Philip Krömer: Langer Johann
„Und wenn jemand sagt: Das ist doch verboten. Das ist doch Schwarze Kunst. Sage ich: Nicht, wenn es sich um Liebe handelt.“
- Ernst Augustin: Eastend
Mutter fragt beim Abendessen, ob ich einen netten Mann kennengelernt habe.
Mutter fragt beim Abtragen, ob ich nicht mal wieder ausgehen möchte.
Mutter hat die Heiratsannoncen aus der Zeitung ausgeschnitten.
Mama, sage ich beim Abwasch, es gibt nur einen für mich, und den muss ich selbst finden.
I. Blaubart
Wenn man die Stadt als liegenden Akt betrachtet, dann ist der Lange Johann sein obszönes Wahrzeichen. 27 Stockwerke mit 400 Wohneinheiten, am Stadtrand jenseits des Flussgürtels und schon etwas außerhalb zwischen aufgespreizten Feldern gelegen. Das größte Wohnhaus im Bundesland, das ich in einem Aufzug, der laut dem Baujahr auf der TÜV-Plakette mein Vater sein könnte, emporrausche.
Um 18 Uhr solle ich bei ihm im 20. Stock klingeln, schrieb R***. Und bitte pünktlich sein, er habe täglich wechselnde, darum nicht weniger strenge Besuchszeiten. Weil ich etwas zu früh dran bin, warte ich im Flur.
Kontakt haben wir im Darknet aufgenommen, nun bin ich hier, um sein Angebot zu besichtigen.
Eine alte Dame humpelt an mir vorbei. Sie mustert mich wie ein frisch eingeworfenes Fenster. „Zu R***?“, fragt sie.
Ich nicke.
„Der soll mir meinen Schlagbohrer zurückgeben. Richten Sie ihm das aus, junge Dame. Mir öffnet er nicht mehr. Dabei höre ich ihn bohren. Ständig bohrt er Löcher in die Wand. Ich weiß, dass er meine Maschine noch hat. Sagen Sie ihm das.“
„Mach ich.“
„Der R*** ist nicht ganz sauber.“
„Ich pass auf.“
R*** öffnet sofort, als hätte er hinter der Tür auf mein Klingeln gewartet. Bei meinem Anblick hält er kurz inne. Im Darknet gibt es keine Klarnamen. Er hat wohl einen Mann mittleren Alters erwartet, einen wie sich selbst.
„Hereinspaziert.“
R***, wie die meisten Sammler, ist ein unscheinbarer Typ, nicht schmächtig, aber schlaksig. Mit wachem Blick über dunklen Augenringen. Keiner, der aus Sympathie unvorsichtig wird. Lange Haare, ein gepflegter Bart.
R*** führt mich an der Garderobe vorbei.
„Deine Nachbarin hätte gern ihren Bohrer zurück.“
Dahinter schließt ein geräumiges Wohnzimmer an.
„Meine Nachbarin traut sich nicht mehr, mich anzusprechen. Also gehört der Bohrer mir. Ich brauche ihn öfter als sie. Da kommen immer neue dazu.“
Er deutet auf die Ständer und Halterungen, die alle Wände des Raumes bedecken. Für Tauschgeschäfte war ich bereits bei einigen Waffensammlern. Ich selbst habe eine große Vitrine für meine Hieb- und Stichwaffen, bei R*** aber sieht es aus wie in einem Militärmuseum.
„Suchst du etwas Bestimmtes?“, fragt er. „Armeesäbel, Großschwerter, Rapiere? Jeder von uns hat doch seine Favoriten. Stehst du auf Morgensterne? Ich hätte gerade einen da.“
Zuerst fällst Du mir gar nicht auf unter Deinesgleichen.
„Und?“, fragt R***.
Doch dann streift Dich ein Schimmer Abendlicht, der durch die breite Fensterfront fällt, und lässt Dich in deiner hölzernen Wandhalterung funkeln.
Es ist, wie wenn sich im Film zwei Unbekannte quer durch eine volle Bar hinweg entdecken, und kurz setzen alle Umgebungsgeräusche aus. Oder wenn sie im Plattenladen gleichzeitig auf- und einander ansehen und ihre vorher so flinken Finger verharren reglos über den Boxen voller Schallplatten.
Wenn es unausweichlich ist, dass sie sich verlieben.
R*** bemerkt, wie mein Blick an Dir hängen bleibt, als hättest Du ihn aufgespießt. „Eine echte Schönheit, ja.“
Das Gefühl ist mir nicht unbekannt. Ich hatte Männer und Frauen, nur waren das eher Begehrlichkeiten. Während ich auf dem Luftwaffenstützpunkt stationiert war, führte ich eine flüchtige Beziehung mit einem Eurofighter-Jet, das war neu für mich. Irgendetwas war da im Dröhnen seiner Düsen, wenn er startete oder landete, eine schwer zu fassende Sehnsucht. Später schwärmte ich für eine Standhaubitze, deren kühle Präzision mich rührte und dazu ihre Fähigkeit, unvermittelt Feuer zu spucken.
Davon hat man gelesen. Mann heiratet Auto, Frau lebt in einer Beziehung mit einer Kathedrale.
Nur lieben die meisten Mensch ohnehin die eigene geschönte Idee ihres Partners, dessen beste Version, der er nie gerecht werden kann. Warum sollte das nicht ebenso gut mit einem unbelebten Gegenstand möglich sein?
Einem japanischen Samurai-Schwert etwa, einem Katana, meine erste richtige Beziehung. Sie hielt zwei Jahre, dann trafen wir beim Training das passende Wakizashi zum vollendeten Daishō-Schwerterpaar und ich wurde überflüssig.
Immerhin fanden wir zusammen heraus, dass ich eine Frau für Blankwaffen bin. Zur Sammlerin wurde ich nebenbei. Hetero- und homosexuelle Menschen führen die Liste ihrer Liebespartner und Bettgefährten im Kopf. Ich stelle sie in meine Vitrine.
Doch das eine Schwert, das mir alle anderen Waffen ersetzt, habe ich noch nicht gefunden.
Und hier bist Du.
II. Sindbad
„Ein persischer Prunksäbel von ungefähr 1830. Wahrscheinlich ein diplomatisches Geschenk für einen Würdenträger. Die Scheide ist leider verloren“, erklärt R***.
Ich lerne Dich kennen. Mit jedem erwähnten Detail verfalle ich Dir ein wenig mehr. Als müsste R*** sie erst alle aufzählen, damit ich es glauben kann.
„Ziseliertes, vergoldetes Eisengefäß mit floralem Dekor und bunten Emaille-Einlagen. Parierstange terzseitig mit Inschriftenkartusche und umlaufender Inschrift. Das sind Suren aus dem Koran. Keine Ahnung, was sie bedeuten.“
Sicher sprechen sie von der Schönheit und meinen die Deine.
„Die Klinge aus Wootz-Stahl ist leicht angelaufen und besitzt geätzte Rückenkehlungen. 79,3 Zentimeter lang. Länge insgesamt 93,2 Zentimeter, Gewicht 632 Gramm. Habe ich alles noch einmal nachgemessen.“
So leicht. Ich stelle mir vor, wie ich Dich halte und durch ein Neigen der Klinge Deinen Schwerpunkt erspüre, durch ein Rollen im Handgelenk Deinen Pivotpunkt bestimme. Mir wird ganz flau im Magen.
„Aber den gebe ich nicht her“, sagt R***.
„Warum?!“, entfährt mir ein enttäuschter Aufschrei.
„Weil er mein schönstes Stück ist. In so einen Säbel muss man sich verlieben.“
Man muss!
„Ich tausche“, sage ich.
„Keine Chance.“
„Ich gebe dir meinen Dragonersäbel. Der wurde in einem Duell verwendet, man sieht die Kampfspuren!“
„Nein.“
„Und dreitausend Euro.“„Achttausend.“
„Ich habe keine achttausend.“
R***, dem die Sache sichtlich unangenehm wird, sagt: „Dann such dir etwas aus, das du dir leisten kannst. Und wenn du achttausend hast, können wir noch einmal reden.“
„Ich muss!“, schreie ich.
R*** legt die Hand auf den Griff der Waffe, die ihm am nächsten ist, ein feiner Langdolch in einer schulterhohen Wandhalterung. „Gehen musst du“, sagt er. „Und zwar sofort.“
Statt nach Hause zu fahren, drehe ich rastlose Runden durch die Flure und das Treppenhaus des Langen Johanns. Jenseits der Fenster nur Himmel und Ferne, Häuser wie Streichholzschachteln, Autos wie Kieselsteine, Menschen wie Staubkörner.
Die Liebe ist eine unvergleichliche, einmalige Gelegenheit, das weiß ich. Wenn der geeignete Augenblick vergeht, lässt er sich nicht wiederherstellen.
Ich ziehe kurz in Betracht, Mutter anzurufen, aber die besitzt auch nicht so viel Geld. Also schreibe ich R*** in einer Nachricht, dass ich in einer Stunde mit den achttausend und der Tauschwaffe käme, um den Säbel zu holen.
R*** antwortet nicht. Ich ziehe all mein verfügbares Vertrauen zusammen, in mich und unsere Liebe.
Ich male mir aus, wie Dein Stahl in meiner Hand liegen wird, Deine Härte und Deine Schärfe. Ohne Schnitte wird es nicht gehen.
Im Aufzug fahre ich wieder nach oben. Ich klingle an den Türen von R***s Nachbarn und erkundige mich nach der Alten, bis ich ihre Wohnung gefunden habe. Ihr erzähle ich, dass wir ihre Bohrmaschine jetzt gleich holen könnten. R*** habe dem zugestimmt. Ich käme aber mit, damit er sie auch wirklich rausrücke. „Der ist nicht ganz sauber.“
Um Punkt acht klingeln wir bei R***. Ich bin mir unsicher, ob er öffnen wird, und er tut es doch. Als hätte er hinter der Tür auf mich gewartet.
„Wir kommen die Bohrmaschine holen“, sage ich, und noch bevor R*** etwas erwidern kann, zerre ich die Alte vor mich und verpasse ihr einen Stoß, dass sie in die Wohnung stolpert und mit ihm zusammenprallt. Ich mache einen Satz über die gemeinsam Gestürzten hinweg.
R*** hat Dich schon von der Wand gehoben. Auf einem Tischchen liegst Du bereit, um noch einmal begutachtet, in ein Ledertuch eingeschlagen und in einer Posterrolle versteckt transportiert zu werden.
Ich packe Deinen Griff. Der Druck auf meinen Magen löst sich. So fühlst Du Dich also an.
Wie wenn sich die Liebenden im Film das erste Mal berühren, nur etwas kühler.
Gemeinsam fliehen wir.
Schon sind wir aus der Tür. R***, der sich unter der Alten hervorgearbeitet hat, heult vor Wut auf. „Lass ihn mir!“ Er behauptet, er liebe dich, aber wenn das stimmte, wären ihm auch achttausend lange nicht genug.
Die Aufzüge sind irgendwo im Haus unterwegs. Im Treppenhaus nehmen wir die Stufen im Dutzend. Die Liebe verleiht uns Kräfte, die R*** nicht zur Verfügung stehen. Und die Polizei, von der er als Darknet-Händler selbst einiges zu befürchten hat, wird er nicht rufen.
Dann hat er aber einen freien Aufzug erwischt und uns darin überholt. Auf Höhe des fünften Stocks passt er uns auf der Treppe ab, ein Kurzschwert kampfbereit in der Rechten.
Damit wir zusammenbleiben können, muss es sein.
Seinen ersten schwungvollen Hieb pariere ich mit Dir, selbst wenn Du eine Scharte davonträgst. Verzeih mir, Geliebter.
Natürlich weiß R*** nichts von meiner Zeit beim Militär und meinem Dan in der japanischen Schwertkunst Kendō. Ich lasse Dich an R***s Schwertklinge abrutschen, der sie als Amateur in die Höhe reißt, weil er das in einem Film gesehen hat. Mit nur einer geringen Anpassung von Druck und Richtung lenke ich Deine Schneide in sein Gesicht. Das aus seiner klaffenden Stirnhaut hervorspringende Blut nimmt ihm die Sicht.
Ich will diesen Kampf rasch beenden. Falls wir die Klingen noch einmal kreuzen müssten, würde ich eifersüchtig. Verschwende Dich nicht an ihn!
R*** taumelt gegen das Treppengeländer und wäre fast darübergestürzt. Das Schwert poltert ihm aus der Hand. Ich trete ihm gegen das Knie, da rollt er die Stufen hinab bis zum nächsten Absatz und bleibt wimmernd liegen.
„Bitte, bitte, lass ihn mir.“
Im Darknet kennt niemand meine Adresse. Doch die Stadt ist klein, R*** wird, sobald seine Stirnwunde vernäht ist, aus dem Krankenhaus entlassen sich direkt auf die Suche nach uns machen. Wir müssen umziehen, sonst wird man uns trennen. Für die Liebe ist es machbar. Und es muss gleich geschehen. Ein Neuanfang ohne Altlasten. Um meine Mutter kennenzulernen, ist später noch Zeit oder nie.
Was ich in meiner Waffenvitrine angesammelt habe, kann hierbleiben. Ich werde Dich immer mit mir führen, das ist mein Versprechen an Dich, auch wenn ich es nie vor einem Standesbeamten werde öffentlich bekräftigen können.
Ich werde Dir eine Scheide anfertigen lassen, damit Du sie ablegen kannst, wenn wir alleine sind. Ich werde Deine Suren lesen lernen.
Ich werde mit Dir kein Flugzeug mehr betreten dürfen und kein Konzert besuchen. Darauf zu verzichten, ist ein leichter Preis.
Für die Liebe ist es machbar.
In meine Jacke gewickelt liegst Du auf dem Sitzplatz neben mir. Das Schlingern und die Schienenstöße des Zugs haben Deine Bedeckung etwas verrutschen lassen. Ich schiebe meine Hand darunter.
Mit der Fingerkuppe fahre ich sanft über Deine Schneide. Ihre Krümmung und Maserung. Die neue Kerbe spürt man kaum. Zweihundert Jahre bist Du alt. Vor Deinem Wissen bin ich ein unbedarftes Kind. Erzähl mir alles.
Letzte Änderung: 01.08.2025 | Erstellt am: 31.07.2025
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