Der letzte Zoowärter (Der Panther)

Der letzte Zoowärter (Der Panther)

In der krisenerschütterten Welt geht es auch der Natur an den Kragen
Der Panther | © CC BY-SA 4.0 - Wikimedia Commens

Die Shortstory erzählt die Geschichte von Paul, dem letzten Zoowärter, der aufgrund von Sparmaßnahmen und Ressourceknappheit den letzten Panther einschläfern muss. Aber am Ende wird in dieser kurzen Erzählung klar: Allegorisch befasst sie sich mit dem Verfall der Werte und Gesellschafft, mit Umweltproblemen und politischen Entwicklungen der letzten Jahre. Die ökologische und wirtschaftliche Krise sowie die Wasserknappheit sind hier der Brennstoff.

Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap. Fwap.

Die Schritte kommen rhythmisch über den trockenen Weg. Gutes Tempo, denkt Paul, aber sicher ist er sich nicht. Er ist noch nie gejoggt. Aber er erinnert sich an Jogger. Früher gab es hier viele, besonders in den frühen Morgenstunden.

Die Frau, die jetzt mit ihren Fwaps an Paul vorbeizieht, scheint die Letzte ihrer Art zu sein. Sie trägt trotz der Hitze ein türkisfarbenes Sport-Outfit mit langen Ärmeln. Ihr blondes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, und Paul kann sehen, wie Schweißperlen von ihrer Atemschutzmaske perlen. Als sie an ihm vorbeiläuft, umhüllt ihn der Duft ihres Deos. Darunter etwas Moschusartiges und Animalisches, das Paul gut kennt. Dann ist sie hinter ihm, und ihr Rhythmus wird leiser.

Paul ist auf dem Weg zum Panthergehege. Der Arzt wird ihn dort treffen. Und obwohl er diesen Moment seit Jahren kommen sieht, ist er nicht darauf vorbereitet, dass er jetzt da ist. Aber auf den Tod ist man nie vorbereitet, denkt er. Er schleicht sich immer leise und langsam an, mit Momenten von Oh, vielleicht ist es doch nicht so ernst, und dann: Es ist schlimmer geworden. Vielleicht ist es besser, wenn es schnell und irgendwie unerwartet kommt.

So war es mit den Fröschen gewesen. Damals, als die Proteste begannen, war Paul auf eine seiner täglichen Inspektionen gegangen und hatte sie eines Morgens alle tot in ihrem Gehege gefunden. Fünf Frösche, flach daliegend, die Gliedmaßen ungelenk abgespreizt. Ihre goldenen Körper leicht nach innen gekrümmt, in einem sinnlosen Versuch, Feuchtigkeit zu bewahren. Ein bizarrer Anblick, und obwohl es ihn damals verstört hatte, erinnert er sich jetzt eher schockiert, denn als traurig an den Moment.

Wie, hatte seine Chefin gefragt und dabei ihre Brille auf dem Nasenrücken zurechtgerückt, kann das passiert sein? Der Verdacht fiel auf Pauls Kollegin Emma, weil sie als Letzte die Luftfeuchtigkeit in den Terrarien überprüft hatte. Was konnte es anderes sein als ein fahrlässiges Versehen? Später (und nach Emmas Nervenzusammenbruch) erfuhren sie von dem Vorfall, der der erste von vielen weiteren sein sollte: Berlin hatte die Wasserversorgung nachts abgestellt – als Vorsichtsmaßnahme gegen eine mögliche Kontamination mit mutierten Algenblüten. Die Öffentlichkeit erfuhr nur bruchstückhaft vom Gesamtbild. Die Behörden verschwiegen die Gründe weitgehend.

Heute schockierte es niemanden mehr, wenn stunden-, oder tagelang kein Wasser verfügbar war. Entweder wegen Algen oder Sparmaßnahmen in den heißesten Monaten. Manchmal wegen Terroranschlägen auf die Leitungen. Proteste und Streiks. Es gab immer irgendeinen Grund.

Der Zoo hatte anfangs ein Reservoir. Paul erinnert sich, dass der Baulärm die Flamingos so sehr stresste, dass einige starben, bevor sie ein neues Zuhause finden konnten. Kollektoren und richtige Filteranlagen. Doch schon bald verlangte die Stadt einen Anteil, um ihn auf Privathaushalte umzuverteilen. Niemand kümmert sich um Flamingos, wenn die eigene Dusche nicht funktioniert. Also mussten zuerst die Wassertiere gehen, dann die Amphibien. Die Flamingos waren bereits in ein neues Zuhause vermittelt worden ‒ in einen Partner-Zoo in San Diego ‒ und hätten laut Vereinbarung nach den Bauarbeiten zurückkehren sollen, doch ihr Gehege stand seitdem leer.

Das bedeutete auch Personalabbau: Emma kündigte von sich aus. Ich habe einen Doktortitel in Herpetologie. Paul hatte sie im obersten Stockwerk des Aquariums weinen sehen, die halb leeren Froschbecken anstarrend. Für mich ist hier nicht mehr viel übrig, ein privater Sammler in San Francisco hat mich gebeten, mich um seine Amphibien zu kümmern. Die Delfintrainer wurden, wenig überraschend, entlassen, zusammen mit dem Großteil des Wassersportteams. Paul hatte diese erste Keulung überlebt, weil die Carnivoren immer noch große Publikumsmagneten waren und sowohl der Zoo als auch die Stadt die Kosten und Ressourcen für ihre Haltung für angemessen hielten. Schließlich brauchen die Menschen Dinge zum Staunen.

Aber natürlich konnte auch das nicht für immer halten. Und deshalb ist er heute hier. Der Panther war eines seiner ersten Jungen: Paul erinnert sich an die dunklen Augen, die jede seiner Bewegungen verfolgten, ständig Neugier gegen Angst abwogen. Als er das erste Mal den Käfig von ihm und seiner Mutter säuberte, hatte sich der Panther hinter einem Eimer versteckt. Zur Fütterung war es wieder der Eimer, aber diesmal konnte Paul sehen, wie sein kleiner Schwanz in die Höhe ragte und sagte: Vielleicht, vielleicht springe ich. Er tat es nicht.

Es dauerte lange, bis der Panther selbstbewusst genug war, um zu necken und zu spielen. Er lebte bereits nicht mehr bei seiner Mutter, ein Jungtier, fast erwachsen, als die Schüchternheit verflog. Er begann, die natürliche Hierarchie der Dinge in Frage zu stellen. In dieser Hinsicht war er wohl ein ganz normaler Teenager. Paul erinnert sich, wie er eines Tages kurz nach Schließung den Besucherbereich vor dem Innengehege putzte und die Blicke des Panthers auf sich spürte.

Jede Bewegung des Besens wurde überwacht. Plötzlich war ihm sein eigenes Atemgeräusch bewusst geworden; es vermischte sich mit dem rhythmischen Klang des Besens auf dem Fliesenboden: Krrrrk, fff, krrrrk, ffff, krrrrk, ffff. Er musste nicht zum Gehege hinsehen, um zu wissen, dass in den Augen des Panthers keine Neugier, sondern stille Konzentration ruhte, dass jeder Muskel in seinem Körper angespannt und reglos war. Krrrrk, krrrrk, ff-ff. Der Rhythmus wurde unruhig, zitternd. Paul spürte, wie sich in der Stille zwischen seinen Atemzügen kleine Härchen auf seinem Arm aufstellten.

Warum kommst du nicht hier rein, fragte der Panther ohne zu blinzeln. Warum sind die Dinge, die ich esse, schon tot? Du weißt, ich könnte … Paul wartete auf einen Sprung. Wartete auf das Geräusch des festen, muskulösen Körpers, der gegen das Eisengitter des Geheges prallte. Doch die Stille hielt an. Als Paul sich umdrehte, um zum Käfig zu blicken, war der Panther bereits in eine andere Ecke des Geheges verschwunden, außer Pauls Blickfeld.

Es ist derselbe Käfig, auf den Paul jetzt zusteuert. Als er eintritt, ist der Besucherbereich leer, bis auf einen Mann im beigen Overall. Der Arzt trägt Latexhandschuhe und hält eine Pistole in der Hand. Hallo, gut dich zu sehen. Paul nickt. Nicht gerade der einfachste Tag heute, oder? Paul schüttelt den Kopf.

Der Arzt wendet sich einem Hartschalenkoffer zu, holt einen rosa Pfeil heraus und lädt ihn mit geübter Präzision in die Pistole. Paul weiß, dass der Arzt die gleiche Prozedur letzte Woche bei den Nashörnern durchgegangen ist. Geübte Bewegungen.

Es ist nicht so, als wären Tage wie diese nicht schon früher Teil der Zooarbeit gewesen. Manchmal wurden Tiere krank oder waren zu aggressiv. Aber das hier fühlte sich anders an. Weil es anders war. Insofern, dass es auf Seiten der Tiere keinen Grund gab. Nur Budgetkürzungen, menschliche wirtschaftliche Entscheidungen. Eine Neuvermittlung war nicht mehr möglich, die meisten anderen Zoos waren bereits geschlossen. Manchmal nahmen private Sammler einige der Tiere mit, aber man musste immer Tierschutzbedenken ignorieren – und selbst dann gab es nur wenige Milliardäre, die sich für exotische Tiere interessierten. So kommt der Doktor ins Spiel. Wusstest du, hatte Pauls’ Chefin gesagt, wie viel Wasser man braucht, um Fleisch für einen Panther zu produzieren?

Paul nickt, und der Doktor zielt mit seiner Waffe. Er nimmt den mitgebrachten Fleischeimer und geht zum Gitter. Der Geruch lockt ihn hervor; langsam kommt der Panther aus seinem Versteck hinter zwei großen Steinblöcken hervor. Mit neugierigen Augen schlendert er auf das Gitter zu. Vorsichtig, aber nicht auf der Hut. Ohren und Schwanz sind aufgestellt, er ist interessiert an dieser Abwechslung – normalerweise wird er hier nicht gefüttert. Was hast du für mich? Vielleicht sogar ein bisschen verspielt, inspiziert der Panther zuerst den Eimer, dann Paul, dann den Doktor.
Fffffffap.

Etwas schneidet durch die Luft, und Paul kann sehen, wie sich die Muskeln des Panthers anspannen. Er presst sich an den Boden, die Ohren schnellen nach hinten, die Augen weiten sich, und er fährt herum, nur um festzustellen, dass hinter ihm nichts ist. Das Tier stößt ein verwirrtes „Mrrr“ aus, bevor es versucht, sich in den hinteren Teil des Käfigs zurückzuziehen, doch seine Beine werden plötzlich unsicher, gehorchen ihm nicht mehr, was den Panther noch panischer werden lässt. Die sonst so stolzen und klugen Augen sind von Verwirrung getrübt. Seine Pfoten kratzen panisch über den Steinboden, ohne das Gleichgewicht oder die Kraft, seinen Körper tatsächlich vorwärtszubewegen. Er versucht sich zu bewegen, dann kämpft er darum, überhaupt zu stehen, und langsam kippt seine große, dunkle Gestalt erst zur einen Seite, dann zur anderen, und schließlich bricht er zusammen.

Paul steht da. Die Stille zieht sich nach dem Echo des panischen Kratzens, Knurrens und Fallens. Es war nicht anmutig gewesen, und das stört ihn am meisten. Wie unfair diesem eleganten Geschöpf gegenüber, in Panik und Verwirrung zu Boden zu gehen und dabei die Kontrolle über seinen eigenen Körper zu verlieren.

Der Arzt räuspert sich. Wissen Sie, ich wollte mal Tierarzt werden, sagt er, um etwas zu sagen. Jetzt mache ich den ganzen Tag sowas. Das Leben ist schon komisch, oder? Paul erleichtert den Arzt nicht mit dem von ihm erhofften lachen. Er dreht sich nur um und nickt. Gemeinsam gehen sie zum hinteren Teil des Käfigs. Nach einem Moment, um das Beruhigungsmittel wirken zu lassen, treten sie ein.

Paul war dem Panther noch nie so nah. Ohne die Gitterstäbe wirkt das Tier viel größer. Und trotzdem: Hilflos liegt es da, und Paul kann sehen, wie sich sein glänzendes schwarzes Fell im Rhythmus seines Atems langsam auf und ab bewegt.

Bitte kneife das Nackenfell, sagt der Arzt und zieht eine Spritze heraus.

Paul kniet sich vor das Tier und legt ihm eine Hand auf den Kopf. Die Lider des Panthers sind halb geschlossen, und obwohl er bewusstlos ist, ist Paul sich sicher, ein schwaches Leuchten darin zu sehen – eine Art Verständnis. Er kann sich vielleicht nicht bewegen, aber er weiß, was passiert.

Ich hätte nicht gedacht, dass es so sein würde, sagen seine Augen. Womit habe ich das verdient? Ich habe nicht einmal die Chance, meinen Mördern stolz gegenüberzutreten?

Es sind Budgetkürzungen, denkt Paul, während seine Hände zittern. Sie hatten einfach kein Geld mehr für dich.

Dann lass mich raus. Lass mich für mich selbst sorgen.
Du wüsstest nicht, wie. Du bist schon zu lange hier.

Bitte nicht loslassen, sagt der Arzt. Das macht es nur noch schwieriger.

Also greift Paul fester zu.

Der Arzt lässt die Nadel der Spritze unter die Haut gleiten. Dann steht er auf, verweilt für einen unsicheren Augenblick, klopft Paul auf den Rücken und geht.

Paul sitzt da und erwartet, dass noch etwas passiert. Aber natürlich passiert nicht viel. Er hat immer noch seine Hände auf dem Kopf des Panthers. Er spürt, wie der Atem flacher wird. Langsam, langsam. Und dann sieht Paul die großen, dunklen, wissenden Augen des Panthers verblassen und glasig werden. Und er weiß, es ist vorbei. Er zieht seine Handschuhe aus und berührt das Fell mit bloßen Händen, spürt die letzte Wärme, bevor sie erlischt.
Der letzte Panther ist tot.

Draußen hallen Schritte wider. Fwap, Fwap, Fwap. Die Joggerin hat ihre Runde beendet und ist auf dem Weg zum Ausgang des Zoos. Paul steht auf, die Beine steif. Das Leben geht weiter.

Letzte Änderung: 11.12.2025  |  Erstellt am: 11.12.2025

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