Eine Geschichte über das Finden und Loslassen – In einer belebten Einkaufspassage findet sich etwas Ungewöhnliches: ein verlassenes, schmutziges Leben. Zögernd nimmt es jemand mit nach Hause und beginnt, es zu pflegen, zu wärmen und aufzubauen. Was als zufällige Begegnung beginnt, verwandelt sich in eine tiefe Verbindung.
Ein Leben
Jemand findet ein Leben auf der Straße, dreckig und feucht. Jemand traut sich erst nicht, das Leben anzufassen, so schmutzig liegt es da in der Einkaufspassage. Seltsam, dass es bisher noch niemandem aufgefallen ist. Wurde es achtlos entsorgt? Hat es wer verloren? Jemand überlegt nicht lange und hebt das Leben auf, es liegt sehr leicht in der Hand, gefährlich leicht. Mit so wenig Eigengewicht wird es nicht lange Bestand haben, denkt jemand.
Zurück in der Wohnung legt jemand das Leben auf den Küchentisch. Fremd und glänzend liegt es da. Ein letzter Schimmer geht noch von ihm aus. Jemand befeuchtet einen Lappen und wischt es ab. Das Leben vom Schmutz zu befreien, leuchtet als erste Maßnahme ein. Als das Gröbste entfernt ist, reißt jemand ein paar Blätter Küchenrolle ab und wischt es trocken. Ein Geruch steigt vom Leben auf, der weder angenehm noch unangenehm ist, auch mit Sauberkeit hat es nichts zu tun. Wenn es jemand nicht besser wüsste, dann würde er glauben, das Leben riecht nach Dankbarkeit.
Jemand behält das Leben bei sich. Vom Küchentisch übersiedelt es bald ins Wohnzimmer. Die Nächte verbringt es im Schlafzimmer, bei jemandem im Bett. Er hält es warm. Langsam kriecht Wärme ins Leben zurück. Es hebt und senkt sich, als würde es atmen. Kann sein, dass es schnurrt. Jemand weiß nicht weiter, folgt einfach seiner Intuition. Jemand ist ratlos, aber voller Elan.
Niemand scheint das Leben zu vermissen. Jedenfalls kann jemand nirgendwo entsprechende Plakate oder Wurfzettel entdecken. Selbst in der Passage, dem Fundort des Lebens, gibt es keinerlei Hinweise auf eine Suchaktion. Wer immer im Besitz des Lebens war, scheint es jetzt nicht zu vermissen.
Ein Rhythmus stellt sich ein. Jemand versorgt das Leben mit dem Nötigsten, päppelt es sorgsam auf. Der Prozess darf nicht überhastet werden, andernfalls würde sich das Leben am Wiedererstarken verausgaben. Alles hat in kleinen, gewissenhaften Schritten zu geschehen. Jemand teilt mit dem Leben alles, was er hat; bringt ihm von draußen nicht nur Einkäufe, sondern auch Erzählenswertes mit. Die Geschichten scheinen dem Leben besonders zu schmecken. Manchmal gibt es unartikulierte Laute von sich, die ein Wohlgefallen ausdrücken.
Dem Leben geht es besser und besser. Es hat Farbe bekommen, auch seine klare Form zurückerlangt. Es beteiligt sich am Alltag, sofern dazu die Möglichkeit besteht. Das Leben hat an Gewicht zugelegt, wirkt in jeder Hinsicht gesund. Jemand hat sich gewöhnt an dieses Leben, kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es vorher war. Es scheint, als wären die beiden immer schon für einander gedacht gewesen. Mittlerweile kann sich jemand eingestehen, dass alles hohl und witzlos war, bis er das Leben gefunden und mit nach Hause genommen hat. Jemand hat jetzt eine Ahnung, wie man Glück beschreibt.
Eines Tages ist das Leben verschwunden. Jemand kam gerade von draußen zurück, im Gepäck ein paar Geschenke aus der Welt. Doch anstatt von einem wach pulsierenden Leben empfangen zu werden, gab es nur Leere und Stille. Jemand stellt nüchtern die Einkaufstasche ab und macht sich auf den Schrecken einen Tee. So musste es sein. Sobald das Leben wieder zu Kräften gekommen war, würde es hinaus und dorthin zurückkehren, wo es hingehörte. Jemand freut sich für das Leben. Jemand ist richtig gespannt, wie sein weiterer Weg aussehen könnte. Bleibt nur zu hoffen, dass es sich nicht eines Tages abermals so verdreckt auf der Straße wiederfinden würde. Nicht sicher, dass sich jemand ein weiteres Mal seiner annahm. Da jemandem nichts anderes übrigbleibt, hofft er das Beste. Jemand denkt an die gemeinsam verbrachte Zeit und lächelt. Diese Geschichte – wenigstens diese – würde gut ausgehen. Das Leben hat es verdient.
Letzte Änderung: 20.01.2025 | Erstellt am: 20.01.2025
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