Marcella Melien: Zwischenhalt
Es ist eine Stunde her, dass ich ausgestiegen bin, die einzige Gestalt auf dem Bahnsteig und in der Vorhalle, und weitere fünf Stunden hin, bis ich wieder zum Gleis gehen und weiterfahren kann, und ich weiß jetzt schon nicht mehr, wie ich das durchhalten soll. Dass das eine vollkommen dumme Idee war, ist mir von Anfang an klar gewesen, aber ich dachte, ich könnte es durchziehen. Außerdem war es die einzige Verbindung, die ich mir hatte leisten können, natürlich, sonst tut sich das keiner an. Umsteigezeit sechs Stunden vierzehn Minuten, früher hätte ich Mattis ausgelacht, jetzt war es die einzige Möglichkeit zur Flucht. Solche Verbindungen überhaupt in Erwägung zu ziehen, hatte ich von ihm gelernt, er fand immer den günstigsten Weg von einem Ort zum anderen, und früher machten wir uns einen Spaß daraus, da war es abenteuerlich, die nachtleeren und nachtkalten Bahnhöfe und die dunklen, ranzigen Straßen rundherum, die frischen Gesichter der Berufspendler, denen wir morgens unsere durchgemachten entgegenhielten.
Ich habe nur einen Rucksack bei mir, wenig Gepäck, auch das hat Mattis mir beigebracht: keine Gepäckstücke, die zu groß sind, um sie an Clubgarderoben abzugeben, also keine Koffer, und auch nicht mehrere kleinere Taschen, weil du sonst für jede einzeln zahlen musst, besser Weicheres, Formbares, das sich notfalls als Kopfkissen eignet.
Aber allein will ich nicht um die Häuser ziehen, ich fürchte, mich zu verlaufen oder dumm angemacht zu werden, auch auf Tanzen habe ich keine Lust, also versuche ich erst gar nicht, einen Laden zu finden, der am Sonntagabend offen hat. Ich habe kein Bedürfnis, diese Stadt zu erkunden, sie wird nur eine Zwischenstation sein, an die ich später lieber nicht mehr denke.
Es hätte bestimmt schönere Lokale gegeben, weiter in der Innenstadt. Aber die würden irgendwann schließen und dann würde ich doch wieder hier landen, in dieser Eckkneipe am Bahnhof, ein verwinkelter Schuppen in dunklem Holz, mit kaputter Jukebox, goldenen Zapfhähnen und einer Fototapete von der Skyline Manhattans bei Sonnenuntergang, die so alt ist, dass die Twin Towers darauf noch stehen.
Wenn ich einmal die Stunde etwas Neues bestelle, habe ich ausgerechnet, reicht mein Geld. Ich werde immer abwechselnd Kaffee und die billigste Biersorte nehmen, weil ich es nüchtern hier nicht aushalte, weil ich wach bleiben muss. Ich werde keins von den Büchern lesen, die meinen Rucksack schwer machen, sondern trinken und vor mich hinstarren, ab und zu auf dem Handy tippen; ich will nicht auffallen, aber das ist illusorisch. Ich spüre jetzt schon die Blicke auf mir, erinnere mich an andere Bahnhofsviertel, abends mit Mattis. Dort waren die Blicke distanziert geblieben wie hinter Glas, hatten kurz auf mir gelegen, dann noch kürzer auf ihm, und mir war klar, dass da nur keine Rufe, Pfiffe, keine Schritte und Griffe kamen, weil Mattis neben mir ging.
Ich will den Plan verwerfen, aufgeben, mir ein Hotel suchen, so teuer können sie hier in der Gegend nicht sein, will mich quer über das Doppelbett legen und so lange schlafen, bis ich auschecken muss und dann erst einen neuen Zug buchen, aber von welchem Geld.
Vielleicht hat sie mich durch die nikotingelben Spitzengardinen vor den Fenstern gesehen. Als sie hereinkommt, sieht sie aus wie jemand, der an den Tresen gehen könnte, etwas Hochprozentiges bestellen, es im Stehen kippen, einen Schein hinlegen und hinausrauschen, alles so schnell, dass sich niemand sicher ist, ob sie wirklich da war, nicht mal der Wirt, der das leere Glas in die Spüle und den Schein in die Tasche packt. Aber sie bestellt nichts, sie kommt zu mir herüber, als wären wir verabredet, und sie zu spät. Ihr schwarzer Wollmantel, die hochgesteckten Haare, Perlenohrringe und Lederhandschuhe scheinen gerade aus der Oper zu kommen oder von einer Trauerfeier.
Darf ich, fragt sie, während sie schon fast sitzt, neben mir auf der Eckbank. Oder willst du allein sein?
Vor zwei Stunden, im Zug, hätte ich gesagt, ja, auf jeden Fall. Da wäre es mir lieb gewesen, die einzige Person im ganzen Waggon zu sein, um irgendetwas tun zu können, was man nicht tun kann, wenn andere Leute da sind, wie schreien, laut fluchen oder sich der Länge nach auf dem Mittelgang ausstrecken. Aber hier, in dieser Bahnhofsviertelbar, ist es vollkommen in Ordnung, dass sie da ist. Schon deshalb, weil eine einzelne Frau immer mehr angestarrt wird als eine Frau in Begleitung, zumal sie vom Alter her meine Mutter sein könnte.
Wahrscheinlich geht es ihr ähnlich, sie will einfach nur dasitzen, etwas trinken und in Ruhe gelassen werden, denke ich. Ich schaue also eine Weile lang höflich auf die braunen Ränder in meiner leeren Kaffeetasse, aber als ich irgendwann aufsehe, treffe ich sofort ihre Augen, die mich scheinbar schon eine Weile lang mustern; nicht aufdringlich, aber interessiert.
Du siehst aus wie jemand, der von Zuhause weggelaufen ist, sagt sie und ich frage mich, ob sie mich wirklich für so jung hält oder es im übertragenen Sinne meint.
Ich sage, dass ich mich ausgesperrt hätte und dass der Schlüsseldienst am Sonntag um diese Zeit unbezahlbar sei, dass ich deshalb lieber bis morgen warte.
Ich hoffe, dass sie nicht fragen wird, wo ich denn wohne und ob ich sonst niemanden in der Stadt kenne, bei dem ich unterkommen kann für eine Nacht, aber das tut sie nicht, sie fragt nur, ob ich den Scheckkartentrick schon probiert hätte, und ich nicke dankbar und sage ja, aber das hat mit meiner Tür nicht funktioniert, sie ist zu neu und zu sicher.
Du siehst müde aus, sagt sie, ich nicke. Mein ganzer Plan, den ich so oft vor mich hin gesagt habe, erscheint mir nicht mehr nur unmöglich, sondern auch sinnlos.
Hier kannst du jedenfalls nicht die ganze Nacht bleiben, sagt sie, und das habe ich mittlerweile auch eingesehen.
Während ich neben ihr herlaufe, versuche ich, mir die Strecke zu merken, um allein wieder zurückzufinden. Mit Mattis war mir das zu oft passiert, dass ich ihm einfach nachlief und keinen Schimmer mehr hatte, wo ich war, wenn wir den Club oder die Bar erreicht hatten, manchmal war er dann plötzlich verschwunden und ich orientierungslos. Es kommt mir vor, als seien die Wege, die sie einschlägt, unnötig kompliziert, als gingen wir Schlangenlinien durch die Stadt, aber ich sage nichts. Die Riemen meines Rucksacks schneiden mir in die Schultern.
Wir bleiben vor einem Altbau mit renovierter Fassade stehen. Sie nickt mit dem Kopf zur anderen Straßenseite, wo in einem Kioskfenster noch das OPEN-Schild rot und blau blinkt.
Holst du uns noch einen Wein, fragt sie, rot, trocken und französisch, und weil sie ihr Portemonnaie in der Hand hält, denke ich, sie will mir einen Schein dafür geben, wie eine Mutter, die ihr Kind zum Brötchenholen schickt, aber das tut sie nicht.
Hier klingeln, sagt sie und zeigt auf eins der Schilder, ich geh schon mal hoch.
Vor dem Weinregal im Kiosk denke ich, dass ein Gastgeschenk angebracht ist, auch wenn es sich nur um einen Discounterwein mit ordentlichem Preisaufschlag handelt. Auf dem Klingelschild stehen zwei Namen, sie hat nicht erwähnt, dass sie mit jemandem zusammenwohnt, eigentlich hat sie gar nichts über sich gesagt, mir ist es gleichgültig. Ich denke, dass ich mir die Namen merken sollte, vergesse sie aber sofort. Ihre Wohnung liegt im dritten Stock, oben Stuckdecken und Kronleuchter, unten kühles, minimalistisches Design. Sie ist in der Küche, zwei Gläser mit Kristallschliff stehen schon bereit, sie zieht Schubladen auf und knallt sie zu, auf der Suche nach einem Korkenzieher, vermute ich.
Schöne Gläser, sage ich.
Sie hält inne, betrachtet die Gläser und sagt langsam: Ja, nicht wahr.
Ich stelle den Wein auf die Arbeitsfläche, die aussieht, als sei darauf noch nie etwas zubereitet worden.
Geh doch schon mal ins Wohnzimmer, sagt sie, aber nicht, hinter welcher Tür es liegt, deshalb öffne ich die zum Schlafzimmer – Doppelbett und Schrankwand –, die zum Arbeitszimmer – nur ein Schreibtisch mitten im Raum –, und die zum Bad – eine Wanne auf vier Löwenpfoten. Im Wohnzimmer stehen ein weißes Ledersofa und zwei Bauhaussessel. Ich setze mich in eine Ecke des Sofas. Sie stellt den Wein auf die Glastischplatte, geht noch ein paar Runden durch das Zimmer, als müsse sie die Kunstdrucke an den Wänden, die Schallplatten und Bücher in dem schmalen Regal auf Vollständigkeit prüfen.
Wir stoßen an, ich weiß nicht auf was. Der Wein ist schwer und samtig, es wird langsam warm, nachdem sie die Heizung aufgedreht hat, das Rauschen in den Leitungen das einzige Geräusch in der Stille, ich bin in Sicherheit, bei einer Person, die nichts fragt, mich nicht nach Mattis fragen kann, nichts von ihm weiß. Ich werde hierbleiben können, bis es draußen hell wird, zum Bahnhof zurückgehen und meinen Zug nehmen. Auf dem Gehsteig vor der Kneipe lägen dann Zigarettenstummel und vielleicht eine Pfütze Erbrochenes. Ich könnte Kaffee und ein Croissant beim Bahnhofsbäcker kaufen, den Berufspendlern fest ins Gesicht schauen, als wollte ich sagen: Es gibt noch gute Menschen, einem davon bin ich begegnet.
Sie sitzt am anderen Ende des Sofas, den Ellenbogen auf der Lehne, den Kopf mit der Faust abgestützt. Mit dem Lidstrich und dem festsitzenden, glänzend schwarzen Haarknoten erinnert sie mich an die Frauen, die Gaugin auf Tahiti gemalt hat, nur ohne die leuchtenden Farben. Der Duft eines schweren Parfums geht von ihr aus. Ich finde sie sehr schön, und erstmals denke ich das über eine Frau, ohne sie sofort mit mir zu vergleichen.
Sie trinkt schnell und ich versuche, mitzuhalten, obwohl mir der Wein heute Abend ungewöhnlich schnell zu Kopf steigt. Einmal, als sie mir das Glas sehr großzügig nachfüllt, verschütte ich einen Tropfen auf das Lederpolster, stelle das Glas hastig ab und suche ein Taschentuch, frage sie, ob sie Salz in der Küche hat, entschuldige mich hundertmal und denke, dass sie mich gleich rausschmeißen wird, aber sie sagt ruhig: Lass nur, lass. Mach dir darum keine Sorgen.
Irgendwann steht sie auf, kommt mit einer weiteren Flasche Wein zurück, die wesentlich teurer aussieht als die vom Kiosk.
War wohl doch noch eine da, murmelt sie.
Das Zimmer hat sich aufgeheizt, ich schwitze, ich überlege, zur Toilette zu gehen und dort das Fenster zu öffnen, mein Gesicht in die Nachtluft zu halten, etwas Leitungswasser zu trinken oder gleich die Löwenpfotenwanne mit kaltem Wasser zu füllen und mich hineinzulegen. Aber mein Körper ist zu schwer und müde, also bleibe ich sitzen, sacke immer weiter ins Polster, alles ist warm und weich und wird immer wärmer und weicher, bis das Zimmer und ich unsere Konturen verlieren und auseinanderfließen, und dann schwarz.
Ich liege, und diese Position ist gut, ist das Einzige, das mein Kopf verträgt, das merke ich, als ich ihn leicht anhebe, um zu schauen. Er sinkt zurück auf das Kissen. Meine Zunge ist trocken und geschwollen. Unter mir ist nicht mehr kühles Leder, sondern weißes Laken. Um mich herum Dunkelheit, nur schmale Lichtstreifen in den Ritzen der Rollläden, unmöglich zu sagen, ob sie von Straßenlaternen oder Tageslicht stammen. Ich versuche, die Ziffern eines Digitalweckers auf dem Nachttisch zu erkennen, aber sie verschwimmen immer wieder vor meinen Augen. Über mir eine knisternde Daunendecke, an meinem Körper nur noch meine Unterwäsche und Strumpfhose. Neben mir regelmäßiges, tiefes Atmen, ich wage nicht, die Hand danach auszustrecken.
Mir fällt ein, dass ich einen Zug erwischen muss. Wann fährt mein Zug? Das ist es. Ich habe oft wirre Träume in den Nächten vor Ereignissen, die ich nicht verschlafen darf. Das muss es sein. Aber ich kann nicht aufwachen. Ich bin wach. Was hat mich geweckt? Ein längerer Lichtstreifen scheint jetzt auf, im Spalt unter der Tür zum Flur. Ich höre Stimmen, wie von fern, aber aufgebracht, ganz sicher eine tiefe, männliche, vielleicht noch eine Frauenstimme dazu, noch weiter weg oder leiser.
Etwas ist nicht in Ordnung, etwas ist fremd, aber noch ist es dunkel, noch ist es warm und neben mir atmet es ruhig, gut möglich, dass es in den nächsten Augenblicken ganz anders sein wird, aber ich bin mir sicher, dass das alles im Grunde mit mir nichts zu tun hat, und ich drücke mein Gesicht ins Kissen, atme den süßen, schweren Duft ein und presse die Augen zu.
Letzte Änderung: 01.08.2025 | Erstellt am: 31.07.2025
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