Fabian Schridde: ohne Titel („Das Wasser ist noch winterkalt“)
Das Wasser ist noch winterkalt. Als wir hineingehen und auf den modrigen Seeboden treten, steigt die Fäule in dicken Blasen zur Wasseroberfläche auf. Außer uns ist hier nur ein alter, nackter Mann an der Badestelle. Er schöpft mit der Gießkanne Wasser aus dem See und trägt sie durch die Lücke im Zaun hoch über die Wiese ins Gebüsch, in dem wir Cannabispflanzen vermuten. Auch das Strandbad ist leer. Niemand sitzt auf dem Hochsitz des Bademeisters. Auf der gegenüberliegenden Seite, an den Steintreppen, sitzt eine Familie – die Handtücher zum Trocknen über das eiserne Geländer geworfen. Wir schwimmen in die Mitte des Sees. Das Wasser ist so kalt, dass uns ein scharfer Kälteschmerz durch die Köpfe fährt. Beim Auftauchen schauen wir uns an. Die Sonne scheint für einen Moment gleichmäßig über die Wasseroberfläche und in deinem Blick liegt eine unbestimmte Nähe, die ich vermisst habe.
Wir haben uns früh morgens an der Aral-Tankstelle getroffen. Du hattest mir am Abend zuvor geschrieben und gefragt, ob ich Lust hätte, in der Plötze schwimmen zu gehen. Ich saß allein in der Sushi Bar, an einem Tisch nahe beim Ausgang. Als ich das Handy aus der Hosentasche holte, um deine Nachricht zu lesen, fiel mir auf, dass mein Geldbeutel auf dem Boden lag. Ich sagte zu, ohne lange zu überlegen, trank mein Bier aus und ging nach Hause, wo ich Angels von Denis Johnson las und darüber nachdachte, wie es sein würde, dich wiederzusehen. Als ich an der Tankstelle ankomme, sitzt du auf deinem Fahrrad, den Fuß auf einer niedrigen Mauer abgestützt und eine Zigarette in der Hand. Ich bin froh, denn du hast wieder angefangen zu rauchen. Um deinen Hals hast du einen Schal gewickelt und das Handtuch hängt über deine Schulter. Wir fahren nebeneinander die Seestraße entlang, die am Westhafen vorbei aus der Stadt führt.
Irgendwann biegen wir rechts ab, in den Goethepark, in dem der ehemalige Friedhof und dahinter die Plötze liegt. Der Schotterweg führt zwischen den schwarzgrünen Bäumen hindurch. Ihre Blätter leuchten im Sonnenlicht. Unter den Baumkronen liegt ein dunkler, tiefer Brunnenschatten, der mit einem Mal, wenn der Wind in die Äste fährt, verschwindet. Die Grünfläche scheint auf und fällt in ihre eigene Transparenz. Ein helles Plateau, erhoben ins Nichts. Ausgesetzt im Röntgenlicht des Frühjahrs, bevor sich wieder eine dünne Wolke vor die Sonne schiebt und alles in ein fahles Grau taucht. Der Wind geht beständig, verändert das Geschehen und flüstert dabei Wahrheiten in die Luft. Er fasst uns zärtlich in die Haare, schlägt dann plötzlich um und wird unsanft. Ein helles hohes Klavier, das übersteuert. In den Bäumen hängt der Blauregen. Er schaut traurig aus. Das sieht man in den Augen der Kinder, die ihn anschauen und dabei aussehen wie Raucher in einem Krankenhausgarten oder spanische Touristen, die im T-Shirt in der kalten Morgenluft an einer S-Bahn-Haltestelle stehen.
Wir fahren an ihnen vorbei, als wir den Park verlassen und sich vor uns die Plötze auftut. Wir folgen dem Schotterweg weiter oberhalb des Sees. Mir fällt auf, dass wir seit der Tankstelle nicht miteinander gesprochen haben. Zwischen uns liegt eine Stille, die ich erst jetzt bemerke, weil sie nicht ungewöhnlich ist, mir aber doch auffällt, weil sie sonst deine Stille und nicht unsere Stille ist. Deine Stille, die ich ständig versuche mit Worten zu füllen, nur heute nicht. Ich hatte, schon in dem Moment, als ich deine Nachricht las, gedacht, dass du mir nicht schreibst, weil du über etwas reden willst. Sondern weil du herausfinden wolltest, ob ich bereit wäre mit dir zu schweigen. Für dich zu schweigen, wenn wir uns treffen. Und als ich dich an der Tankstelle sah, wie du wortlos deinen Fuß von der Mauer nahmst und losfuhrst, war mir klar, dass es erstmal nichts zu sagen gab. Dass auch ich lieber schweigen würde.
Trotzdem werde ich jetzt, während wir den See umrunden, langsam unruhig. Irgendwann mussten wir schließlich miteinander reden und je länger wir das nicht taten, desto weniger wusste ich noch, was all das hier sollte. Ob wir uns überhaupt noch irgendetwas zu sagen haben. An der FKK-Badestelle steigen wir von unseren Rädern ab und schließen sie an den Zaun. Durch eine Lücke kommen wir runter ans Ufer. Wir hängen unsere Handtücher über einen Ast und fangen an, uns auszuziehen. Das Sonnenlicht wölbt sich über dem Wasser wie die Haut über deinem Wangenknochen. Der Himmel über uns ist durchfurcht, aufgewühlt wie ein Acker aus dem Licht wächst. Die Wolken sind graue Flächen, dazwischen fallen lange Säulen schrägen Sonnenlichts. Ein sanftes Reißen an den Rändern. Der Wind wird wieder stärker. Rund um den See rauschen die Bäume und Sträucher. In der Mitte liegt das Wasser als schwarze glatte Fläche. Eine leblose Ebene. Die Wolken fahren zusammen und reißen auseinander. Dahinter eine milchige Sonne, deren kalter Schein den Dingen ihre Farbe entzieht. Das Grün der Pflanzen wirkt matt, alles wird zu einem allgemeinen Grau, das beständig seine Schattierung wechselt, tief und dann wieder flach wird. Um mich herum eine unverständliche Begräbniswelt, die mich trösten will. Ich schwitze auf der Stirn, im Nacken zieht der Wind und du gehst vor mir ins Wasser.
Nach dem Schwimmen rauchen wir mexikanische Chesterfield Zigaretten. Während wir am Ufer sitzen, fliegen die Graureiher in kurzen Abständen, einer nach dem anderen, von der anderen Seite des Sees in unsere Richtung. In einem ausgedehnten Segelflug senken sie sich langsam herab, schließen ihre Flügel und gleiten knapp oberhalb der Wasseroberfläche. In Ufernähe spannen sie die Flügel wieder auf, landen auf einem der Äste, die ins Wasser ragen, und ruhen dort wie dünne Säulen in der Morgensonne. Wir reden über halluzinierende Chatbots und fragen uns, ob sich vor unseren Augen, im nicht enden wollenden Flug der Graureiher, eine Rückkopplungsschleife etabliert hat, die sich regelmäßig beobachten ließe, wenn wir jeden Morgen herkommen würden. Vor uns treibt eine Ente mit gestrecktem Hals und gradem Kopf, darin die schwarz glänzenden Murmeln. Ein offener Blick in die traurige Landschaft. Schutzlos, präsent und bereit.
Es war ein kalter Mai war gewesen bis hierhin. Wir hocken am Wasser, mit nackten Beinen in der Winterjacke, trinken Kaffee aus Thermoskannen und schauen über den See auf die Stadt von der nur ein paar Häusersilhouetten zu sehen sind, die hellumrandet glänzen. Ich betrachte deine warmen Augenlider, den Silberring an deinem linken Ohr, dein Gesicht in der Sonne, wie es aus der schwarzen Lonsdale Pufferjacke mit dem grauen Karree herausragt. Ich schaue dir dabei zu, wie du von deinen letzten Monaten erzählst, in denen nicht viel passiert ist, die sich so zugetragen haben, wie sich letzte Monate meistens zutragen. Beim Zuhören, wie du laut darüber nachdenkst, womit du so deine Zeit verbringst, frage ich mich, was der Grund für unsere Kontaktpause gewesen ist. Vermutlich werden wir nicht mehr darüber sprechen und während du weiterredest, merke ich, dass es mir im Grunde auch egal ist. Ich erzähle dir von den vergangenen Tagen, in denen ich viel allein war. Ich berichte dir von meiner Orientierungslosigkeit und dass sie mich überrascht hat. Für gewöhnlich genieße ich die erste Zeit, wenn ich in die Stadt zurückkehre. Nehme mir nichts vor, verabrede mich spontan mit Freunden und gehe oft früh schlafen. Jetzt saß ich nächtelang am Nettelbeckplatz und wurde dabei schwermütig. Du kennst diese Abende und sagst, dass sie einem nicht guttun, wobei ich dir zustimme.
Wir reden über Plätze in Berlin, an denen wir gerne sitzen und die weniger schwermütig machen als der Nettelbeckplatz. Du schlägst das Nordufer vor, das aufgrund der großen Baustelle direkt am Ufer gerade abends sehr atmosphärisch wirkt. Weil du vom Nordufer sprichst, komme ich auf die Euro-City, die in den letzten Jahren entlang des Kanals Richtung Hauptbahnhof hochgezogen wurde und die wir beide gerne besuchen. Insbesondere im Hochsommer fühlt es sich so an, als würde man 20 oder 30 Jahren in die Zukunft reisen, in ein Berlin, in dem es zwei Grad wärmer ist und das sich in eine große gated community verwandelt hat. Auf den versiegelten Freiflächen zwischen den Glasbauten hitzt es sich in der Mitte des Tages so stark auf, dass die Stadt wie ausgestorben wirkt. Und die wenigen Menschen, die man im Supermarkt oder der Drogerie trifft, sehen aus wie Angehörige eines transnationalen Expat-Milieus, ortsungebunden, kreativ und wohlhabend, da die hohen Mieten für eine homogene Sozialstruktur sorgen. Unabhängig davon sind wir sind uns einig, dass es im Berliner Süden, jenseits vom Hauptbahnhof, kaum noch Orte gibt, an denen man ungestört sitzen kann. An denen es gar nicht mehr möglich ist diese Art der Schwermut zu empfinden, da dort zu viele Leute sitzen, denen es genauso geht, wie einem selbst. Schwermut, sagst du, bekommt immer etwas Lächerliches, wenn man sie teilt, da sich beim Anblick der anderen die eigene Selbstbezogenheit offenbart, was ein unmittelbares Bedürfnis nach Selbstdistanz erzeugt.
Vielleicht, denke ich jetzt, ist das auch der Grund dafür, dass wir uns ein paar Monate nicht gesehen haben. Unser Gespräch zirkuliert weiter im angenehmen Loop der Graureiher. In der Ferne, hinter den Bäumen, wirkt die Stadt wie der winzige Modellbau aus einem Prospekt. Darüber die Wolken, die wie lockeres Geröll aufgeschüttet am Hang liegen. Der Himmel, eine blaue Wiese weißer Steinblüten.
Letzte Änderung: 01.08.2025 | Erstellt am: 31.07.2025
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