Anika Landsteiner: Wildes Wasser

Anika Landsteiner: Wildes Wasser

RSP 2025 Longlist

Ich wusste nichts über sie, als sie zum ersten Mal anrief. Die Kontaktaufnahme über die Website war anonym verlaufen. Ava hatte eine helle Stimme, glatt wie Teflon, mit der sie durch unsere Gespräche glitt. Anfangs befürchtete ich, sie sei noch minderjährig, einfach wegen der Stimme, aber sie war Mitte zwanzig, dessen bin ich mir sicher. Also, ziemlich sicher. Ich weiß bis heute nicht, wie sie aussieht, aber während unserer Gespräche malte ich sie mir aus bis in die kleinste Pore, weshalb ich von Ava eine detailliertere Vorstellung habe als von meinen Kindern.

Kennen Sie das, wenn Sie gefragt werden, ob eine Person eine Brille trägt und Sie einfach keinen blassen Schimmer haben? Sie überlegen verdammt angestrengt, aber Sie kommen einfach nicht drauf, nicht mal bei Ihrem Chef, nicht mal bei Ihrer Frau. Ich meine, man schaut sich ja kaum noch richtig an, hat man sich einmal gesehen.

In meiner Vorstellung trug Ava eine Brille. Langes, dunkelblondes Haar, in so einem Knoten im Nacken. Hellgrüne Augen, eine schmale Unter- und eine dick geschwungene Oberlippe. Und eben diese auffällige, schwarze Hornbrille. Ja, Sie haben ganz richtig gehört, eine horny Bibliothekarin, aber glauben Sie mir, als ich entschied, wie schön sie war, fiel es mir schwerer, ihr zuzuhören.

Wussten Sie, dass Ava ‚wildes Wasser’ bedeutet? Gleich im ersten Gespräch hat sie es mir erzählt. Ich stammelte wie ein Pfadfinderjunge, als ich das Lächeln in der Leitung hörte, ich konnte ja kaum glauben, dass das wirklich passierte. Da saß ich in diesem schäbigen Motelzimmer, rauchte eine nach der anderen und lauschte einem Menschen, der so einer Drecksbude mit ihren dünnen orangefarbenen Gardinen nie näherkommen würde als durch die Leitung eines Festnetzanschlusses. Vor lauter Nervosität zwirbelte ich das Telefonkabel um meinen linken Zeigefinger, mit dem rechten hielt ich den Hörer und sagte: „Ava, hallo, es freut mich, dich kennenzulernen. Ava, ach was, ja, ein schöner Name“ und sie antworte nur zwei Worte: „Wildes Wasser.“

Ich sagte, dass ich das Wasser liebte, weil ich in Santa Monica aufgewachsen war – ich hasse den Ozean, aber das mit Santa Monica stimmt leider. Sie lachte, als würde sie meine Lügen schon beim Aussprechen entlarven und ich gluckste vor Euphorie. Das schöne Leben lag nun vor mir, ausgebreitet auf der fleckigen Tagesdecke, für fünfzig fantastische Minuten die Woche. Das kostete mich pro Anruf neunundachtzig Dollar. Ganz schön viel für die 90er, aber sie war es wert, alles war sie wert, diese Göttin –

Bevor ich weitererzähle, möchte ich klarstellen, dass Sie nichts über mich erfahren werden, denn ich falle nicht auf und das aus einem einzigen Grund: Ich falle nicht auf. Ich bin der Mensch, dem seine pubertären Kinder nicht egaler sein könnten, ich bin der, dessen Frau die Entscheidungen für ihn trifft und ich bin der, der sich zwei Monate lang jeden Dienstagnachmittag für eine Stunde aus dem Büro davonstahl, um im versifften Motel gegenüber mit einer schlauen Blondine zu telefonieren. Ich bin nirgendwo anwesend, es sei denn, ich will es sein. Mein Leben ist so öde, dass nicht mal Tumbleweeds darüber hinwegfegen wollen, meine Familie die fünfköpfige Personifizierung von Unzulänglichkeit, mein Beruf ein Bullshitjob, es würde sich rein gar nichts ändern, wenn es ihn morgen nicht mehr gäbe. Verstehen Sie, warum das so bleiben soll? Nein? Ich auch nicht, aber für den großen Wendepunkt bin ich zu müde, ich krieche auf allen Vieren in die Midlifecrisis.

Um diese Misere auszuhalten, habe ich jahrelang gefakte Handtaschen im Valley vertickt. Sie lachen, ja, Klischee, bla bla, mir doch egal. Kofferraum auf, kleine Scheine machen, die schneller groß werden, als Sie bis drei zählen können, und vom Adrenalin zumindest ein bisschen Leben schmecken. Das Verticken habe ich mittlerweile aufgegeben, weil mich das Geld irgendwann nicht mehr interessiert hat. Ich brauchte was Neues, nur für mich, ich lechzte danach wie ein Rottweiler, dem man ein blutiges Steak unter die Nase hält.

Und dann bin ich auf die Website gestoßen.

Ich legte ein Profil an, nannte mich Hank – den Namen können Sie behalten – und wartete. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis mir ein Kontakt vorgeschlagen wurde und was mich aufregte, fand ich gleichzeitig aufregend: dass ich keinen Einfluss auf die Auswahl hatte. Annehmen oder ablehnen, das war alles. Also nahm ich an.

Ava und ich redeten über alles. Meistens redete sie und ich hörte zu, aber das ist ja nicht weniger ein Gespräch. Die Nummer hatte einen Areacode von Los Angeles und auch wenn es sicher nicht ihr privater Anschluss war, beruhigte mich die Vorstellung, dass sie nicht weit weg von meinem miserablen Leben ihr eigenes lebte. Sie studierte Gamedesign und im Nebenfach angewandte Sexualwissenschaften. Das denkt sich doch keiner aus. Als ich sie fragte, worum es in den Studiengängen gehe, erklärte sie, dass sich beim Gamedesign alles um die Entwicklung von Videospielen dreht, zumindest war das der Part, den ich wirklich verstand, meine Kinder hängen schließlich den ganzen Tag an so einer Konsole. Im zweiten Gespräch, und darauf hatte ich mich eine Woche lang gefreut, fragte ich nach ihrem Nebenfach und da fing sie an zu philosophieren und hörte nicht damit auf bis zu unserem letzten Telefonat. Es fielen Begriffe wie „reproduktive Selbstbestimmung“ und dessen „Wahrung und Durchsetzung“ und „wissenschaftliche Analyse von sexuellen Verhältnissen“ und naja, Sie können sich sicher vorstellen, welche Fragen mir da auf den Lippen brannten, aber Ava war ein verdammt kluges Köpfchen, während ich mit Mogelei durchs Leben gekommen bin, wofür es auch Grips benötigt, aber sicher nicht so viel, wie für so einen Studiengang.

Wir redeten auch über Nebensächliches, das durch die Anwesenheit von Ava plötzlich nennenswert erschien. Einmal sagte sie, dass sie am Fenster sitze, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Also schob ich die Vorhänge zur Seite und sah, wie sich über dem Schild des Motels der Himmel pink färbte. Nun müssen Sie wissen, dass die Sonnenuntergänge in L.A. fast jeden Abend scheiß pink sind, es ist also wirklich nichts Besonderes, aber Ava fand Schönes im Alltäglichen. „Wofür in Cali leben, wenn nicht für das Licht?”, fragte sie und ich antwortete nichts, weil der Satz sich anfühlte, als brauchte er kein Gegengewicht. Also beobachteten wir schweigend den Sonnenuntergang und als ich nichts hörte, außer Avas sanfte Atemzüge, da stieg mir eine Träne, ja scheiße, vielleicht auch zwei, in die Augen und ich überlegte, wann ich das letzte Mal geweint hatte. Fürs Weinen bezahlt zumindest noch nie.

Weil Ava so positiv und fröhlich war, stellte ich mir ihr Aufwachsen so vor: Liebevolles Zuhause in gutbürgerlicher Mittelschicht, Republikaner-Eltern, ein jüngerer Bruder mit Aussicht auf ein Sportstipendium, ein Freund mit Gel-Frisur, der ihr unterlegen war und Freundinnen, die so sein wollten wie sie. Ava hatte die Sonne des Lebens auf ihrer Seite und genau deshalb würde ich den Machern der Website die scheiß Füße küssen, wenn sie es denn wollten, denn sie hatten mir einen Engel geschickt, als mich das schwarze Loch mal wieder zu verschlucken drohte.

Hier kommt der entscheidende Unterschied zu all den Idioten da draußen: sie war’s wirklich. Glücklich, meine ich. Da war nichts Aufgesetztes dran und das hatte auch nichts damit zu tun, dass sie ziemlich gut mit der Telefonnummer verdiente. Meine Frau hat in den letzten fünfzehn Jahren unserer Ehe so viele Barbecues geschmissen, dass in meinem Garten ständig Menschen herumstanden, innerlich alle komplett ausgehöhlt, mir aber das gleiche Grinsen entgegenwarfen, dieser aufgesetzten Santa-Monica-Kacke. Während ich ehrlich schlecht gelaunt war, war Ava die einzige Person, die ehrlich gut gelaunt war, und das hat mich schwer beeindruckt.

Irgendwann hatte ich den Mut, sie zu fragen, warum sie so hippie happy schien, ausnahmslos, jeden Dienstag und auch, wenn’s regnete, denn Regen verdirbt den meisten Menschen in L.A. die Laune. Und Ava sagte: „Weißt du, Hank, du musst eine Sache finden, die dich komplett erfüllt. Wirklich, eine reicht. Ich wiederum“, fügte sie hinzu, „würde nichts in meinem Leben verändern wollen. Alles ist perfekt, auch die Dinge, die nicht perfekt sind. Ich liebe mein Leben. Verstehst du?“ Ich nickte und verstand nichts. „Wenn du das verinnerlichst, Hank, dann bist du frei.“ Sie ließ die Freiheit im Motelzimmer schweben, quasi zum Greifen nah, aber dann war der Moment vorbei.

Als ich bereit war, ihr zu gestehen, dass sie mir half, ja, mich vielleicht sogar zu einem besseren Menschen machte, auf einer ganz anderen Ebene, da saß ich zum elften Mal in dem Moloch von einem Motelzimmer – der einzige Raum, in dem ich wirklich sein wollte – und Ava rief nicht an. Ich kontaktierte die Website und mir wurde mitgeteilt, dass Ava gekündigt habe und dass es Ihnen sehr leidtue, dass sie sich nicht persönlich von mir verabschiedet habe, denn das sei eigentlich eine strikte Vereinbarung. Als Wiedergutmachung boten sie mir einen Gutschein im Wert von fünf Dollar für meinen nächsten Kontakt an. Ich legte auf.

Eine Woche nach unserem letzten Gespräch packte ich meine übrige Kohle aus den Verdiensten im Valley in eine Sporttasche und fuhr nach Venice Beach. Ich lief die Promenade entlang, suchte den Bettler, der am wenigsten nach Junkie aussah, und stellte die Tasche vor ihm ab. „Mach dich frei“, sagte ich und ging davon und obwohl wir beide nicht wussten, was ich damit meinte, fühlte ich mich gut dabei. Fast so gut wie bei meinen Gesprächen mit Ava.

Dann setzte ich mich in den Sand, betrachtete die heranrollenden Wellen und vermutete, dass Ava nicht ihr richtiger Name war, sondern, dass sie sich den ausgesucht hatte, der zu ihrer Persönlichkeit am besten passte. Oder am allerwenigsten. „Mach dich frei“, begann ich zu murmeln, sagte es wieder und wieder, eine Endlosschleife, bis sie sich zu einem „Mach mich frei” drehte, ich hatte es gar nicht gemerkt, dieses Flehen ohne Gegenüber, nur ich und diese Kette an… Hoffnung.

An dem Abend blieb ich am Strand, bis sich der Himmel pink färbte.

Letzte Änderung: 01.08.2025  |  Erstellt am: 31.07.2025

divider

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Teilen Sie ihn mit Ihren Freund:innen:

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen