Marie Malcovati: Erde

Marie Malcovati: Erde

RSP 2025 Longlist

Der Hausmeister hat beschlossen, die großen Erdklumpen auf den Treppenstufen als ein gutes Zeichen zu betrachten. Sie bedeuten, dass die Leute, die hier Schlange stehen, vorher ein paar Schritte auf den Feldwegen gegangen sind, die durch die krokusgepunkteten Wiesen führen. Etwa um die Forsythien zu bewundern, um den Amseln zuzuhören? Sicher nicht.

Wahrscheinlicher ist der bessere Empfang auf dem Hügel hinter dem Rathaus. Die riesigen Brocken dunkler Erde, die sich bei jedem Tritt aus dem Profil ihrer Schuhe lösen, kommen von keinem Waldspaziergang, sondern von ihren stundenlangen Telefonaten. Sie haben nicht die geringste Absicht, sich an der Schönheit der hellgrünen Knospen zu erfreuen. Selbst das seit Tagen andauernde Hoch, welches das Licht scharf und durchdringend macht wie ein japanisches Messer müssen sie nicht bemerken. Niemand kann erwarten, dass sie sich in die Sonne stellen und rufen: „Wenigstens ist das Wetter schön!“

Sie sind nicht verpflichtet heiter zu sein, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Der Hausmeister weiß das alles, weil er selbst hier stand, vor vielen Jahren, um ein paar zerrupfte Dinge in seinen Hosentaschen gegen knisternde neue Papiere und eine Riesenportion lebenslanges Misstrauen einzutauschen. Das Misstrauen wurde ihm auf ungeheuer vielfältige Weise entgegengebracht. Zum Beispiel, indem man ihn ermahnte, wenn er zu traurig oder zu verloren aussah. Er müsse doch jetzt, hieß es, aus dieser Chance etwas machen. Aber alles war aufgebraucht im Moment der Ankunft. Die Wahrheit war, er wollte überhaupt nichts mehr machen, für eine sehr lange Zeit. Er wollte warten, bis seine fehlenden Teile, die ohne ihn auf anderen Kontinenten weiterlebten, zumindest wieder um dieselbe Uhrzeit wie er ins Bett gingen. Es gelang nicht. Er musste sich damit abfinden, dass sie verschwunden waren und nicht hinterherkamen, er musste sich einrichten in einem lebenslangen Jetlag, obwohl er mit dem Zug gekommen war.

Noch immer wundert er sich darüber, dass es ihm gelungen ist, so oft umzusteigen, so viele Länder zu durchqueren, ohne Fahrkarte, ohne die richtigen Papiere und ohne erwischt zu werden. Aber er hat wesentlich Dramatischeres erlebt, an das er sich kaum erinnern kann. So viele Momente, ganze Jahre, die völlig verblasst sind. Jetzt schlägt er manchmal eine Zeitung auf, sieht Fotos von überfüllten Schlauchbooten und denkt: Wie schrecklich! Als hätte es nichts mit ihm zu tun, als hätte ein entfernter Onkel ihm davon berichtet, noch dazu in einem Traum und vor langer Zeit. Er kann die Zeitung wieder zuklappen, sich einen zweiten Kaffee machen und das Bild sofort vergessen, genau wie alle anderen. Erst mit den Füßen auf dem Festland, setzt seine Erinnerung wieder ein. Vielleicht war es gut, den Zug zu nehmen, ein großes Glück, dass er es geschafft hat, unbemerkt so weit in den Norden zu kommen, um dann behaupten zu können: Ich bin geflogen. Hier hat mein Fuß zum ersten Mal eure Erde berührt.

Vielleicht ist es hier besser als dort, wo er in den Zug gestiegen ist. Vielleicht auch nicht. Aber er weiß jetzt: Er hat sich auf der Welt verteilt, und verteilt wird er immer bleiben, selbst wenn er umkehrt und jeden einzelnen Schritt wieder zurückgeht.

Auch die Leute auf der Treppe warten vergeblich auf ihre fehlenden Teile, er sieht es ihnen an. Und doch- auch wenn sie den Frühling nicht bemerkt haben, der Frühling hat sie bemerkt und der Hausmeister findet: das zählt. Sie sind nicht unsichtbar, auch wenn es manche vielleicht gern wären.

Eine Weile steht er unschlüssig im Eingangsbereich. Er soll das Treppenhaus putzen, aber der schlammbeschuhte Menschenstrom reißt nicht ab. Sein alter Wischmop ist der Aufgabe nicht gewachsen. Also geht er nach draußen, in die blassblaue Mittagsluft und wirft einen Blick über die Straße. Dort, in dem kleinen Friseursalon, arbeitet Gisèle. Kurz befühlt er seine graumelierten Haare und stellt bedauernd fest, dass sie diesmal wirklich noch zu kurz sind, um schon wieder einen Termin bei ihr zu vereinbaren.

Alles, was er über sie weiß, hat er sorgfältig poliert und abgespeichert. Mehrmals am Tag holt er die kleinen Wissensstücke heraus und hält sie an die Sonne: Gisèle ist schon viel länger hier als er, aber ihr Weg war noch weiter. Sie ist ein paar Jahre älter, wie viele weiß er nicht. Sie hat eine Tochter, die sie selten sieht, weil sie weit weggegangen ist und das Verschwinden bei manchen Leuten nicht endet. Gisèles Lachen ist tief und dröhnend, es macht mehr Mut, als alles, was er je zuvor gehört hat, obwohl er nicht bestreiten kann, dass es auch immer eine große Menge Spott enthält. Man muss sich zu diesem Lachen verhalten, ignorieren kann man es jedenfalls nicht. Sie lacht oft, während sie arbeitet, als könne sie damit all dem schlaffen Kaukasierhaar zwischen ihren Fingern etwas mehr Leben einhauchen. Gisèle hat eine blinde Katze, eine künstliche Herzklappe und Geheimnisse, auf die sie stolz ist. Sie mag Kaffee, aber nur mit frischem Kardamom und die Farbe Grün, aber nur bestimmte Töne und sie kann sich nicht angewöhnen zu lügen, wenn ihren Kunden etwas wirklich nicht steht (selbst wenn sie daran schuld ist). Sie wohnt weit weg, wo die Wohnungen weniger kosten, aber nicht so weit weg, dass er sie nicht irgendwann einmal besuchen kommen könnte. So oder so ähnlich hat sie es tatsächlich zu ihm gesagt, als er das letzte Mal zum Haareschneiden kam. Soll er sie demnächst an ihre Einladung erinnern? Oder war es gar keine, hat er nur gehört, was er gern hören wollte?

Der Wind ist noch kühl, aber über ihm fliegen die Zugvögel zurück zu den alten Nestern. Er geht um das Rathaus herum, wo es stiller ist, bis er bei jedem Schritt den riesigen Schlüsselbund in seiner Tasche klappern hört. Alle Schlüssel hat er, zu allen Türen, aber es nützt ihm nichts. Er setzt sich auf die morsche Holzbank, die er bald reparieren soll und hält sein Gesicht in die Sonne. In der Bruchweide summen Unmengen von Wildbienen. Die weichen Blütenkätzchen tragen schon jetzt einen gelben Flaum. Da hört er jemanden klopfen, aber es ist kein Specht. Er dreht sich um. Es ist Herr Schrecker, einer der Verwaltungsmitarbeiter, der empört von innen an die Fensterscheibe seines Büros hämmert, weil er bemerkt hat, dass der Hausmeister auf der Bank herumsitzt, und nicht mal so tut, als würde er arbeiten. Wenn er wenigstens rauchen würde. Ohne das Fenster zu öffnen, schneidet Herr Schrecker Grimassen und gestikuliert, bis der Hausmeister aufsteht, eine besänftigende Geste macht und im Geräteschuppen verschwindet. Hier war er seit dem Herbst nicht mehr, weil er diesen Winter kein einziges Mal Schnee schippen musste. Die Luft, die beim Öffnen der Tür ins Freie strömt, hat noch nichts berührt von all dem, was seitdem in der Welt passiert ist. Der Hausmeister bahnt sich mühsam einen schmalen Pfad durch die Gerätschaften, vorbei an zwei Rasenmähern, drei Heckenscheren, durch ein Bataillon von Rechen und Schaufeln und Spaten und Harken und Laubbesen. Ganz hinten, wo er fast nichts mehr sehen kann, stolpert er über einen großen Blumentopf und fällt ungünstig, mitten in die scharfkantigen Werkzeuge. Er flucht ein paar Takte in seiner Muttersprache, die sich längst seltsam anfühlt in seinem Mund, wie ein altes Bonbon, das zu lange auf dem Boden einer Tasche lag und dort von allem Möglichen zerquetscht wurde. Er nimmt den Blumentopf und schleppt ihn nach draußen ans Tageslicht. Genau wie er selbst, hat auch der Topf viele Kratzer abbekommen, aber zersprungen ist er nicht. Zwei Amseln sind in der Bruchweide gelandet und übertönen mit ihrem Gesang das gleichmäßige Brummen der Wildbienen. Der Hausmeister befüllt den Blumentopf mit Wasser, um zu prüfen, ob der feine Riss im Terracotta bedeutet, dass der Topf geklebt oder sogar entsorgt werden muss. Der Topf hält. Der Riss ist nur oberflächlich. Der Hausmeister hat eine Idee. Er findet einen passenden Untersetzer im Schuppen, außerdem ein paar Blumensamen, die er im letzten Jahr nicht ausgesät hat, weil es dafür zu spät gewesen war. Er steckt die kleinen Tüten in seinen Arbeitskittel und schließt die Tür wieder ab. Die Mittagspause hat begonnen. Für eine Stunde sind die Büros geschlossen und die Leute in den Gängen und auf den Treppenstufen, verlassen ihren Platz in der Schlange, um wieder auf dem Hügel telefonieren zu gehen. Die Mitarbeiter haben sich irgendwo verabredet, um zusammen zu essen, aber sie fragen den Hausmeister nie, ob er mitkommen will. Es macht ihm nicht mehr viel aus. Er hört sie den ganzen Tag reden und bezweifelt, dass sie beim Mittagessen plötzlich zu den witzigen Gesprächspartnern werden, die sie in ihren Büros nicht sind.

In den Gängen ist es still, aber etwas hängt in der Luft, ein verhallendes Echo von Angst und Verwirrung. Der Hausmeister beginnt auf dem obersten Treppenabsatz. Sorgfältig kehrt er die Erdklumpen in den großen Blumentopf. Auf der untersten Treppenstufe ist der Topf voll. Er drückt die feuchte, dunkle Erde etwas zusammen und lockert sie dann wieder, bevor er behutsam den zukünftigen Kalifornischen Goldmohn, die Kapuzinerkresse, die Sommeraster und die Kornblumen in ihr versenkt. Er geht durch die Büros, bis er ein kleines Stück hellblaue Pappe findet, die er in die Erde stecken kann. Für Gisèle schreibt er darauf. Es wird ein Blumenstrauß, aber es dauert ein bisschen. Er trägt den Topf über die Straße und stellt ihn vor die Tür des Friseursalons.

Letzte Änderung: 01.08.2025  |  Erstellt am: 31.07.2025

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