
Zahra lebt zwischen alten Fotos, vergilbten Spielkarten und dem Dämmerlicht ihrer Frankfurter Wohnung. Während draußen die Seuche wütet, erschafft sie drinnen ein eigenes Universum aus Bildern, Büchern und Erinnerungen. Ihre Beziehung zur Welt ist ein stilles Bündnis gegen die Zeit. Doch was bleibt, wenn selbst das Flüchtige zu schwer wird? Ein stilles Porträt über Freundschaft, Verlust und die fragile Schönheit gelebter Gegenwart.
Mir kam es immer so vor, als ob ihre Tage Kunstwerke gewesen wären. Sorgfältig geplant und groß angelegt scheiterten sie jeden Tag aufs Neue. Wann ein Tag bei Zahra endete und der nächste begann, war allerdings nicht genau zu sagen, denn Zahra schlief nicht, jedenfalls nicht mehr als drei Stunden am Stück. Zahra aß auch nicht. Während der Seuche hatte sie damit weitgehend aufgehört, weil sie ihre Tage lieber anders verbringen wollte, wie sie sagte.
Zahra hatte herausgefunden, dass sie so viel leichter und klarer war und viel mehr Zeit hatte, wenn sie nichts aß, außer den Paranüssen, die ihr Freund und ich ihr kauften, und den verschrumpelten Äpfeln und angefaulten Tomaten, die sie nachts aus den Containern der Supermärkte rettete. Wäre Zahra politisch gewesen, hätte sie sich vielleicht den Frutariern angeschlossen, aber das lag nicht im Dunstkreis ihrer breit gefächerten Interessen. Zahra war zart und blond, sie trug wie die meisten modebewussten jungen Leute jener Zeit die Fetischaccessoires des letzten Jahrhunderts und mit ihren feinen, langen Haaren und den braunen Augen, die immer größer und dunkler wurden, je weniger sie aß und schlief, sah sie aus wie eine etwas nuttige Elfe, die den Weg aus dem Dungeon nicht mehr hinausgefunden hatte.
Ihre Mutter starb während der Seuche und Zahra erbte eine verwinkelte Fünf-Zimmer-Wohnung in Frankfurt Nordend, in die sie mit ihrem Freund zog und wo ich sie kennenlernte. Ursprünglich hatte sie wohl vorgehabt, in Frankfurt weiter zu studieren, aber es stellte sich bald heraus, dass das Projekt Studium nicht mehr in Zahras kunstvoll arrangiertes Leben und ihre zeitaufwendigen Unternehmungen passte. Denn Zahra las, mindestens ein Buch am Tag, und übersetzte, viele Seiten, meistens russische Literatur aus dem neunzehnten Jahrhundert. Außerdem begann sie, ihr Leben aufzuzeichnen. Sie machte Fotos von den Tauben im Hof, vom Himmel und den Passanten auf der Straße, von ihrem Freund, wenn er schlief, und von mir, wenn ich sie besuchte. Zahras Freund hieß Rudolf, aber natürlich nannte ihn niemand so und meistens schlief er, wenn ich kam. Rudi schlief viel, zwölf, vierzehn, fünfzehn Stunden am Tag. Meistens lag er auf dem etwas nachlässig bezogenen Bett mit einer leichten Wolldecke und schlief oder döste auf dem Sofa. Dabei sah er immer so friedlich und fröhlich aus, als wäre dieser Schlaf genau das, was er gerade brauchte, dass es mir äußerst ungehörig vorkam, ihn dabei zu stören und ich versuchte mich leise zu bewegen, wenn er schlief. Zahra hatte da keine Hemmungen. Sie kruschte um ihn herum, machte Musik und bewegte sich überhaupt oft so, als wäre er gar nicht da.
Wenn man Rudi aus Versehen oder mit Absicht weckte, öffnete er meist kurz die Augen, lächelte verschmitzt, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, das ihn erheiterte, und sagte, gleich geht’s los, noch fünf Minuten. Dann schloss er die Augen wieder und schlief weiter. Es war die Zeit der großen Erschöpfung, niemand schien je genug Schlaf zu bekommen und mir kam es manchmal so vor, als ob Rudi all diese Schlaflosigkeit auf sich nehmen würde und auf rätselhafte Weise für uns mitschlief, die wir uns im Bett wälzten und in die Dunkelheit starrten oder den Schlaf vor der Zeit verlassen mussten, weil der Wecker zu früh klingelte. Auf mich jedenfalls hatte seine schlafende Anwesenheit immer eine beruhigende Wirkung. Wie ein Dornröschenzauber dehnte sie sich über die Wohnung aus und machte uns zu Traumwandlern außerhalb der abgemessenen Zeit. Vielleicht hatte die verführerische Benommenheit, die ich bei meinen Besuchen bei Zahra und Rudi spürte, aber auch andere Gründe. Ich rauchte damals schon nicht mehr, zumindest nie tagsüber, außer wenn ich bei ihnen war. Zahra rauchte nicht, aber Rudi hatte immer einen gelben Pueblo Tabak und Papers herumliegen, selten Filter und wenn ich Zahra besuchte, rauchte ich immer einige Zigaretten und versuchte mich Zahras Haltung zum Essen anzupassen. Zahra hasste Konsum, für sie war alles kostbar und als ich einmal eine Mango mitbrachte und mich dran machen wollte, sie zu schälen und zu essen, sah sie zuerst die Frucht und dann mich mit ihren großen, hungrigen Augen an und sagte bedrückt: sie ist so schön und wenn du sie isst, ist sie weg. Sie ist ja nicht wirklich weg, versuchte ich mich zu rechtfertigen, sondern wird eher ein Teil von mir. Ich aß die Mango, aber ich konnte sie nicht wirklich genießen, mit Zahras Augen, die jede Bewegung verfolgten, der Vorwurf in ihnen sanft, aber hartnäckig. Ich vermied es von da an, vor ihr zu essen.
Obwohl ich nie sah, dass Zahra und Rudi sich berührten, war es offenkundig, dass sie ein Liebespaar waren. Wie alte Leute, verbunden durch die Zeit, verband auch sie etwas, das über gemeinsame Interessen oder Leidenschaft hinausging. Die Zimmer ihrer Wohnung waren nicht sehr groß und obwohl die beiden kaum Möbel hatten, füllten sie sich zusehends. Denn Zahra machte nicht nur Fotos von den Dingen und Menschen, die sie umgaben, und heftete sie an die Wände, sie war auch eine eifrige Besucherin der Umsonstläden und Freeboxes, die es damals in Frankfurt und den meisten anderen Städten gab, und sammelte vieles auf, was sie fand, wenn sie draußen unterwegs war. Meistens Bücher, aber auch Kleidung und Stifte und kaputte Regenschirme und Spielkarten und alte Fotos von Leuten, die sie nicht kannte, und Schlüsselanhänger und zerbrochene Ohrringe und Tücher und manchmal auch zerschlagene Tassen oder Teller, wenn die Scherben ihr gefielen.
Zahra zeichnete auch und schrieb; mit zarten, schnellen Bleistiftstrichen dokumentierte sie, was um sie herum geschah. Ich mochte ihre Bilder immer, weil sie etwas Krakeliges, Spinnwebenartiges hatten, das mich berührte, obwohl es sicher im herkömmlichen Sinn keine besonders gekonnten Zeichnungen waren. Sie machte sich auch nicht die Mühe, an ihren Bildern zu arbeiten; ich denke, es waren eher gemalte Stenografien ihres Lebens als ernsthafte Zeichnungen. Manchmal schrieb sie unsere Dialoge noch während wir sprachen unter ihre Zeichnungen und heftete sie zu den Fotos und Zeitungsausschnitten und Spielkarten an die Wände. Als wollte sie ein Archiv unserer Gegenwart anlegen, füllte Zahra damit die Wohnung und vielleicht hegte sie die Hoffnung, dass sich all diese Stücke eines Tages zu etwas zusammenfügen würden, das mehr Sinn machte als die Stunden und Minuten, die an uns vorüberrauschten und mit denen wir so wenig anzufangen wussten. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je irgendetwas Besonderes machten; wir redeten wenig und wir tranken nicht oder kochten. Manchmal setzten wir uns auf den Teppich an der Heizung und blätterten in Zahras Bildbänden von Tizian oder Grünewald oder dösten zu Spirit of Eden von TalkTalk und irgendwann löste ich mich aus unserem Zusammensein und ging nach Hause, ohne groß Tschüss zu sagen. Aber während der Seuche machten wir einmal ein Spiel, bei dem einer etwas auf ein Blatt Papier schreibt und es dann so umknickt, dass der andere es nicht sehen kann, wenn er selbst etwas darunterschreibt und das Papier dann so umknickt, dass der andere es nicht sehen kann, wenn er selbst etwas darunterschreibt… und erst, wenn kein Platz mehr auf dem Blatt ist, wird es aufgefaltet. Ich erinnere mich noch, dass ich mir etwas albern vorkam, weil ich an eine Blüte denken musste, als Zahra, langsam und feierlich, das Blatt wie etwas Kostbares öffnete, aber Zahra ließ solche Bilder in einem entstehen; das war eine der Sachen, die ich an ihr liebte.
Letztens habe ich dieses Blatt in einem alten Notizbuch gefunden und mir an den Spiegel im Badezimmer geheftet. Dabei habe ich mich gefragt, ob Zahra wohl noch lebte und wieder aß und ob ihre Wände in Frankfurt mittlerweile voll sind oder ob sie die Wohnung verkauft hat und mit Rudi woanders hingezogen ist, wo es mehr Platz gibt. Ich habe mir Zahra nie auf dem Land vorstellen können, aber das hat wenig zu sagen. Seither sind viele rausgezogen, bei denen ich mir das nicht habe vorstellen können. Meine Freundschaft mit Zahra endete abrupt. Ich habe es nie ganz verstanden, aber es hatte wohl mit einer Bemerkung zu tun, die ich über ihre Bilder gemacht hatte und die sie schrecklich verletzt hatte. Ich bekam nie wirklich heraus, was eigentlich passiert war und Zahra war zuerst so aufgewühlt und dann so böse, dass sich die Sache nicht klären ließ und sie mir offiziell die Freundschaft kündigte, was ich so albern fand wie entsetzlich und mir drei Wochen lang den Schlaf raubte. Wenn ich in diesen langen Nächten ratlos in meine Dunkelheit blickte, dachte ich oft an Rudi und fragte mich, was er wohl darüber dachte, dass ich nicht mehr zu ihnen kam und ich hoffte, dass er für mich mitschlief.
Dawo Pinocchio sagt
Zahlen leuchten
meine Nase wächst
Turings Maschine bleibt nicht stehen
glaubt mir nichts
im Königreich Corona
war es Rapunzel, die sagte
Dieser Satz ist eine Lüge
als ihr Haar immer länger wurde
vielleicht
wenn ich hundert Jahre schlafe, dann sehen wir uns am Ende alle wieder
in Dawo
Es wundert mich, dass dieser Text bei mir gelandet ist und Zahra ihn nicht behalten wollte, wie alles andere und manchmal denke ich daran, wie schrecklich es für sie gewesen war, darüber zu richten, was in ihrer Wohnung bleiben durfte und was in den großen Umzugskisten verschwinden musste, die Rudi alle paar Wochen aus der Wohnung trug, nachdem Zahra jedes Ding einzeln fotografiert hatte. Ich habe mich damals oft gefragt, was Zahra wohl gemacht hätte, wenn sie wie ihre Maler und Dichter geboren worden wäre, bevor es die digitale Fotografie gab und die Möglichkeit für wenig Geld, riesige Datenmengen zu speichern und manchmal sah ich sie in meinen Träumen am Tag hoch in den Himmel wachsen, wie die kindliche Kaiserin unserer verrückten Welt auf einem Stapel aus Fotos und Zeichnungen und Büchern und anderen abgelegten Dingen, der immer größer wurde und sie immer weiter und weiter von uns entfernte.
Letzte Änderung: 14.04.2025 | Erstellt am: 14.04.2025
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