Laura Kind: Flugmodus

Laura Kind: Flugmodus

RSP 2025 Longlist

Ich drücke nacheinander den Daumen und die vier Finger meiner rechten Hand auf den Scanner. Das Gerät leuchtet rot. Der Blick des Grenzbeamten liegt als Kribbeln auf meiner Kopfhaut. Rot kann nicht gut sein. Ich spüre, wie sich die Falte zwischen meinen Augenbrauen vertieft, denke an meine Mutter, die sagt, ich sähe böse aus, mit dieser Falte zwischen den Brauen, und zwinge mich dazu, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen. „Again, please.“ Ich sehe in das ausdruckslose Gesicht des Grenzbeamten. Nein, nicht so, ich müsse das Handgelenk runterdrücken. „Sorry.“ Das Zittern in den wenigen Silben muss er auch gehört haben. Ich räuspere mich. Der Beamte blättert in meinem Pass. „Tourism.“ „At my sister’s place.“ „No, she’s working for a German company here.“ „Only for three weeks”, beantworte ich die Fragen. „Yes, kind of spontaneously.“ Mein Herz schlägt im Hals, drückt sich gegen die verengte Luftröhre, erschwert mir das Atmen. Ich zucke zusammen, als der Beamte meinen Reisepass zusammenklappt. „Welcome to the United States of America, Miss.“ Ich versuche mir die Erleichterung nicht anmerken zu lassen – nicht, dass er es sich noch anders überlegt – schaffe ein „Thanks” ohne Zittern in der Stimme und folge den Schildern in Richtung der Gepäckbänder. Auf dem Rollband kann ich mich festhalten und konzentriere mich auf meinen Atem, so lange bis er ruhiger wird. Rechts von mir ziehen Werbeplakate vorbei, die mich in den USA begrüßen, für einen Helikopterflug werben, und mir einen Diätplan vorschlagen. Ich hole mein Handy aus dem Rucksack, zögere kurz, atme noch einmal lange aus, und schalte das Handy an. Die Zahl neben dem Briefsymbol wird erst ein- dann zweistellig. Schnell tippe ich eine Nachricht an Leonie: „Ich bin gut gelandet, komme jetzt zu dir“. Dann stelle ich das Handy rasch wieder auf Flugmodus und stecke es zurück in die Tasche. Hinter den abgetönten Fensterscheiben liegt der wolkenlose Nachmittagshimmel wie hinter einem Fernsehbildschirm. – Ich spüre weder Sonne noch Wärme, sondern nur die Idee davon. Die Müdigkeit beschwert meinen Körper, meinen Kopf, und erinnert mich an schlaflose Nächte. In Deutschland ist es jetzt spätabends. Zuhause liegt Christian bestimmt schon im Bett, neben sich die leere Bettseite, die mir gehört. Ob meine Bettwäsche noch bezogen ist? Als ich an die Gepäckbänder komme, läuft mir kühle Luft den Rücken hinunter und umspült meine Beine, die für einen Augenblick leichter werden.

An der Station kaufe ich ein Wochenticket für die Subway für eine Person. Ein Gedanke pocht mit der Hitze in meinen Schläfen: Vor ein paar Monaten noch habe ich mit Christian hier gestanden und ich weiß nicht, ob ich das jemals wieder tun werde. Ich will nach meinem Handy greifen. Meine Finger berühren das glatte Display und ich zucke zurück. Nein, ich brauche kein Google Maps. Am Washington Square Park steige ich aus. Auf der Straße riecht es nach frisch gebackenen Cookies, Frittenfett, Abgasen, Großstadt, – und Freiheit, füge ich in einem pathetischen Moment gedanklich hinzu und muss über mich selbst lachen. Es war eine gute Idee nach New York zu fliegen. Ein Polizeiauto hält neben mir an, zwei Uniformierte steigen aus und sehen sich suchend um. Mein Atem und meine Beine, die gerade loslaufen wollten, kommen ins Stocken. Einer der Polizisten streift mich mit seinem Blick. Er geht in meine Richtung, sein Kollege dicht hinter ihm. Gleich haben sie mich erreicht. Ich will loslaufen, doch mein Körper reagiert auf keinen meiner Gedanken bis auf den Einen „Jetzt wissen sie es.“, jede Silbe ein Herzschlag. Die Polizisten gehen an mir vorbei und betreten einen Burgerladen. „What will you take?“, höre ich einen von ihnen noch sagen, dann, endlos verzögert, gehorchen mir meine Beine, und laufen los.

Der Doorman begrüßt mich, als würde er mich wirklich wiedererkennen und nicht nur so tun, und schickt mich in den fünften Stock. Meine Schwester steht mit ihrem Pudel Alf unter dem Arm im Türrahmen und lässt ihn fallen, damit sie mich begrüßen kann. Der Hund quiekt, ich ringe nach Luft, als Leonie mich aus ihrer Umarmung wieder loslässt. „Hey.“ „Hey.“ „Wie geht es dir?“ Ich zucke mit den Schultern und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen, das ich nicht lange durchhalten kann. „Geht so.“ Beim Reden schaue ich ihr auf die Nasenspitze. Ich habe mal gelesen, dass es für andere dann so aussieht, als sehe man ihnen in die Augen. Der Hund springt an mir hoch und ich beuge mich zu ihm herunter, um ihm über den Kopf zu streicheln, was er sich zum Glück gefallen lässt. Leonie hat Alf von einem Tierschutzverein, der verwahrloste Hunde aus Rumänien nach Deutschland vermittelt. Alf hat einige Hundetrainer bereits in die Flucht geschlagen, bis er sich irgendwann an Menschen gewöhnt hat und keine Katzen mehr jagen wollte. Da stand sein Name aber schon fest. „Komm erstmal rein.“ Leonie nimmt mir den kleinen Koffer aus der Hand und stellt ihn ins Gästezimmer, in dem Christian und ich das letzte Mal geschlafen haben. Ich lasse mich aufs Bett fallen. „Jetlag, hm?“ Ich gebe einen Laut von mir, den Leonie als Zustimmung deutet. „Ruh dich erstmal aus. Und dann erzähl mir, was mit Christian passiert ist, okay?“ Ich nicke, „Danke“, ich schließe die Augen und Leonie schließt die Tür. Doch trotz der Müdigkeit kann ich wieder einmal nicht einschlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen zumache, wird derselbe Film an die Leinwand meiner Augenlider projiziert. Eine Glastür, die sich öffnet, ein enger Raum, ein paar Schuhe, die Tür, die sich wieder schließt. Das, was ich nicht gesehen habe, sehe ich seit ein paar Wochen jede Nacht.

Nach einer halben Stunde stehe ich auf. Leonie stützt sich im Flur an der Wand ab und hüpft auf der Stelle, als sie versucht ihren rechten Schuh anzuziehen. „Ich muss kurz los. Aber wir sehen uns nachher zum Dinner, okay?“ „Okay.“ „Wenn du was brauchst, schreib mir einfach.“ „Ich habe mein Handy aus.“ Leonies Augenbrauen verschwinden unter ihrem Pony. „Digital Detox.“ Es ist das Erste, was mir einfällt. „Alright. Etwas unpraktisch, aber soll ja gesund sein.“ Leonie nimmt ihren Schlüssel von dem Haken an der Wand. „Dann bis später. Ich bin in vier Stunden wieder da. Der Zweitschlüssel liegt auf dem Küchentisch.“ Ich nicke.

Draußen vor dem Gebäude bleibe ich stehen und blicke mich nach allen Seiten um. Meine Beine gehen in Richtung Subway. Q Line Uptown. Auf dem Bildschirm über der Tür in der U-Bahn flimmert wieder diese Diätplan-Werbung. Es folgen Anzeigen für eine Dating App und einen Achtsamkeits-Kurs. Christian würde das jetzt ironisch finden. Ich lasse den Blick schweifen und versuche dabei niemandem ins Gesicht zu sehen. Die meisten schauen eh auf ihr Handy, sehen ein Video mit Lautsprecher an, so dass sich Rap mit Stimmen in Sprachen, die ich nicht verstehe, und Motorengeräuschen vermischt. Eine junge Frau zeigt ihrer Freundin etwas auf ihrem Handy. Deutsche Touristinnen. „Krass oder?“ Ich fange ihren Blick auf, als sie aufsieht, mir direkt ins Gesicht sieht, als würde sie mich erkennen. Mein Gesicht wird heiß. Das Video auf Instagram, verpixelte Bilder aus einer Bankfiliale: Eine Person am Boden, der Hinterkopf einer Frau, ihr Haar wie meines. Dann ein Text mit der Bitte sich zu melden, wenn man die Frau mit meinen Haaren wiedererkennt. Die Touristinnen lachen. „Richtig cool, oder?“ „Total.“ Ich spüre, wie die Hitze langsam abkühlt, mein Herzschlag sich beruhigt. Als ich aus der Subway aussteige, spüre ich immer noch die Röte in meinen Wangen.

Im Museum laufe ich durch die Gänge, lasse die Bilder an mir vorüberziehen, kann Kokoschka und Nolde nicht ertragen, und bleibe bei Pollock hängen. Im Museums-Café kaufe ich einen Brownie, von dem mir nach einem Bissen schlecht wird. Ich frage eine Frau am Nebentisch nach der Uhrzeit, es ist früh, aber nicht absurd früh, stehe auf und fahre zurück zu Leonies Wohnung.

Wir laufen zum Restaurant, das nur ein paar Straßen weiter von der Wohnung entfernt liegt. Leonie trägt ein schwarzes Kleid und hohe Schuhe, die ich nicht von ihr kenne. Sie läuft sehr sicher darin. Ich bin ihr dankbar dafür, dass sie nicht nachbohrt, nicht wissen will, warum ich hier bin. Sie macht sich eh ihre eigenen Gedanken dazu: Trennung von Christian, warum, wahrscheinlich Alltagsprobleme, nichts, was man nicht in den Griff bekäme. Und so lange wäre ich bei ihr, um auf andere Gedanken zu kommen und um zu merken, wie wichtig er mir ist. Als ob ich das nicht auch so wüsste. Am Eingang des Restaurants hat sich eine Schlange gebildet. Leonie sagt unseren Namen mit einem tiefen amerikanischen Akzent, was fremd und irgendwie affektiert klingt. Das Essen ist mittelmäßig und teuer. Ich kann nicht viel essen, trinke zu viel, was ich daran merke, dass ich kurz davor bin, ihr die Wahrheit zu sagen. Leonie sagt etwas in der Art, dass Schwestern immer füreinander da seien, und da wäre es fast passiert. Die Worte flirren in meinem Kopf herum als hätten sie Kolibriflügel, wären mir fast entflogen, doch zum Glück kommt der Kellner und legt die Rechnung auf den Tisch.

Am nächsten Morgen besprenkelt das Sonnenlicht die ausrangierte Bettdecke, die Leonie noch von Mama hat. Ich schließe wieder die Augen. Schatten und Licht flackern über meine geschlossenen Lider im selben Rhythmus wie das Blätterrascheln, draußen vor dem geöffneten Fenster. Für einen kurzen Moment ist da nur Leere im Kopf. Dann übertönt eine Sirene das Blätterrascheln, ein Krankenwagen, oder eine Polizeisirene, und alles ist wieder da.

Mittags streife ich allein durch die Straßen und betrachte die Gebäude, die ich aus so vielen Filmen bereits in und auswendig kenne. Stahlträger verweben sich zu grafischen Mustern, spiegeln sich in blankpolierten Glasfenstern. Ich lasse mich auf eine fallen und beobachte die Skater und Touristen, die den Washington Square Park besiedeln, während ich auf Leonie warte. „Please.“ Ist das ein Rufen? Am Boden liegt ein Mann, die Arme und Beine von sich gestreckt, das Haar medusenhaft um sich geschlängelt. Die Touristen um ihn herum scheinen den Mann nicht wahrzunehmen. Ein Skater weicht ihm aus und fährt eine Kurve um ihn herum. Ich denke an die vielen Drogensüchtigen, die den Park bevölkern, daran, dass niemand ihm Beachtung schenkt, das hieße doch, dass es ihm gutgeht, dass er keine Hilfe braucht oder will? Aber was, wenn nicht? Ich gehe auf den Mann zu, dessen Augen weit geöffnet in den Himmel schauen und niemanden erfassen. Sonnenlicht verfängt sich in seinem Haar. Er hebt die Arme und zieht so fest daran, dass er büschelweise Haar in den Händen halten müsste. „Alex! Was machst du da?!“ Ich höre die Stimme meiner Schwester, spüre, wie sich eine Hand um meinen Arm schließt, doch ich sehe Leonie nicht. Da ist nur der kleine Vorraum bei den Geldautomaten, die Tür, die sich öffnet, jemand, der hastig rausgeht, ein Mann, den Kopf gesenkt. Ich drücke die Tür auf, sie ist schwer, ich sehe dort jemand liegen, einen Mann, die Arme weit von sich gestreckt, der Geruch nach Schweiß liegt beißend in meiner Nase, meine Beine bewegen sich ohne mein Zutun. Die Tür geht wieder zu. Ich sehe die Meldungen in Social Media, da ist ein Video von einer Frau mit meinen Haaren, von Menschen, die über einen Mann steigen, unmenschlich, sagen die Kommentare, der alte Mann brauchte Hilfe, die Lügen, die ich Christian erzählen musste, damit ich ihm das andere verschweigen konnte, nein, ich habe nichts gesehen. Die Luft wird knapp, meine Luftröhre ist ein Strohhalm. Dunkle Punkte beflecken mein Sichtbild. Als ich die Augen öffne, ist der Mann auf dem Boden nicht mehr dort, stattdessen schaue ich auf ein paar Pumps, Sneakers und ein Paar Schnürschuhe, die ich wiedererkenne. Leonie hält mir eine Flasche Wasser hin. Ich greife danach und nehme einen Schluck. Ich sage zu den Pumps und den Sneakers. „I’m okay“, und nicke noch einmal, damit sie weitergehen. „Sicher?“ Leonie gibt mir einen Müsliriegel, von dem ich mechanisch ein Stück abbeiße. „Ja.“ „Komm, wir bleiben noch etwas hier sitzen.“ Leonie lehnt den Kopf zurück und blickt in den Himmel. „Was ist los, Alex?“ Ich nehme noch einen Schluck Wasser und sehe Leonie an. Ich setze an, stocke, setze wieder an, sage „Ich muss Christian anrufen.“

Letzte Änderung: 01.08.2025  |  Erstellt am: 31.07.2025

divider

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Teilen Sie ihn mit Ihren Freund:innen:

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen