Katharina Bendixen: Und was hast du mit elf Jahren gemacht?
Ich fiel, weil ich beschlossen hatte zu fallen. Gerade hatte ich noch gesehen, wie die Kassiererin die Milch über den Scanner zog – piep! –, bei den Nudeln – piep! – hatte ich meinen Beschluss gefasst, beim Lachs hatte ich meinen Einkaufswagen weggeschoben, bei der Sahne war ich gefallen. Nun lag ich auf den kalten Fliesen, halb auf der Seite, es war unbequem, aber wenn ich nicht durchschaut werden wollte, durfte ich mich nicht mehr bewegen. Die Lautsprecher spielten ein Lied, und über mir zog die Kassiererin – piep! piep! piep! – weiter meine Einkäufe über das Band. Dann hörte das Piepen auf, und die Aufregung begann.
„Hallo? Hören Sie mich?“ Das kam von der Kasse. „Können Sie aufstehen?“ Das Klicken bedeutete wahrscheinlich, dass die Kassiererin ihren Verschlag geöffnet hatte. Es ratterte, als sie meinen Einkaufswagen aus dem Weg schob, und das Quietschen ihrer Gummischuhe stoppte vor meinem Gesicht. „Was mache ich denn jetzt?“
„Atmet sie noch?“, fragte jemand. „Blutet sie?“
„Das ist doch sicher eine Masche!“ Das kam von einer älteren Frau. „Was, wenn ihr Komplize die Regale leerräumt?“
Dieser Verdacht brachte auch die anderen Kunden zum Reden, jemand schimpfte auf dieses Misstrauen, jemand schimpfte auf die anderen Kassen, die weiterhin ungerührt piepten. Jemand nahm einen Anruf an, jemand musste in zehn Minuten mit zehn Smarties-Rollen im Kindergarten sein, jemand stand im Parkverbot und wollte einfach vorbei, und für mich war es zu spät, um wieder aufzustehen, oder sollte ich jetzt umständlich zu Bewusstsein kommen und erklären, was mir gerade passiert war, aber was sollte die Erklärung sein?
„Könnte irgendwer einen Notarzt rufen?“ Die Stimme der Kassiererin klang panisch. „Warum tut denn niemand was?“
Das Lied brach ab, und aus dem Lautsprecher kam die geschmeidige Stimme, die sonst Dinge sagte wie: „Frau Sperber, bitte Kasse zwei!“, und die jetzt genauso geschmeidig fragte: „Ist zufällig ein Arzt in der Filiale? Wir haben einen Notfall an Kasse zwei.“
Ich spürte, wie mir etwas Weiches unter den Kopf geschoben wurde, ein Pulli vielleicht oder eine Fleecejacke. Jetzt lag ich noch unbequemer, und die Fliesen waren wirklich sehr kalt, aber wenn ich meine Einkäufe nicht einpacken, wenn ich nicht loslaufen wollte, die Straßen entlang, durch die Haustür und dann die Treppen nach oben, wenn ich die Lebensmittel nicht in meiner Wohnung verräumen wollte, die Milch und die Sahne im Kühlschrank, den Lachs im Froster, die Nudeln im Regal, dann musste ich hier liegen, still wie ein Stein, musste mich konzentrieren, vielleicht auf die rötlichen Schlieren in meinen geschlossenen Lidern.
„Ich bin Krankenschwester“, sagte eine Stimme. „Lassen Sie mich durch?“
Das Rad eines Einkaufswagens traf mich am Kopf, auch dabei verzog ich keine Miene.
„Passen Sie doch auf!“, schimpfte die Krankenschwester. Ihrer Stimme nach zu urteilen, schien sie in meinem Alter zu sein. Die Schlieren verdunkelten sich, als sie sich über mich beugte. „Wer hat ihr die Jacke unter den Kopf geschoben? Wollen Sie sie umbringen?“
Ich spürte, wie die Jacke entfernt und mein Kopf sanft abgelegt wurde. Dann umschloss eine Hand meinen rechten Arm und eine zweite Hand meinen rechten Oberschenkel, mit einem Ruck zogen mich die zwei Hände auf die linke Seite, überstreckten beherzt meinen Kopf und deckten mich mit der Fleecejacke zu. Es waren warme Hände, weiche Hände, es waren Hände, die mich beinahe dazu brachten, die Augen zu öffnen.
„Bitte wechseln Sie an Kasse eins oder drei.“ Wieder kam die geschmeidige Stimme aus den Lautsprechern, und danach schloss sich die Computerstimme an: „Liebe Kunden, wir öffnen Kasse vier für Sie.“
Die Aufregung hatte sich gelegt, schon wurde die Welt um mich herum neu organisiert. Immerhin war irgendwer taktvoll genug, um die Musik noch nicht wieder anzustellen. Nur hinter mir spürte ich missmutige, ruppige Bewegungen, bestimmt stapelte die ältere Frau ihre Lebensmittel hektisch vom Band zurück in ihren Einkaufswagen, um die erste an Kasse vier zu sein.
„Wasser ist ein Menschenrecht!“, rief ein Kunde vorn an den Schiebetüren. „Eine Flasche Wasser darf man niemandem verwehren!“
Dass die Leute sich meinetwegen stritten, war mir unangenehm, und gleichzeitig genoss ich es, die Schuldige zu sein. Und nicht nur daran war ich schuldig, schon war der grelle Klang des Martinshorn zu hören, dieser Krankenwagen wurde vielleicht anderswo gebraucht, aber jetzt war er meinetwegen hier.
Schnelle Schritte kamen auf mich zu.
„Hallo!“, schrien mir die Sanitäter ins Gesicht. „Hallo, hören Sie mich?“
Sie prüften meine Atmung, fühlten meinen Puls, den Schlag meines Herzens, sie leuchteten mir grell in die Augen. Vielleicht durchschauten sie mich bereits, oder sie nahmen mein Schauspiel einfach hin, vielleicht kümmerten sie sich immer wieder um Menschen, die in Wirklichkeit gesund waren, oder galt das, was ich hier tat, als Krankheit?
„Wir fassen Sie jetzt unter den Schultern“, sagten die Sanitäter. „Wir legen Sie jetzt auf die Trage. Wir schnallen Sie jetzt fest. Wir heben die Trage jetzt an.“
Die Schlieren in meinen Lidern hellten sich auf, als die Sanitäter mich durch den Supermarkt schoben, sie wurden rot, rot wie Blut, und über mir ging die Musik wieder an. Es war so erschreckend leicht, auf dieser Trage zu liegen und die Augen geschlossen zu halten, leichter als alles, was ich stattdessen hätte tun müssen, durch die Straßen, in die Wohnung, dort sitzen, dort warten, dort kochen, es war leichter als alles, was ich sonst Tag für Tag tat, aufstehen, duschen, anziehen, essen, Büro, und danach das umgedrehte Programm, essen, ausziehen, duschen, hinlegen. Nur am Rande nahm ich wahr, dass nicht zwei, sondern drei Personen meine Rolltrage zu begleiten schienen, aber vielleicht waren das auch die Schritte der Kunden, die in den Supermarkt eilten oder vom Supermarkt zu ihrem Auto, erleichtert darüber, dass dieser Notfall ihre Wege endlich nicht mehr blockierte.
„Und Sie?“, hörte ich einen Sanitäter fragen, also hatte ich mich doch nicht geirrt. „Wer sind Sie?“
„Ich bin die Zeugin.“ Das war die Stimme der Krankenschwester, sie klang älter als vorhin, oder es war Unsicherheit, die jetzt in ihrer Stimme lag, denn was sollte das überhaupt heißen: Zeugin? Es war schließlich kein Verbrechen geschehen, sondern nur ein Unglück, wie es jeden Tag geschah; so war das Leben, oder nein, so war der Tod, so konnte er jedenfalls kommen.
„Zeugin?“, fragte der Sanitäter. „Was meinen Sie mit Zeugin?“
„Ich würde gern mitfahren“, sagte die Krankenschwester.
„Sie kennen diese Frau?“
„Na ja –“ Die Krankenschwester brach ab.
„Hat sie irgendwelche Krankheiten?“, fragte der Sanitäter. „Allergien? Unverträglichkeiten? Haben Sie einen Verdacht, warum sie bewusstlos ist?“
„So gut kenne ich sie nicht.“
„Was quatscht ihr da?“, sagte der andere Sanitäter. „Können wir?“
Der Krankenwagen setzte sich ohne Blaulicht in Bewegung, und mit der Angst, längst durchschaut worden zu sein, wuchs mein Ehrgeiz, meinen Zustand so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, die Fragen so lange wie möglich hinauszuzögern, dieses kleine Spiel bis zu seinem Ende zu spielen. Noch nie war ich im Liegen durch die Stadt gefahren, meine Hände waren mit einem Gurt fixiert, meine Füße aber wackelten in den Kurven und bei jedem Beschleunigen, jedem Bremsen. Es war ungewohnt, aber nicht unangenehm, ich ließ meine Füße los, so gut es ging, und betrachtete wieder die Bilder in meinen Lidern. Es waren jetzt Spiralen, bunte Spiralen, schöne Spiralen, mit jeder Kurve wurden sie schöner, und noch schöner waren die warmen Finger, die – erst zögerlich, dann plötzlich sehr sicher – meine Hand umschlossen.
Als der Krankenwagen stoppte, verlor ich diese Finger, und auf dem Weg ins Krankenhaus änderten die Spiralen in meinen Lidern wieder die Farbe, sie wurden rosa, dunkelrot, lila. Ich meinte zu hören, wie die Krankenschwester und die Pfleger ein paar Worte wechselten, ging es um mich? Eine Tür öffnete sich, ich wurde wieder angehoben und auf einer Liege abgelegt, denn ich atmete, mein Puls war ruhig, um mich konnte man sich noch kümmern, wenn man die echten Notfälle zusammengeflickt hatte.
Die Krankenschwester griff wieder nach meiner Hand.
„Du bist nicht bewusstlos“, sagte sie.
Ich hätte ihr gern zugestimmt, hätte gern gewusst, wie sie aussah und wer sie war, aber ich wollte nicht aufstehen, ich wollte nicht zurück in den Supermarkt.
„Du bist nur umgefallen“, sagte die Krankenschwester. „Du hast dich fallen lassen. Weil du nicht mehr kannst? Oder weil du nicht mehr willst? Oder hat dein Geld nicht gereicht?“
Ich ließ die Augen immer noch geschlossen, denn ich wusste keine Antwort. Dabei wusste ich sonst alles, ich wusste, dass mein Geld gereicht hätte, und ich wusste, dass ich zweimal pro Woche acht Kilometer rennen konnte, und ich wusste, dass es nicht gut war, wenn ich mein Spiegelbild zu lange betrachtete, denn es konnte sein, dass mein Gesicht aufriss.
„Ich habe gerade echt wenig Geld“, sagte die Krankenschwester. „Deshalb habe ich die Gunst der Stunde genutzt und ein paar Lebensmittel mitgehen lassen, zum Beispiel diese sündhaft teuren Pralinen. Wir könnten sie uns teilen, dafür müsstest du aber mal die Augen aufmachen. Oder magst du keine Pralinen?“
In diesem Riss konnte eine Wunde zum Vorschein kommen oder etwas, was so hässlich war, dass ich keinesfalls sehen wollte, denn offenbar reichte es nicht zu wissen, dass die Sonne morgens auf- und abends unterging und dass ich mir, wenn sie eines Tages doch nicht mehr aufging, eine Tageslichtlampe und die richtigen Kräuter kaufen konnte, und vielleicht konnte ich nicht mehr lange hier liegen, denn diese Liege war längst nicht so bequem wie die Rolltrage.
„Weißt du“, sagte die Krankenschwester, „es ist seltsam, dass ich jetzt wieder hier bin. Ich habe hier meine Ausbildung gemacht, und die Schwestern waren unheimlich nett. Anfangs habe ich sie gefragt, ob wir nach der Schicht noch ein Bier trinken oder gemeinsam einen Sportkurs besuchen wollen. Ein andermal, haben sie immer gesagt, und ich habe viel zu spät verstanden, dass es dieses andermal nicht geben wird. In der Praxis, in der ich jetzt bin, gehen die anderen auch abends ihrer Wege, aber immerhin habe ich es dort nicht probiert.“ Die Krankenschwester verstummte kurz. „Ich habe sofort gesehen, dass du simulierst. Schon als du umgefallen bist, war mir das klar. Wobei simulieren der falsche Ausdruck ist, du hast ja etwas. Aber ich glaube, ich gehe jetzt. Falls hier irgendwann ein Arzt auftaucht, hast du zwei Möglichkeiten: Wenn du nach Hause willst, dann sag einfach, dass du schon immer diesen niedrigen Blutdruck hast, okay? Und wenn du hierbleiben willst, dann musst du behaupten, dass du in letzter Zeit ständig umfällst. Sag, dass du kurz vorher immer starke Kopfschmerzen hast, dann werfen sie garantiert die Diagnostik an.“
Die Schritte der Krankenschwester entfernten sich, und ich hörte, wie sich eine Tür öffnete. Hinter meinen Lidern war es jetzt nur noch schwarz.
„Warte“, sagte ich und lauschte in die Schwärze.
„Wenn du noch da bist“, sagte ich, „kannst du mir dann vielleicht sagen, worüber du mit den anderen reden wolltest?“
„Was?“ Die Krankenschwester war noch da. „Was meinst du?“
„Wenn die Krankenschwestern mit dir ausgegangen wären“, sagte ich, „worüber hättet ihr geredet?“
„Ich weiß nicht“, sagte die Krankenschwester.
„Hättest du gesagt“, fragte ich, „dass du am liebsten sonntagabends eine Stunde lang duschen würdest, damit du es für den Rest der Woche hinter dir hast? Und dass du, wenn du etwas fühlen willst, einen Film sehen musst, und dass das aber zu gefährlich ist, weil in diesem Film jemand sagen könnte, dass die Liebe die beste Vorbereitung auf den Tod ist?“
„Wahrscheinlich nicht“, sagte die Krankenschwester. „Nein, das hätte ich nicht gesagt.“
„Früher hatte ich eine Freundin, der ich das alles sagen konnte“, sagte ich. „Manchmal haben wir in einem Bett geschlafen, ihre Haut war ganz weich. Als wir elf waren, haben wir im Supermarkt Lakritzstangen geklaut. Wir haben alle Stangen auf einmal gegessen, und danach haben wir gekotzt, und die Kotze war schwarz. Wir mussten so lachen, weißt du? Wir konnten gar nicht mehr aufhören zu lachen.“ Ich öffnete die Augen. „Und was hast du mit elf Jahren gemacht?“
Letzte Änderung: 01.08.2025 | Erstellt am: 31.07.2025
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