich schlaftrunken aus einem Taxi ausstieg, in den Rinnstein und schloss die Hand um zwanzig Mark. Die durfte ich behalten, hast du ein Glück!, sagte mein Papa und ich lachte, weil ich wusste, dass ich zaubern konnte und es kein Glück war. Der Papa konnte nicht zaubern, aber die Oma schon. Wie Schnittlauch, sagte die Oma zu meinen Haaren und manchmal nahm sie dann eine Strähne ihres eigenen Haars, das weiß-blau schimmerte, zwischen die Finger und rollte sie auf. Wenn sie den Finger wieder rauszog, blieb die Strähne noch einen Moment in der Lockenform, bevor sie sich wieder von ihr löste. Wie Draht, sagte meine Oma dann zufrieden.
Die Oma wusch sich die Haare mit Bier und das Gesicht mit Milch. Direkt aus der Flasche im Kühlschrank schüttete sie die Milch zuerst in die hohle Hand und danach in ihr Gesicht und es ekelte mich immer ein bisschen dabei, aber mit meinen Haaren musste etwas geschehen, das war klar. Und ich begann die schlaffen Strähnen an meinen Fingern aufzudrehen, viele Male am Tag, und dabei dachte ich an Draht und an ein Blond, das sich im Sommer golden von der Farbe des Himmel abheben würde. Ich erzählte es keinem und als ich später den Wunsch verlor, blond zu sein, wurden die Haare wieder dunkler, aber die Locken blieben für immer.
Letzte Änderung: 16.05.2025 | Erstellt am: 16.05.2025